Читать книгу Uwe Johnson - Bernd Neumann - Страница 11

DRITTES KAPITEL
JUGEND UND SCHULBESUCH IN
RECKNITZ UND GÜSTROW.
DER ABITURIENT

Оглавление

_____________

NEUANFANG IN RECKNITZ AN DER REGNITZ

Die Familie des Internierten setzte nach dessen Verhaftung ihr Leben bei den Verwandten in der Recknitzer Schmiede fort. Dieser Krieg war für sie zu Ende. Der »Führer« hatte sich am 30. April erschossen. Am 2. Mai ergab sich seine Hauptstadt den sowjetischen Siegern. Das Dorf Recknitz trennen ziemlich genau zehn Kilometer von Güstrow. Auf einer Anhöhe gelegen, wird es von einer sehr schönen, heute wieder renovierten Kirche beherrscht. Nur wenige Kilometer entfernt findet sich das größere Weitendorf, ein Name, der in der Babendererde wiederkehren wird. Etwa einen halben Kilometer weiter liegen Schloß und Gut Rossewitz, von Recknitz aus gesehen hinter einem Gemeindewald. Hier erblickte der Knabe die bereits zitierten Bilder massenhaften Typhustodes. Uwe Johnson hat sich darüber hinaus (in den Begleitumständen) an diese Zeit und an diese Gegend ausführlich erinnert:

Das Dorf war bedrängt von zivilen Flüchtlingen aus der östlichen Richtung, widerliche, unbequeme Mahnung waren sie an die so geläufig im Gebete bezeugte Tugend der Nächstenliebe, eine Gefahr für den Wohnraum, selbst für die Gute Stube, für die eigenen Vorräte an Mitteln zum Leben (was im Mecklenburgischen, als »läven«, ein Wort ist auch für das Essen). An den Sonntagen dieses Frühsommers ist die Kirche dicht besetzt, hier wollen die einheimischen Bauern den Flüchtlingen ihre Frömmigkeit etwas weniger kostspielig beweisen, so wie diese ihnen vorzuführen gedenken, dass sie immerhin in der Innigkeit des Glaubens gleichgestellte Personen sind. Was aber hat der Pastor, der Ergebung predigt in Gottes unerforschliche Fügung, was für Ratschläge hat dieser verkleidete Mann noch im Januar gegeben? Eine ungehörige Frage, für Kinder. [...] Hört man die Erwachsenen, so ist Manches erhalten von des Wahnsinnigen Verdienst. Die Initialen seines Grusses waren auf jeweils den achten Buchstaben des Alphabets gefallen; Freunde in der Gesinnung verständigten einander nunmehr mit dem Ruf: »Achtundachtzig!« (Begleitumstände, S. 28)

Hieran wird eine Differenz zwischen den Erwachsenen und dem Kind deutlich. Sie muß sich noch dadurch verschärft haben, daß die Verwandten die Niederlage noch immer nicht wahrhaben wollten. Dabei hatten, wie sich Joachim Meier, ein Schulfreund Johnsons aus der Recknitzer Zeit, erinnert, die französischen Zwangsarbeiter des Dorfes beim Einmarsch der Russen die Trikolore gehißt und so eine Schutzzone für die Deutschen geschaffen. Bei dem von Johnson erwähnten Pfarrer, dem »verkleideten Mann«, handelte es sich um den Pastor Kruse. Die Dorfjugend nannte diesen Mann wegen seines deutsch-zackigen Auftretens »Knicks«. Er pflegte nämlich unverdrossen mit dem Zusammenschlagen der Hacken und dem Einknicken des Oberkörpers zu grüßen. Dieser Deutschnationale, ein vormaliges NSDAP-Mitglied, hatte zuvor als Studienrat für Griechisch und Latein amtiert. Er wurde dann mit dem Kriegsende aus dem Schuldienst entfernt. Erhielt, eine Referenz vor seiner klassischen Bildung, die Recknitzer Pfarrstelle zugeschanzt. Mit ihm pflegte Erna Johnson vertraulicheren Umgang. Ihr Sohn mißbilligte dies scharf. Wenn schon noch nicht an eine neue, so glaubte doch Uwe Johnson bereits im Frühsommer 1945 an das Ende der alten Zeit. Er stellte dem Pastor Kruse Fragen nach dem Anteil Gottes an der jüngst eingetretenen Katastrophe. Erna Johnson verwies ihm das streng. Andererseits bot das ungebrochen ehrgeizige soziale Streben der Mutter entschiedene Vorteile für den Sohn, sorgte zumindest dafür, daß Uwes Englisch auch unter den beschränkten Ausbildungsverhältnissen von Recknitz gefördert wurde. Dies muß ihr hoch anrechnen, wer um den nachgerade identitätsbildenden Wert des Englischen für den späteren Autor weiß. Den Sprachunterricht erteilte eine Studienrätin aus dem Ostpreußischen, Frau Luthe aus Tilsit. Eine fein gebildete und nun schon ältere Dame, die Uwe Johnson auch häufig außerhalb der Unterrichtsstunden aufsuchte. Bei Frau Charlotte Luthe – geboren am 7. Dezember 1899, gestorben am 14. Juni 1980 – lernte ein Knabe in Recknitz fürs Leben. So eindrücklich, daß er später mit dieser Dame einen Briefwechsel unterhalten wird, der über die Befindlichkeit des in Rostock frisch Verliebten mehr als jede andere Äußerung Johnsons aussagt. Frau Luthe muß eine begnadete Pädagogin gewesen sein.

Im Dorf erinnert man den Knaben als einen viel lesenden Sonderling, der, in der Frühjahrssonne auf Sandhügeln sitzend, seiner Lektüre nachzugehen pflegte. Es galt ja auch, lesend vieles nachzuholen nach dem »Heimschulen«-Aufenthalt. Lesestoff wiederum fand sich ausreichend in Recknitz. Denn Onkel Milding hatte in seine Schmiede den Buchbestand der Schule übernommen, Mira Jaeger entsinnt sich auch an diesen Vorgang. Demzufolge geschah das, nachdem deren Lehrer Otto Bussicke – auch Johnsons Begleitumstände erinnern das grausige Geschehen – einen spektakulären Selbstmord verübt hatte: Er hatte sich und seine Familie, die Enkelkinder mit eingeschlossen, beim Einzug der sowjetischen Sieger entleibt: ein Goebbels in Mecklenburg. Der Lehrer Otto Bussicke vollzog die Tat vor dem Spiegel sitzend – die Einschußlöcher der Kugeln, das an die Wand verspritzte Menschenhirn, Details, die auch in den Begleitumständen Erwähnung finden. Der Tote, dessen Bibliothek auf diese Weise in die Recknitzer Schmiede kam, war nicht nur überzeugter Nationalsozialist, vielmehr auch Mitglied der »Deutschen Buchgemeinschaft« gewesen.

Uwe Johnson erhielt Unterricht beim Nachfolger Bussickes. Der Schüler schrieb eine ordentliche, leserliche Handschrift und pflegte seine Hausaufgaben nicht nur mit penibler Sorgfalt, sondern zudem sehr schnell zu erledigen. Über die häuslichen Verhältnisse sprach der potentielle Primus nicht. Pflegte auch niemals Mitschüler nach Hause mitzunehmen. Ging in Holzpantoffeln mit kurz geschnittenem Bürstenhaarschnitt durchs Dorf. Entzog sich aller Feldarbeit so konsequent wie nur immer möglich. Ein Intellektueller, ein Kopfarbeiter wuchs hier heran, kein Handarbeiter – wie immer dieser Intellektuelle in seiner späteren Literatur dann auch die kunstvolle Handarbeit eines Heinrich Cresspahl intensiv und mit höchstem Respekt darstellen wird.

Vom Juni 1945 bis zum Juli 1946 besuchte der Knabe die Schule Recknitz im Kreis Güstrow. Durch diese Schule zuallererst erhielt die neue Zeit Zugang zu seinem Kopf, wenngleich man zu Hause in der Recknitzer Schmiede inzwischen den »Führer« von der Wand genommen hatte. In der Schule freilich und den anderen öffentlichen Gebäuden war bereits ebenso überlebensgroß das Bildnis eines anderen aufgehängt. Und die Handschrift dieses anderen bestimmte auch, was es zu lernen galt. Auftrat der Marschall Jossif Wissarionowitsch Stalin, Sieger im »Grossen Vaterländischen Krieg«, auch »Vater aller Völker« geheißen. Die eine politische Ikone löste die andere ab. Ohne Übergangsperiode, in hartem Schnitt. Nicht mehr der aus Braunau sah, »vertrauensvoll und gerissen«, in die Gute Stube hinein, sondern der gütig anzuschauende ehemalige Priesterseminarist aus Georgien, der schnauzbärtige Mann aus dem Gouvernement Tiflis, dessen Biographie die Besatzungsmacht überall auszuteilen begann.

Nun kam er unter ein neues Regime, das mit dem alten den Anspruch auf Allmacht gemeinsam hatte – die Vorzeichen, Fahnen und Bilder waren verschieden, der Anspruch und seine Konsequenzen die gleichen; das hatte dieser kluge, scharf beobachtende Junge schnell heraus. (Wolff in: »Wo ich her bin ...«, S. 157)

Das Kriegsende bedeutete für die Kinder gewiß nicht die »Befreiung«, aber doch immerhin ein »Ende des Bombens«, einen Neuanfang und das »Jahr der letzten Spiele«. Die Normalisierung des Lebens begann und mit ihr eine Systematisierung der Arbeit des Überlebens, mit bald schon wieder geregeltem Schulunterricht und schüchtern keimenden neuen Plänen. Die schlossen erste Anflüge von »Liebe« mit ein.

Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen begannen wieder nach vorn zu leben. Erna Johnson fürchtete die Russen nicht übermäßig. Ihr Selbstvertrauen und ihre Entschlußkraft schienen ungebrochen. Auch ihr Anspruch auf Glück und die stete Hoffnung auf sozialen Aufstieg hatten die Götterdämmerung des »Dritten Reichs« und seines Frauenverbands offenbar wenig beschadet überstanden. Der Knabe spielte derweil noch Plumsack auf einer »rauschhaft grünen Wiese«, Wettspringen vom Dach der Recknitzer Kirchenscheune hinein in Fässer voll Heu, und im Winter ging es mit dem Schlitten die Hänge hinab. Mit dem Peekschlitten, den Onkel Milding kunstreich gefertigt hatte, befuhr man die überschwemmten, gefrorenen Wiesen im Recknitzer Au-Graben, einer Sumpflandschaft, die vom »Zehlendorfer Damm« durchquert wurde, unweit vom »Weitendorfer Tann« gelegen. Diese Landschaft wird – zum Teil – die Landschaft der Babendererde sein. Weiterhin ist die Erinnerung Uwe Johnsons an den Recknitzer Winter von 1945/46 eingegangen in Gesines Heimaterinnerung, die sich, den Blick auf die vom gefrorenen Wasser eingeschlossenen Halme geheftet, im Abschlußband der Jahrestage ein Leben im mecklenburgischen Winter imaginiert. Eine Reminiszenz an Kinderzeiten von nahezu Proustscher Eindringlichkeit. So etwas prägte die Kinder Mecklenburgs für ihr Leben, »und wenn eines einhält für einen Augenblick, sieht es deutlich wie niemals wieder die einzelnen Halme, die in dem gefrorenen Wasser eingeschlossen sind«. (Begleitumstände, S. 31) – Eines der ganz seltenen Erinnerungsbilder im Werk Uwe Johnsons übrigens, in denen sich ein winterliches Mecklenburg reproduziert. Ansonsten pflegte seine Erinnerung dem frühen Sommer den Vortritt zu lassen. Besonders gern dem Mai, wo dieser am heißesten ist.

Auch eine maienhafte Schülerliebe hat sich wohl in Recknitz ereignet. Im Schuljahr 1945/46 trafen sich zwei junge Menschen im Sog des verlorenen Kriegs. Beider Bekanntschaft wird auf der Güstrower Schule begonnen haben, an die Uwe Johnson gewechselt war. Der Schüler begann dort seine Laufbahn als ein – zunächst noch in Recknitz wohnhafter – »Fahrschüler«. Den Erwachsenen galten die zwei, die in Güstrow aufeinandertrafen, in Recknitz über die Felder gingen, als sozial nicht ebenbürtig. Der Knabe hatte immerhin noch bei Verwandten unterzukommen vermocht. Das Mädchen dagegen hatte alles verloren. Also verliebte sich der junge Uwe, jedenfalls nach der bestimmten Ansicht der Mutter Erna, »nach unten«. »Denn«, so schreiben die Begleitumstände, »das Mädchen steht im Ansehen einer Familie, die hat im Schlesischen alles verloren, das Haus ist zerschossen, die Möbel sind verbrannt.« (ebd.) Solch Mädchen gab keinen Umgang ab für den Sohn einer ehemaligen Honoratiorenfrau. So wurde 1946 im Bereich der Kinderliebe eine soziale Ordnung wiederhergestellt, die nur noch im Kopf der unbelehrten Erwachsenen existierte. »Entlang dieser Linie [von Besitz und Nicht-Besitz] ist zu trennen.« (ebd., S. 31 f.) Als die Trennung der beiden Kinder bereits durchgesetzt war, schrieben sie einander noch »Botschaften, verschlüsselt in den Buchstaben des kyrillischen Alphabets (so sicher sind sie, sie hätten etwas zu verbergen)«, (ebd., S. 32) Endlich erschien »die alte Ordnung von neuem eingerichtet; ein jedes Kind weiss nun seinen Platz«. Man hatte den beiden »den Kopf gewaschen«. Nicht einmal der Name dieser frühesten Liebe Uwe Johnsons ist auf uns gekommen; doch spielt sie ihre Rolle im Dritten Buch.

GÜSTROW – STADT ERNST BARLACHS.

DIE WOHNUNG AM ULRICHPLATZ.

EINE MUTTER UND IHRE KINDER IN DER NACHKRIEGSZEIT

Im Spätsommer des Jahres 1946, irgendwann zwischen August und September, zogen die Johnsons nach Güstrow. In den ersten drei Jahren mußte die Familie häufig umziehen, ehe sich ein Domizil für längeres Bleiben fand. Man wohnte zuerst in Güstrows Kinderheim. Dann in der Prahmstraße 30, danach in der Rostocker Chaussee Nr. 20, weiterhin am Spaldingsplatz (das wird 1948 gewesen sein), bevor man schließlich die Wohnung fand, die Uwe Johnsons Zuhause bis ins Jahr 1956 war. Das Haus lag am Ulrichplatz, benannt nach dem Herzog Ulrich, erschien aber an der Feldstraße durchnumeriert. Daher findet sich als Angabe »Feldstr. 19« neben »Ulrichplatz 19«. Wohnraum war knapp im Güstrow des Nachkriegs. So wird Erna Johnson sehr zufrieden gewesen sein, im Winter 1949 mit ihren beiden Kindern die Wohnung im Haus an der Feldstraße beziehen zu können. Die Wohnung war eine Dienstwohnung. Deshalb wurde sie auch, als Mutter und Schwester 1956 »in den Westen eingegangen« waren, umgehend geräumt. Der Sohn versteigerte die verbliebenen Möbel und hat das Ganze nahezu maßstabsgetreu in die Mutmassungen eingehen lassen (Flucht der Frau Abs). Die Wohnung lag nicht allzuweit entfernt vom Bahnhof Güstrow, dem Arbeitsplatz der Mutter. Steht man heute in der Güstrower Feldstraße vor dem unverändert erhaltenen Haus, hat man im obersten Geschoß zur Linken die Wohnung der Johnsons während sieben entscheidender Güstrower Jahre vor sich. Zwei Zimmer mit Wohnküche. Die Verhältnisse waren begrenzt. Selbst die Fenster dieser Wohnung fielen kleiner aus als die ihres Pendants auf der rechten Seite. Das Haus besitzt einen kleinen Vorgarten, mit Büschen darin und von einer Hecke umgeben, in der wohl schon zu Uwe Johnsons Zeiten ein ganz und gar umwachsener Briefkasten stand. Eine enge Holztreppe führt in die Wohnung des obersten Geschosses. Wer über diese »enge knackende Treppe« (Babendererde) die Wohnung verließ, gelangte hinaus auf die Feldstraße und auf den Ulrichplatz, der ein Dreieck bildet. Gegenüber befindet sich eine öffentliche Telefonzelle.

Hier war der Schüler, der als Jürgen Petersen in der Babendererde auftritt, noch einmal zu Hause wie später wohl nirgends mehr. Johnsons Schulfreund Heinz Lehmbäcker, er war einige Male bei Johnsons zu Besuch, erinnert die peinliche Ordnung in dieser Wohnung. Die Räume machten notgedrungen einen eher ärmlichen, dabei stets korrekten Eindruck. Die kleinbürgerliche Enge und spießige Signatur dieses Zuhauses hat der Heranwachsende irritierend gespürt. In der Babendererde reflektiert Jürgen Petersen: »Petersens gute Stube: dachte er mit längst abgenutztem Hohn. Vor seinen Augen stand noch das grüne Sofa, das war Plüsch in unangenehmen Formen.« (S. 45 f.) Für Erna Johnson muß sich der Wechsel aus dem Anklamer Einfamilienhaus in die Reichsbahnwohnung als ein erheblicher sozialer Abstieg ausgenommen haben. Ihre Unzufriedenheit wuchs mit der Herausbildung der neuen »sozialistischen Ordnung«, um so mehr als umgekehrt ihr Sohn diese neue Ordnung schon bald zu unterstützen begann. Beide Kinder gingen in nicht allzu weit entfernte Schulen. Die Schwester Elke in die nur wenige Straßen, ca. zehn Minuten Fußweg entfernte heutige Wossidlo-Schule. Uwe zunächst in die gleiche Anstalt, von September 1946 bis Juli 1948 dann in die Zentralschule in Güstrow, jene Hafenschule an der Hafenstraße, am Rostock-Bützow-Güstrow-Kanal, südlich des Stadtgrabens gelegen. Die Wossidlo-Schule und Hafenschule wurden als Komplex 1930 erbaut. – In den Jahrestagen wird daraus, mit poetologischer Folgerichtigkeit, Gesines »Brückenschule« in Gneez.

Johnsons letzte Adresse in Güstrow, nach der Übersiedlung von Mutter und Schwester in den Westen, lautete »Lange Stege« (auch: »Langestege«) Nr. 23. Sie liegt auf der anderen Seite der Nebel und am Rande der Stadt, unweit der Bahnlinie und gegenüber einem mecklenburgischen Walmdachhaus, das zum Vorbild für das inzwischen allseits bekannte Cresspahl-Haus geworden ist. In »Lange Stege« blieb Johnson gemeldet, bis er nach Westberlin übersiedelte, mithin auch während des gesamten Studiums. Auch diese letzte Wohnung muß ihm durch Vermittlung der Reichsbahn-Gewerkschaft zugekommen sein.

Uwe Johnson war auf diese Weise in einer Stadt angekommen, die ihn prägen sollte wie keine andere, Berlin und selbst New York eingeschlossen. In Güstrow: Stadt Ernst Barlachs, würde Uwe Johnson im eigentlichen Sinn heranwachsen, sein Abitur ablegen und dann für immer zu Hause sein wollen. Heute sehen wir in ihm den anderen großen Künstler-Sohn dieser Stadt neben Barlach. Die Stadt Güstrow liegt auf einer abgeflachten Sandfläche zwischen Nebel und Inselsee. Ihr Name leitet sich aus »Guztrowe« her, was slawisch für »Krähennest« steht. – »Gneez« in den Jahrestagen, das auf russisch »Nest« zurückgehen soll, erweist sich somit auch etymologisch als ein Güstrower Pendant. Die Stadt besitzt ein klassizistisches Rathaus aus der Mitte des 18. Jahrhunderts und ein seit 1961 restauriertes Renaissanceschloß. Ihre eigentliche Geschichte beginnt im 13. Jahrhundert. Fürst Heinrich Borwin II. ließ an ihrem Platz, auf damals noch wendischem Gebiet, eine landesherrliche Burg errichten. Denn dort verliefen die Handelsstraßen zwischen Rostock und Brandenburg, zwischen Lübeck und Pommern. Im Jahr 1228 erhielt Güstrow seine Stadtprivilegien ausgefertigt. Bereits im 13. Jahrhundert entstand die noch heute erhaltene, vom Schüler Johnson erlebte städtebauliche Struktur der Stadt mit ihren rundum laufenden Befestigungs- und vier Toranlagen. Insonderheit die alte Stadtmauer, ihre Reste verlaufen direkt neben der Brinckman-Schule, wird später wiederkehren in Ingrid Babendererde.

1503 zerstörte eine Feuersbrunst die Stadt. Sie wurde danach wieder aufgebaut und diente bis 1695 als Residenz mecklenburgischer Herzöge. Wallenstein residierte 1628/29 in Güstrow. An sein Hofgericht erinnert eine Tafel unweit von Dom und Brinckman-Gymnasium. Der 1226 begonnene Backstein-Dom stellt seinerseits den Mittelpunkt und das Wahrzeichen der Stadt dar. Ein Muster norddeutscher Backsteingotik, wurde er von Heinrich Borwin II. als Kollegialskirche gestiftet und zwischen 1226 und 1500 als dreischiffige, kreuzförmige Pfeilerbasilika errichtet. Im Jahr 1660 waren 2435 Einwohner registriert. 1802 dann werden es 6542 Einwohner in insgesamt 778 Häusern sein. 1806 wurde Güstrow von Napoleons Truppen auf ihrem Zug nach Rußland besetzt und geriet danach in den »Befreiungskriegen« zum Zentrum der deutsch-patriotischen Erhebung. In Güstrow versammelten sich die Freiwilligen Jäger Mecklenburgs, um gegen den welschen Feind ins Feld zu ziehen.

Von 1849 bis 1870 lebte der niederdeutsche Dichter und Lehrer John Brinckman in der Stadt. Das zentrale, traditionsreiche Gymnasium wird später auf seinen Namen getauft. Als er stirbt, hat die Stadt bereits 11 000 Einwohner. Und später in den dreißiger Jahren dann wohnte und arbeitete der Bildhauer und Schriftsteller Ernst Barlach am Inselsee in der Nähe der Stadt. Er vereinsamte zunehmend im Güstrow des »Dritten Reiches«, bis er 1938, fast völlig isoliert, starb und in Ratzeburg begraben zu sein wünschte. In den Jahrestagen hat Uwe Johnson dieses deutschen Künstlerschicksals gedacht:

Am 27. Oktober starb Ernst Barlach, Bildhauer, Zeichner, Dramatiker. Weil er für einen Juden gehalten wurde, war er in Güstrow auf der Straße angespuckt worden. Den hatten sie mit Verboten von Arbeit und Ausstellungen gehetzt, bis er sich hinlegte und starb. Die Lübecker hatten einen Alfred Rosenberg zu ihrem Ehrenbürger gemacht, aber die Figuren Barlachs hatten sie nicht an ihre Katharinenkirche getan. Der Lübecker General-Anzeiger hatte zu seinem Tode nicht von sich aus etwas drucken mögen, sondern lieber aus dem Berliner Tageblatt abgeschrieben, er sei ein Problem geblieben für ein Geschlecht, das andere Wege gegangen sei. (Jahrestage, S. 712)

Das Güstrow, in das die Johnsons 1946 kamen, gehörte später als Kreisstadt zum Bezirk Schwerin, konzentrierte Schulen und Ausbildungsstätten in sich. Industriestadt war der Ort nie gewesen. Dafür hatte die Stadt in den zwanziger und dreißiger Jahren den Ruf eines »mecklenburgischen Paris« genossen. Seit 1955 existierte ein Stadtmuseum, 1978 dann wird das Atelierhaus Barlachs am Fuß des Heidbergs, unweit des Inselsees, der Öffentlichkeit übergeben. Zwischen 1972 und 1978 werden der Marktplatz umgestaltet, Fußgängerzonen errichtet und die Innenstadt wird mit Blick auf die 750-Jahr-Feier renoviert. 1981 schließlich erhielt Güstrow vielbeachteten Besuch: Erich Honecker und Helmut Schmidt statteten der Stadt gemeinsam eine Visite ab.

Im Dom der Stadt hängt seit 1952 Der Schwebende, Barlachs berühmter Engel mit dem Käthe-Kollwitz-Gesicht. Die Nazis hatten die Plastik als »entartet« verworfen und zu Rüstungszwecken eingeschmolzen. Die spätgotische Gertraudenkapelle fungierte dann als Barlach-Gedenkstätte, aber das auch erst als eine Art von Wiedergutmachung: nachdem nämlich die SED noch 1951 Barlachs Werk als »formalistisch« verdammt und seine Berliner Ausstellung geschlossen hatte. Das wechselvolle Geschick von Barlachs Nachruhm spielte sich am Beginn der fünfziger Jahre im Klassenraum und vor der Haustür Uwe Johnsons ab. So versetzte der letzte Wunsch des Erich Johnson: sein Sohn solle einmal die berühmte Brinckman-Schule in Güstrow besuchen, diesen mitten in die Kunstauseinandersetzung der frühen fünfziger Jahre. Davon wird anläßlich von Uwe Johnsons Abitur noch ausführlicher zu handeln sein.

Im Güstrow des Jahres 1946 mußte die Mutter versuchen, sich neu zu etablieren, ihre beiden Kinder durchzubringen. Das hat die Bauerntochter ohne besondere Berufsausbildung mit dem ihr eigenen, auch bewunderungswürdigen Einsatz getan. Im ersten »Leipziger« Lebenslauf von wahrscheinlich 1952, der Studienakte beigefügt und fast als Selbstdarstellung Erna Johnsons zu lesen, steht über ihre Berufskarriere in Güstrow geschrieben:

Meine Mutter, ursprünglich ohne erlernten Beruf, ist heute Zugschaffnerin am Bahnhof Güstrow. [...] Meine Mutter sah sich vor die Aufgabe gestellt, unserer Familie eine neue Existenzgrundlage zu schaffen. Nach einem mit Erfolg beendeten Lehrgang als Kindergärtnerin war sie zeitweilig Praktikantin am Landeskinderheim Güstrow und darauf Näherin bei der »Volkssolidarität« der Roten Armee und den Güstrower Kleiderwerken VEB.

Erst einige Zeit nach der Umsiedlung also ging Erna Johnson zur Reichsbahn, vermutlich um der etwas besseren Bezahlung und vor allem um der Dienstwohnung willen. Sie baute unter schwierigsten Verhältnissen eine neue Existenz auf. Brachte erhebliche persönliche Opfer für das Fortkommen ihrer Kinder. Wechselte 1952 sogar vom Dienst als Personenzugschaffnerin zu dem einer Güterzugschaffnerin, um Uwes Stipendium zu erhöhen und ihm seine weitere Laufbahn als die eines »Arbeiterkindes« zu ebnen. Mithin ein Berufswechsel, in dem sich auch die sozialdarwinistische Sichtweise der DDR-Behörden spiegelt. Aus Uwe Johnsons Leipziger studentischer Personalakte vom Herbst 1956 kann man lernen, daß die sozialistischen Verwalter das ihnen übergebene Volk in zehn Kategorien einteilten. Die staatliche Zuwendungsskala schaute aus wie folgt: 1. Arbeiter 2. Landarbeiter 3. Werktätiger, Bauer 4. Schaffende Intelligenz 5. Angestellte 6. Selbständige Handwerker 7. Selbständiges Gewerbe 8. Freie Berufe 9. Großbauern 10. Sonstige.

Uwe Johnson stufte sich, Ironie oder nicht, unter »Sonstige« ein. Den Vater führte er unter Kategorie fünf auf. Die Mutter aber wechselte von der Kategorie fünf in die Kategorie eins. Am 20. Januar 1955 verfügte Erna Johnson über ein Monatsgehalt von 263 Mark. Ausgezahlt wurde es ihr vom Bahnbetriebswerk Güstrow. Der Wechsel der Klassenzugehörigkeit, dessen psychologische Probleme Jonas Blach in den Mutmassungen erörtern wird, als er mit dem Gedanken spielt, als Rangierer vor der politischen Verfolgung wegzutauchen, brachte ihrem Sohn eine Erhöhung des Stipendiums von 130 auf 180 Mark ein. Und ebnete ihm (und prospektive auch seiner Schwester) die weitere Studienlaufbahn.

Doch gerade der zum »Arbeiterkind« avancierte Uwe Johnson sollte sich seiner Mutter zunehmend entfremden. Schon um das Jahr 1948 herum erwähnt der Schulfreund Lehmbäcker Erna Johnson als eine intelligente, aber zunehmend verstörte Frau, die sich deutlich verunsichert fühlte in der Gegenwart ihres opponierenden Sohnes. Ingrid Babendererde im gleichnamigen Buch denkt an Frau Petersen wie folgt:

In Petersens Guter Stube, und seine Mutter ging redend von einem Zimmer ins andere, ohne Aufenthalt redend nach ihrer schrecklichen Weise. (Babendererde, S. 56)

Die Entfremdung hatte neben ideologisch-politischen Gründen vor allem private. Erna Johnson hatte ihrem Sohn das Flüchtlingsmädchen verboten. Sie selbst jedoch hatte wohl im Jahr 1948 eine Affäre mit einem zudem noch verheirateten, kinderreichen Mann gehabt. Der Sohn hat das als schrecklichen »Verrat« am verschwundenen Vater aufgefaßt. In den Jahrestagen, vierter Band, kann man lesen:

Ein beeinträchtigtes Kind. Wichtiger noch als Möbel bei all den Umzügen war eine gerahmte Fotografie des Vaters, ein vergrößertes Führerscheinbild; die Nietösen deutlich sichtbar. Frau Lockenvitz war aber erst fünfunddreißig Jahre alt, als ihr Mann zum Letzten Mal »gesehen wurde«; sie nahm aus seinem Nachlaß nur den Auftrag, den Jungen bis vor die Tür einer Universität zu bringen. (Der Vater hatte Agrarbiologie studiert.) Deswegen war nach dem Fasching 1949 im Schaufenster der Drogerie Mallenbrandt ein erzählendes Foto zu sehen von der Festlichkeit: eine junge Frau, die Brüste zusammengequetscht im Décolleté. Ein Kind, das sich schämt. Ein Sechzehnjähriger, der von seiner Mutter geschlagen wird, weil er nach nächtlichem Herrenbesuch das Bild des Vaters von der Wand nimmt und versteckt; weil sie sich schämt vor dem Kind. Lockenvitz hatte, in einer Zeit knapp an Elektrozubehör, über einem Fenster der Wohnung eine Klingel aufgehängt von jenem Schlitten, der im Osten verblieben war, sie erreichbar gemacht mit eingepichtem Sacksband, so war er aus auf Besuch; nun schraubte er sie ab: überhörte Klopfen an der Tür. (Jahrestage, S. 1724)

Sie hatten es beide nicht leicht. Der strenge Sohn nicht, und nicht die noch lebenslustige Mutter. Ein benachteiligtes Kind und eine benachteiligte Mutter zu Ende der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts in Güstrow, das da gerade von der einen in die andere Diktatur überging. Eigentlich waren sie bereits voneinander getrennt: Deshalb zieht sich, wie im Erstling geschrieben steht, auch ein »Riß« durch das Namensschild der Petersens.

POLITISCHE NEUORIENTIERUNG UND STALINKULT.

SZENEN AUS DER »NEUEN SCHULE«

Der geschilderte private Dissens beförderte seinerseits die politische Umorientierung des seit 1949 »freien deutschen Jungen« Uwe Johnson. Immer konsequenter wird der Schüler Johnson zum politischen Kritiker der Erwachsenen. Die neue Ordnung schien ihm anfangs gerechtfertigt durch die kriegsverbrecherische Barbarei des »Dritten Reichs«, die zu erkennen die »Neue Schule« ihre Schüler so rigide wie unabweisbar lehrte. Daß der Jüngling glaubte, diese Erkenntnis zu Hause in der Feldstraße durchsetzen zu müssen, brachte Züge juveniler Selbstgerechtigkeit ins Spiel. Uwe Johnson mag Ausgang der vierziger Jahre ganz als das Produkt eines Schulunterrichts agiert haben, der den Nationalsozialismus durchgehend als die Sache »der anderen« behandelte. Die Mutter wird dabei zu diesen »anderen« gezählt haben. Dies legen die Begleitumstände nahe, die unter Hinweis auf Stalin durchaus selbstkritisch festhalten:

Mit der schauerlich unbeugsamen Moral des Jugendlichen, der Schuld für sich als künftige Erfahrung ausschliesst, war dieser Jossif Wissarionowitsch angenommen als der Sieger. (Begleitumstände, S. 41)

Daß die »Neue Schule« ihrerseits Personenkult betrieb, lag im Bewußtsein des Schülers als ein »Stück Natur in der Einrichtung der menschlichen Gesellschaften« beschlossen. Vollends in den Mittelpunkt des Schulunterrichts rückte Stalin, seit Johnson im September 1948 auf die John-Brinckman-Oberschule gewechselt war. Diese Anstalt würde die Babendererde prägen und darüber hinaus auch den Abschlußband der Jahrestage. Hier hatte die »Neue Schule« sich durchgesetzt und erhebliche personelle Konsequenzen gezeitigt. Der hochverehrte alte Englischlehrer Wilhelm Müller, er hatte sein Englisch noch in Oxford erlernt (und wird als Kliefoth in den Jahrestagen wieder auftauchen: Kliefoth-Kleiefuß-der mit dem weißen Fuß, also Müller). Wilhelm Müller war damals schon als Direktor der Schule abgesetzt. Wartete – wie dann Sedenbohm in der Babendererde – resigniert auf seine Pensionierung. Darüber steht im zweiten Band der Jahrestage zu lesen:

Nach dem Krieg amtierte Dr. Kliefoth als Direktor der Gneezer Oberschule und hatte für Englischstunden nicht Zeit. An seiner Stelle unterrichtete Frau Dr. Weidling, bis die sowjetische Spionageabwehr herausgefunden hatte, daß ihr Mann nicht Hauptmann bei den Panzern, sondern bei der Abwehr gewesen war und sie ihre Beherrschung der Sprache den Auslandsreisen verdankte, auf die Weidling sie mitgenommen hatte. Da war Kliefoth längst abgesetzt, auch als Lehrer. Englisch wurde dann bis zum Abitur gegeben von einem Junglehrer, der den Vornamen Hansgerhard trug. Er war nicht in England gewesen und erklärte der schweigenden Klasse, daß seine Professoren auf der Universität Greifswald ihm gelegentliche Abweichungen in der Aussprache freigestellt hätten, wenn er die britischen Schallplatten nicht habe nachmachen können. Seine Begründung sei gewesen: er höre das anders. Es war seine erste Lehrerstelle, und es war sein erster Fehler. Danach wies er auf seine Jugend hin und bat die Schüler, sie trotz ihres Rechts auf den Nachnamen mit dem Vornamen anreden zu dürfen; er erwähnte den Neuen Geist der Neuen Schule. Lise Wollenberg meldete sich. – Aber gern, Hansgerhard: sagte sie. Heinz Wollenberg galt noch als Stütze der Gesellschaft, und Lise bekam von dem jungen Mann die Entschuldigung für seinen Wutausbruch. Nach diesem dritten Fehler nannte er nicht mehr alle beim Vornamen. Bei ihm wurde nicht »Der goldene Käfer« von Edgar Allan Poe gelesen. Er nahm durch »Ist der Krieg unvermeidlich?« von Jossif Stalin. (Jahrestage, S. 777 f.)

Der Generalissimus Jossif Stalin betrat auf diese Weise also sogar noch den Englischunterricht. »Zwei Bilder« hat Johnson das entsprechende Kapitel der Begleitumstände überschrieben. Das offizielle Stalin-Porträt erscheint im Buch abgedruckt, eine Ehre, die Adolf Hitler nicht widerfahren konnte. Die seitenlange, von erbittertem Sarkasmus getragene Beschreibung verrät, wie eindrücklich dieses Bild auf Johnson gewirkt haben muß:

In der Stadt, vom Hörensagen im Dorf bekannt, erschien das zweite Bild. Der werte Name war Stalin, J., Josef. Jossif Wissarionowitsch. Im Bilde wurde er meist gezeigt nach der Manier seines Portraits auf dem Frontispiz seines Standardwerkes »Über den Grossen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion«, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1946: ein fülliger Mann mit frappierend glatter Uniformbrust, an einen Harnisch gemahnend, mit wenig Hals im verzierten Kragen und einem straffen Gesicht (keinerlei Pockennarben), das merkbar wurde durch die behagliche Behaarung über Stirn und Schläfen, über den Augenbrauen und unterhalb der Nase. Der Mann, dargestellt in der Verfassung eines fünfzigsten Lebensjahres, tatsächlich den Siebzig nah, liess sich sehen im Halbprofil, den starr glänzenden Blick abwendend auf etwas Erheblicheres als den Betrachter, mit auffällig senkrecht hängenden Armen, als sei er schon längere Zeit unbeweglich und werde so verbleiben, einem Denkmale zu Lebzeiten gleich. [...] Spätestens im Jahre 1950 hatte man sich befriedigend auszukennen in seiner »Kurzen Lebensbeschreibung« von immerhin 158 Seiten, von seinem Geburtstag am 21. Dezember 1879 neueren Stils, dem Abonnementsanlass für die letzte Schulversammlung vor den Weihnachtsferien, bis zu den Schlussfolgerungen, Garantien für edle Noten im Jahreszeugnis. (Begleitumstände, S. 35)

Soweit die politische Panegyrik, mit der sich Stalin in seinen neu errichteten Satrapenstaaten und also auch in der DDR und in Güstrow feiern ließ. Ein Jugendlicher konnte, ja mußte vielleicht dadurch erneut verführt werden. Mit gütigem und unbewegtem Blick schaute der Woschd in die kommenden Jahre des Schülers Uwe Johnson alias Lockenvitz alias Jürgen Petersen hinein – auf ewiges Bleiben eingerichtet. Die Regeln für die Kunstbetrachtung, die dann Professor Shdanow im Namen des Georgiers verkündete (und die Professor Lukács in der DDR populär machen sollte), würden sich als umstandslos austauschbar mit denen erweisen, die man Uwe Johnson noch im Kunst- und Werkunterricht der Kostener »Heimschule« beigebracht hatte. Die neuen Zeiten erwiesen sich irgendwo ganz als die alten. »Pius« Siebmann in der Babendererde wird immer dann zu seiner wahren Lebendigkeit gelangen, wenn er aus den Zeiten der Hitlerjugend erzählt. Auch Uwe Johnsons Abituraufsatz wird diesen Sachverhalt unfreiwillig demonstrieren.

DIE JOHN-BRINCKMAN-SCHULE IN GÜSTROW

Uwe Johnson als Schüler der »Neuen Schule«, der durchaus willig erschien, Neues zu lernen: Alles spricht dafür. Erst einmal mußte er sich 1949, also bereits auf der Brinckman-Oberschule – die, wie erinnerlich, noch der Vater für ihn gewünscht hatte –, öffentlich von der »faschistischen« Vergangenheit eben dieses Vaters lossagen. Auch dies gehörte zum Stil der neuen Zeit. Uwe Johnson hat dieses Faktum in seinem – bis dato unveröffentlichten – »Merkbuch« festgehalten. Das war nicht ausschließlich eine erzwungene Handlung. Der Oberschüler wird den versprochenen Neuanfang zunächst durchaus gewollt und das Wiedergutmachen der Fehler der Eltern, die endliche Korrektur der Fehlläufe deutscher Geschichte mit jugendlicher Unbedingtheit angestrebt haben. Nahezu manichäische Vorstellungen vom Anbruch einer gänzlich neuen Zeit repräsentierten eine verbreitete Hoffnung in jenen Tagen. Und Uwe Johnson erschien zudem für diese Form von politischem Messianismus empfänglich gemacht durch seine Erziehung auf einer der »Heimschulen« Adolf Hitlers. Wie immer die beiden Totalitarismen unterschiedliche Inhalte haben mochten: Sie setzten doch auf weitgehend identische Formen von Indoktrination und Knabenabrichtung.

Ohnehin steht der Oberschüler Johnson zu dieser Zeit, Ausgang der vierziger Jahre, als ein eifriger Schüler vor uns: ein Primus-Typ. Axel Walter, später Superintendent an Güstrows Dom, seit 1948 Uwe Johnsons Schulkamerad in den ersten Klassen der Brinckman-Oberschule, erinnert ihn als einen, dessen Leistungen im Englischen, Deutschen und Lateinischen bereits damals auffallend gut gewesen waren. In Gesprächen mit Walter tritt der Schüler Johnson wie der Schüler Lockenvitz im vierten Band der Jahrestage auf als einer, der aus großem Wissen heraus die Lehrer gern ironisch kritisierte. Dieser Schüler erschien durchaus ambivalent in seinem Wunsch nach Anerkennung einerseits und seiner Profilierung als Oppositioneller andererseits. Dies galt vor allem für den Englischunterricht bei »Hg. Knick«, daneben für den Deutschunterricht bei der »Junglehrerin« Liselott Prey, die an der Oberschule in Güstrow genannt wurde, wie später die Deutschlehrerin in Johnsons erstem literarischen Werk von ihren Schülern geheißen wird: »Das Blonde Gift«. Ein Einzelgänger und Schweiger, wirkte Johnson leicht »erhaben über seine Schulkameraden«. Er war aber deutlich bemüht, diese das nicht merken zu lassen. Entsprechend vielfältig waren seine Aktivitäten mit dem Ziel, dieser Schülergemeinschaft mit anzugehören.

Der schlaksige Schüler, er wird dann dem Klaus Niebuhr in der Babendererde den Berufswunsch eines Dramaturgen zuschreiben, spielte in einer Tschechow-Aufführung der Klasse neben Heinz Lehmbäcker, Fritz Möllendorf und Hans-Joachim Petersen mit. Lehmbäcker erinnert, daß Uwe Johnson selbst Pläne hatte, an Brechts Berliner Theater als Dramaturg zu beginnen. Einen leidenschaftlichen Teilnehmer stellte Uwe Johnson, neben dem nachmittäglichen Baden im Sumpf-See, auch im Rahmen der eher jugendbewegten Freizeit-Aktivitäten dar. Dabei ging es ums Wandern und Zelten an einem der zahlreichen Seen. Daß man überwiegend mit dem Rad unterwegs war, erhöhte den Radius dieser Ausflüge. Sommersprossig und mit kurz geschnittenem, zum Teil widerspenstig abstehendem Haar – noch immer: ein »Lockenvitz« – fuhr Johnson überhaupt viel Rad, schwamm gern und sehr gut, setzte seine »Rekorde« beim Austragen von Eilpaketen der Deutschen Post. Und zeigte, wie Axel Walter sich entsinnt, vitales Interesse an einem Materialismus-versus-Idealismus-Streit, in dem er vehement die Position der Materialisten verfocht. Alles in allem Interessen, die sich in den Klausuren des Leipziger Studenten, der Otway-Klausur zumal, wiederfinden werden. Da freilich treten sie bereits systematisiert und auf wissenschaftlichem Niveau auf. Zu rühmen war der Gerechtigkeitssinn dieses Schülers. Er sah auf Fairneß in der Diskussion und schlug sich in aller Regel auf die Seite der Schwächeren, selbst wenn er deren Ansichten nicht teilte. Der Oberschüler Johnson gab sich, so die Aussage dieses Kirchenmannes, als ein junger Atheist, der der Kirche sehr reserviert gegenüberstand. Die Konfirmation lehnte er gegen den Wunsch der Mutter ab. Und immer noch hielt Uwe Johnson seine häusliche Sphäre gegenüber den Mitschülern abgesondert: Die Mutter Erna Johnson hat Axel Walter gar nicht kennenzulernen vermocht.

All diese gesellschaftliche Aktivität verhinderte jedoch nicht das Lesen. In seiner Antwort auf eine Anfrage der Stadtbibliothek Hannover vom 29. Juli 1982 wird Johnson sich erinnern:

Mit der Lektüre von Büchern, die in der Zeit vom Mai 1933 bis 1945 in Deutschland verboten wurden, habe ich 1948 angefangen, nach dem Lehrplan für die Oberschulen in Mecklenburg-Vorpommern, damals sowjetisch besetzte Zone. Aus dem dazugehörigen Lesebuch für den Deutschunterricht erinnere ich ein Gedicht von Albert Ehrenstein. Zum fakultativen Lehrstoff gehörte Unter fremden Himmeln, ein Abriss der deutschen Exilliteratur von F. C. Weiskopf, 1948 in Ostberlin erschienen; geduldet wurde eine Zeitlang die Anthologie Verboten und verbrannt, herausgegeben von Richard Drews und Alfred Kantorowicz, 1947 verlegt in München und Westberlin. Eine Auswirkung solcher Lektüre auf die literarische Produktion eines Vierzehnjährigen [...] werden Sie wohl selbst ausschliessen.

Womit Uwe Johnson bestätigte, daß er damals, als Vierzehnjähriger, bereits eine literarische Produktion betrieb, von der allerdings nichts überliefert zu sein scheint. Des weiteren las man Neuland unterm Pflug von Michail Scholochow oder Stalingrad von Theodor Plivier. Daneben sind dem Mitschüler Walter von Johnsons ausgedehnter Klassiker-Lektüre Balladen und überhaupt Gedichte von Goethe in Erinnerung geblieben.

DAS MITGLIED DER »FREIEN DEUTSCHEN JUGEND«.

EIN ZEITBILD

Kein damaliger Oberschüler, wollte er eine Zukunft im Sozialismus besitzen, kam um die Mitgliedschaft in der »Freien Deutschen Jugend« herum. Uwe Johnson mag diese am Anfang sogar gewünscht haben. Wir befinden uns im Jahr 1949, mithin noch ganz in den Anfängen der FDJ. Diese waren, wie sich Hans Mayer in seinen Lebenserinnerungen entsinnt, nicht zuletzt geprägt von unabweisbar Patriotisch-Humanistischem, dem Erbe der Mozart und Goethe. Auf einen wie den Oberschüler Johnson wird das seine Anziehungskraft nicht verfehlt haben.

Johnson stand in einer für diese Jahre und für ihn nicht ungewöhnlichen Double-bind-Situation. Er hatte sich als Mitglied in die FDJ gemeldet. Doch diese Mitgliedschaft führte zugleich zur unheimlichen Bekanntschaft mit den Praktiken damaliger »proletarischer Staatsmacht«. Die Erfahrung mit der Stasi und mit Hilde Benjamins »sozialistischer« Terrorjustiz dieser Jahre wird Uwe Johnson später am Beispiel der Figur des Lockenvitz im vierten Band der Jahrestage beschreiben. Auch die Begleitumstände verdeutlichen die Ambivalenz seiner Karriere als »Jugendfreund«.

Das Grundwissen reichte aus zu dem F.D.J.-Abzeichen »Für Gutes Wissen« in Bronze. Das Abzeichen reichte aus für die Bestellung zum Org.-Leiter der Z.S.G.L. Das eine ist die Zentrale Schulgruppenleitung einer Oberschule, und der andere befasst sich mit der Organisation der Unternehmen, denen sich an die dreihundert Schüler gemeinsam unterziehen, als da sein kann die Suche nach den Kartoffelkäfern, die Flugzeuge der U.S.A. auf Beschluss der Regierung der D.D.R. seit dem Frühjahr 1950 auch über Mecklenburg abgeworfen haben. Ernte-Einsätze, Entlade-Einsätze. Der Org.-Leiter berichtet der Z.S.G.L., was wiederum die Org.-Leiter der einzelnen Klassengruppen ihm berichten. Er führt die Mitgliederlisten, er stellt die Anwesenheiten bei Versammlungen fest, er füllt die unzähligen Berichtsschablonen aus für den Zentralrat der Freien Deutschen Jugend in Berlin. An den Org.-Leiter kommt die Anfrage der Kreisleitung über das »politische Bewusstsein« eines Mitschülers, die verkleidete Neugier des Ministeriums für den Dienst an der Staatssicherheit, und ehe er darüber befindet mit den Angehörigen der Z.S.G.L., wird er jenen Mitschüler unterrichten über das gefährliche Interesse an seiner Person. (Der zieht es vor, die Warnung in den Wind zu schlagen, und bekommt seinen Prozess, während der Org.-Leiter eben abzuwarten hat, ob der als Staatsfeind erkannte Doemlack ihn benennen wird als Beihelfer zu seinen Albernheiten.) Wenn Angehörige seiner Schulgruppe verschwunden sind, nämlich verhaftet, geht der Org.-Leiter auf die Suche nach ihnen in den sicheren Häusern des Volkseigenen Betriebes Horch & Greif, wo er sagt: immerhin bin ich der Org.-Leiter. Dies alles neben der Schularbeit, durchaus ehrenamtlich, durchaus unehrenhaft in der Sicht mancher Mitschüler; aber wenn beim Abitur die Zeugniskonferenz fragt nach seiner »gesellschaftlichen Betätigung«, wird jemand sagen müssen: Immerhin war der fast zwei Jahre lang Org.-Leiter. (Begleitumstände S. 50 ff.)

Seit dem 1. März 1949 wurde Uwe Johnson als ein »Kulturbundmitglied«, seit dem 10. September 1949 als »FDJ«-Mitglied geführt. Seine Beitritte stehen parallel zu seinem Wechsel auf die Oberschule, standen ganz sicher in ursächlichem Zusammenhang damit. Seit dem 18. Dezember 1952 gehörte er zudem der »Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft« an. Nahm auch vom 15. November bis zum 21. Dezember 1950 an einem Bezirksleiter-Lehrgang mit dem Titel ABC des FDJlers auf der FDJ-Bezirksjugendschule Dobbertin im Kreis Goldberg teil. Hier brachte der Schüler es immerhin bis zum Ersten Vorsitzenden des Lehrgangskollektivs. Entführte, auch darin einer der Besten, am Ende das »Bronzene Abzeichen für gutes Wissen« mit genau 48,5 Punkten nach Güstrow. Damit freilich war ein so Ehrgeiziger kaum zufrieden, wie die Schilderung der Episode im Abschlußband der Jahrestage nahelegt:

Diesen unseren Lockenvitz suchten wir aus, als die Elf A Zwei plötzlich jemanden abstellen sollte für einen Lehrgang der F.D.J. in Dobbertin bei Goldberg. [...] Dann fragte Pius, wie es ihm zustand als Leiter der Klassengruppensitzung: was denn der Kandidat über so einen Ausflug denke. – Als Organisationssekretär der Z.S.G.L. muß man in einem fort die Erweiterung der Kenntnisse in der Theorie im Auge haben: antwortete der wie jemand, der will uns ein Opfer bringen. Zweite Abstimmung: einstimmig, wie es für schick galt. [...] Das Ende in Dobbertin, er hat es für sich behalten.

Es wird so gewesen sein, daß einer der Instruktoren besser Bescheid wissen wollte über das dritte Grundgesetz der Dialektik; das kann einem eine ungünstige Schlußnote einbringen und statt eines »Abzeichens für Gutes Wissen« in Gold eines in Bronze. (Jahrestage, S. 1728 f.)

– Das dritte Grundgesetz der Dialektik handelt übrigens vom notwendigen Umschlagen der Quantität in die Qualität. Es mußte damals zur Begründung der Notwendigkeit revolutionärer Umwälzungen, zur Kritik des »Reformismus« und der SPD, herhalten. Johnson hat ihm gar ein längeres Gedicht gewidmet, in einem Brief an seine Recknitzer Lehrerin Charlotte Luthe und unter dem Titel »Ein Elefant, die Funktion des Denkens und das dritte dialektische Grundgesetz«. Dort heißt es u. a.: »Das dritte Gesetz ist bewiesen/ein Dummkopf, der das nicht sieht!/Der Marxismus sei gepriesen!/Wir singen zum Abschied ein Lied.«

Hinzu kam, daß der Organisationsleiter Johnson auch das allen Schülern auferlegte Einsammeln von feindlichen Kartoffelkäfern allzu nachlässig, zudem ungläubig betrieb. Photos vom sogenannten Kartoffelkäferprozeß zeigen diesen Unglauben noch heute. Es handelte sich um eine satirische Aufführung, bei der man die subversiven Tierchen, an Haken aufgehängt, vorwies – eine Praxis, die so unweigerlich wie unheimlich an die Fleischerhaken erinnert, an denen Hitler die Verschwörer des 20. Juli vom Leben zum Tode hatte befördern lassen.

Und Lockenvitz wurde uns kenntlich zumindest als Sohn eines Biologen, mit dem ging ein Andenken durch, als er sagte: Ha! diese schlauen Imperialisten! Der Kartoffelkäfer überwintert in zwei Handbreit Bodentiefe und erscheint, sobald die Temperatur über zehn Grad anzeigt. Also Anfang Mai. Wann ist das Deutschlandtreffen? Ende Mai [...] Wenn sie hier gedeihen, dann weil die Bodenreform die Knicks abgeschlagen hat, in diesen Hecken saßen nämlich Vogelnester, darin hinwiederum die Vertilger dieses Quarantäneschädlings! (Jahrestage, S. 1726 f.)

In diesem Bereich mochte es möglich gewesen sein, mit Argumenten die eigene Skepsis zu behaupten.

Doch Johnsons Funktion besaß durchaus auch unangenehmere, ernsthaftere Seiten. Am 12. Juli 1951 unterschrieben Uwe Johnson – als »Organisationsleiter« – und sein Klassenkamerad und Mit-Funktionär Fritz Möllendorf für den »Zentralen Schulvorstand der Schulgruppe John Brinckman« das folgende Gutachten zur Beurteilung der gesellschaftlichen Tätigkeit des Jugendfreundes Peter Zollenkopf:

Der Jugendfreund Peter Zollenkopf ist seit 1949 Mitglied unseres Verbandes. Er ist Träger des Abzeichens für Gutes Wissen in Bronze. In seiner bisherigen Mitarbeit hat Peter sich nicht genügend bemüht, dieses Wissen anzuwenden. Er zeigt auch nicht immer die Haltung, die ein Abzeichenträger in der gegenwärtigen Situation einnehmen müsste. An kollektiven Aufgaben beteiligt er sich. Peter muß auch weiter bei seiner ideologischen Festigung angeleitet werden.

Der so Beurteilte hatte allerdings selbst um diese Einschätzung gebeten, seine Chancen in der »Demokratischen Republik« zu testen.

Andererseits schrieb Johnson als der Leiter der gleichen »Z.S.G.L.« für seinen Schulkameraden Hans-Jürgen Schmidt eine diesem dienliche Beurteilung. Schmidt, Sohn der Schweriner Musikalienhandlung »Schmidt & Sohn«, wollte, obwohl ein »Bürgerlicher«, Musik studieren. Schmidt hatte vom anderen FDJ-Sekretär der Schule, Fritz Möllendorf, zuvor ein negatives Gutachten erhalten. Sein erstes Gutachten hätte Schmidt jegliche Chancen genommen, wenn es denn zum Zuge gekommen und nicht erfolgreich von einem Mit-Funktionär konterkariert worden wäre. Uwe Johnson brachte es tatsächlich fertig, das Papier und den nötigen Stempel für eine brauchbarere Beurteilung kraft seiner eigenen Funktion als stellvertretender FDJ-Sekretär illegal aufzutreiben. Solche Handreichung stellte einen nicht ungefährlichen Akt des Widerstandes dar, ist um so erstaunlicher, stellt man Uwe Johnsons damals ganz zweifellos vorhandenen Willen zu einem persönlichen Neuanfang in Rechnung.

In anderen Zusammenhängen blieb Johnson wenig mehr denn die Rolle des ohnmächtigen Opfers. Im Frühjahr 1950 wurde der Schüler Johnson mit dem Ministerium für Staatssicherheit, vulgo Stasi, bekannt. Von einem FDJ-Treffen in Berlin, die Grenze war damals noch offen, hatten Mitschüler politische Flugblätter mit nach Güstrow gebracht. Darauf folgte ein Schulbesuch der besonderen Art. Er ist im vierten Band der Jahrestage beschrieben:

Wir sind vom M.f.S. aus der Geschwister-Scholl-Strasse in Schwerin; wir kümmern uns um jene Flugblätter, die heute nacht im Bahnhof Gneez ankamen und ausgehändigt wurden an insgesamt vier Verteiler. (Jahrestage, S. 1674)

Der subversive Akt führte zu Verhaftungen, Vernehmungen, Verurteilungen. Johnson, verliebt zudem in eine der Verhafteten, was die Sache zusätzlich verkomplizierte, war gleich mehrfach betroffen, stand einmal mehr zwischen zwei Loyalitäten. Er war FDJ-Funktionär, und das nicht aus Opportunismus. Ungeachtet dessen suchte er den Aufenthaltsort der Verhafteten aufzuspüren. Die hörten ihn im Nebenraum Erkundigungen einziehen. Auch dies findet sich, wiederum am Beispiel des Lockenvitz, in den Jahrestagen beschrieben. In der Schulleitung seiner Brinckman-Schule vermutete Johnson Informanten für die Stasi. Gerade also durch seine Tätigkeit in der »Kampfreserve der Partei« wurde Johnson aus nächster Nähe mit jener totalitären Art bekannt, mit der die SED ihre Herrschaft rigoros befestigte.

Nach Beendigung des Dobbertiner Lehrgangs rückte der Güstrower aus der Funktion des Organisationsleiters seiner Klassengruppe in die des Organisationsleiters der Zentralen Schulgruppe auf. Auch stellte er den Zirkelleiter des Kreises, der sich dem Studium des gesellschaftlichen und staatlichen Aufbaus der Sowjetunion widmete. Erst seine Abiturvorbereitungen setzten dieser Tätigkeit ein nun bereits sehr willkommenes Ende. Im September 1951 schied Johnson aus seinen Funktionen aus, nicht aber zugleich aus der FDJ, was er selbst wiederum für sein Alter ego Lockenvitz geschildert hat:

Zu Beginn des Schuljahrs 1951/52, aufgestellt zu einem zweiten Turnus als Org.-Leiter, schlug er die Kandidatur aus; Begründung: Förderung seiner schulischen Leistungen. [...] Er stand auf Eins in Latein, Englisch, Deutsch, Gegenwartskunde, auf Zwei in den übrigen Fächern, bis auf die Drei in Chemie, ihm lästig wie eine Zecke. (Jahrestage, S. 1731)

Uwe Johnson verstand seine Mitgliedschaft in der FDJ als Engagement zur Verbesserung der Gesellschaft. Sie mochte teils auch aus der jugendlichen Opposition dem eigenen Elternhaus gegenüber resultieren und verweist doch auf die Prägekraft des Antifaschismus als ideologische Ausrichtung zumindest der frühen DDR. Des Oberschülers Kritik an diesem Staat und seinen Institutionen war folglich nicht als prinzipielle, sondern als eine solidarisch-moralische zu verstehen. Uwe Johnsons FDJ-Karriere muß ihn bei mannigfachen Gelegenheiten mit dem Direktor der Schule zusammengeführt haben. Deutlicher als andere erlebte er dabei die Schwächen der Leitenden. Mit der FDJ gebrochen hat Uwe Johnson erst im April des Jahres 1953 in Rostock. Formal ausgetreten aus der FDJ ist er hingegen nie, wie immer man dazu auch anderes lesen kann.

DER DEUTSCHUNTERRICHT AN DER »NEUEN SCHULE« ODER

DIE TOXISCHE WIRKUNG DES »BLONDEN GIFTS«.

UWE JOHNSONS ERSTE LESUNG

Dem Deutschunterricht kam bei der Vermittlung der richtigen sozialistischen Weltanschauung und des Marxismus zentrale Bedeutung zu. Die Lehrerin dieses Fachs an der Güstrower »Neuen Schule« war, in der Realität wie in der Babendererde, das »Blonde Gift«. In ihr traf der Schüler Johnson neben Pius Siebmann auf die andere bedeutende Negativ-Figur seiner Schulzeit. Keine andere »Lehrerpersönlichkeit« repräsentiert im Erstling vergleichbar ausgeprägt die »Neue Schule« als eine bornierte »sozialistische« Zwangsanstalt wie das Paar Siebmann/Behrens. Daß beide biographisch mühelos wiedererkennbar sind, kann als Programm verstanden werden.

Die ehemalige Güstrower Junglehrerin Liselott Prey, sie ist inzwischen verstorben, ging als Frau Behrens in die Babendererde ein. Liselott Preys fachliche Ausbildung muß sich reziprok zu ihrer sozialistischen Überzeugung verhalten haben. Als »Bettinchen« Selbich kehrt sie dann im Abschlußband der Jahrestage wieder. Auch dort eine »hübsche und sehr blonde Frau«, beeindruckt sie den Schüler Lockenvitz noch immer genauso stark wie den Jüngling Jürgen Petersen im Erstling. Liselott Prey zog die schüchterne Zuneigung des 18jährigen auf sich, während sich dieser zugleich ihrer fachlichen Begrenzungen und ihrer ideologischen Borniertheiten bewußt wurde – ein Sachverhalt, der das Dilemma verschärft haben muß.

So gesehen, begründet das »Blonde Gift« jene stattliche Reihe von jeweils älteren Frauen, zu denen Johnson eine Zuneigung ganz besonderer Art empfand. Alle diese Damen befaßten sich mit der Literatur. Jede auf ihre Weise stellten sie Autoritäten dar auf diesem Gebiet. Ihre Reihe reicht vom »Blonden Gift« über die Hochschullehrerin Hildegard Emmel in Rostock und Margret Boveri in Berlin bis hin zur Verlegerin Helen Wolff und der Philosophin Hannah Arendt in New York. Dazwischen liegen immerhin rund dreißig Jahre.

Zunächst also Liselott Prey alias das »Blonde Gift«. Für die Festschrift der John-Brinckman-Schule von 1953 hat sie selbst zur Feder gegriffen und ihre Lehrmeinungen skizziert:

Die germanistische Forschung hatte 12 Jahre lang geschwiegen. Lukács’ Arbeiten zur Literaturkritik wurden erst nach 1945 bekannt. Die neueren Arbeiten von Nationalpreisträger Prof. Frings konnten nur Anregung geben. Der erste Lehrplan, der 1946 erschien, zeigte deutlich, wie schwierig es war, unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Er war ein Notbehelf und gab nur Hinweise für den völlig neuen Inhalt des Unterrichts, den Weg mußte sich jeder Lehrer zunächst selbst bahnen [...] Der Lehrplan von 1951 bedeutete einen großen Fortschritt, er stützte sich auf die ersten konkreten Ergebnisse aus dem Studium der Arbeiten J. W. Stalins über den Marxismus in der Sprachwissenschaft und gab dem Grammatikunterricht und der Sprachwissenschaft auch im Unterrichtsplan der Oberschule endlich eine beherrschende Stellung. Auch der Literaturunterricht erhielt einen Aufschwung. Die Tatsache, daß die Literatur eine Form des gesellschaftlichen Bewußtseins, des Überbaus ist, verpflichtete Schüler und Lehrer zur stärkeren Beachtung des Prinzips der Parteilichkeit, zum klassenmäßigen Herangehen an jede Literatur im Sinne von Marx und Stalin. [...] Das hieß, von der Leninschen Widerspiegelungstheorie als erkenntnistheoretischer Voraussetzung ausgehen und die Schüler lehren, das literarische Kunstwerk als eine besondere Form der Spiegelung der objektiven Wirklichkeit zu erkennen. Denn jede realistische Dichtung in ihrer Gestaltung der Widersprüche, Auseinandersetzungen und Kämpfe des gesellschaftlichen Lebens ist ein Weg zur Erkenntnis der außerhalb des menschlichen Bewußtseins existierenden objektiven Wirklichkeit.

»Marx und Stalin« schrieb diese Junglehrerin in selbstverständlich-naiver Zusammenstellung. Methodologisch berief sie sich auf Georg Lukács, gebrochen durch das, was ein Wilhelm Girnus in den Jahren 1951/52 daraus gemacht hatte. – Girnus schrieb damals im Neuen Deutschland gegen den »Formalismus«, worauf noch näher einzugehen sein wird. Nicht zufällig bezieht sich die enthusiastische Zustimmung Liselott Preys zu den Änderungen des Lehrplans im Jahr 1951 just darauf. Im selben Jahr hatte der Kampf der SED gegen den »Formalismus« begonnen – ein Schlüsselereignis auch für die angehenden Abiturienten der John-Brinckman-Schule. Schulfreunde entsinnen sich, daß Uwe Johnson dieser Lehrerin wiederholt in sanft-ironischer Opposition (aber eben auch, um imponierend sein Wissen vorzuzeigen) nachwies, wo bei Lukács sie gerade ihre Weisheit hergeholt hatte. Girnus’ Formalismusverdikt jedenfalls berief sich auf den ungarischen Literaturpapst und dürfte von »Bettinchen« ex cathedra verkündet worden sein. Gegen solche Orthodoxie mobilisiert dann Klaus Niebuhr in der Babendererde die Position des Bertolt Brecht, dessen Bürgschaft-Parodie zitierend. Und in

all diesem Betrieb schritt einsam Das Blonde Gift auf und ab, Nachdenklichkeit darstellend und Aufsicht führend (zweite Grosse Pause Hofaufsicht: Frau Behrens). Dies war eine füllige und nahezu hübsche und sehr blonde Frau. Streng aufgerichtet in langem blauem Kostüm ging sie hin und her und war in ihrer Würde Pius nahe verwandt. (Babendererde, S. 93)

Der Unterricht, den diese Frau erteilte, lebte offenbar von soziologischästhetischen Begriffsmonstren. Sie wurden zudem in einer stilistisch denkbar ungelenken Art ins didaktische Treffen geführt.

Zu jener Zeit war in Deutschland der Feudalabsolutismus die herrschende Kraft. Territoriale Aufgespaltenheit. Unterdrückung des Volkes. Grosses Elend. Wirtschaftlicher Niedergang. Die Romantik. Die Blaue Blume als Symbol des Schönen/Hohen/Reinen/Guten. Die Wendung gegen die Klassik. Die Romantik als bewusstes Werkzeug der herrschenden Klasse. Die Junge Gemeinde als amerikanisch geförderte Spionage-Organisation: ein Eiterherd im Schosse der Republik. Die Hochromantik. (Babendererde, S. 102)

»Bettinchens« Deutschunterricht war also für sich genommen schon geeignet, die altersbedingte Oppositionsbereitschaft der Oberschüler hervorzurufen. Das verstärkte sich im Falle Johnsons noch dadurch, daß dieser bereits selbst schrieb. Was immer der Deutschunterricht behandelte, es betraf eo ipso Johnsons ureigene Sache. Die erste Fassung der Babendererde-Geschichte war seit 1951 im Entstehen begriffen, geplant noch als eine Novelle über Schülerliebe und Segeln, der es deutlich ermangelte an der politischen Dimension des späteren Romans. Erhalten ist diese Babendererde-Vorstufe nicht; die Johnson-Forschung registrierte bislang noch nicht einmal ihre Existenz. Indes werden Zweifel an ihrer Existenz widerlegt durch Zeugenschaften unterschiedlichster Provenienz: So etwa die des Sport- und Erdkundelehrers Horst Dehn, der Güstrow ebenfalls verließ und seit Mitte der fünfziger Jahre im Westen lebt, des Deutsch- und Musiklehrers Kurt Hoppenrath, mit dem Johnson eine Bekanntschaft verband, auf die noch näher einzugehen sein wird, sowie des Güstrower Kritikers Dr. Günther, dem Johnson das Manuskript 1951 zur Begutachtung vorgelegt hat – mit übrigens positivem Respons.

Noch im selben Jahr veranstaltet der Oberschüler Johnson seine erste Lesung als Literat: Unweit der Schule, am Goetheplatz, existierte seit 1949 eine Volksbücherei, die auch er benutzte. Die Geschichte dieser Bibliothek findet sich dokumentiert in Erika Silberstorffs Güstrower Volksbücherei:

Nach 1945 erfuhr das Bibliothekswesen eine besondere Förderung. Große Mittel wurden bewilligt zum Einkauf neuer Bücher. Die Güstrower Volksbücherei, die jetzt nicht mehr ehrenamtlich, sondern von Bibliothekaren und technischen Angestellten betreut wurde, zog im Jahre 1949 in das damalige »Haus der Kultur« am Goetheplatz. Drei schöne Räume, die zweckmäßig eingerichtet wurden, und in denen die Leser sich wohl fühlen sollen, stehen hier zur Verfügung. [...] Jeder Einwohner ab 16 Jahren konnte diese Bücherei unentgeltlich benutzen.

Auf seine Weise nahm der Güstrower Oberschüler den letzten Satz beim Wort. Beorderte seinen Schulfreund Heinz Lehmbäcker eines Nachmittags zu dieser Bibliothek. Beide stiegen durch ein Fenster in die Stätte der Volksbildung ein, wo Uwe Johnson seinem Freund dann aus der ersten Stufe der Babendererde vorlas. Eine runde Stunde voll mit Segeln und der schüchternen Liebe zu einer Ingrid. Diese Ingrid wiederum hatte eine Schülerin zum Urbild, die Lehmbäcker aus der gemeinsamen Klasse kennen konnte. Da freilich endete die Parallele zur Güstrower Schulrealität auch schon. Denn die Ingrid in der ursprünglichen Novellenfassung protestierte (der Erinnerung Hildegard Emmels zufolge, die diese Fassung später in Rostock gelesen hat) gegen den Deutschunterricht des »Blonden Gifts«. Das wird später nicht mehr so sein.

Wie es Uwe Johnson daneben als Literaturrezipient im Deutschunterricht ergangen sein mag, illustriert der Schüler Lockenvitz – wenn auch in einem anderen Deutschunterricht als dem des »Blonden Gifts«. Lockenvitz erweist sich als der Thomas Mann-Kenner, der Johnson damals bereits war. Der Kandidat Weserich liest mit seiner Klasse Theodor Fontanes Schach von Wuthenow. Lehrer und Klasse stellen zunächst Übereinstimmung darüber her, daß »ein Personenname immer die ehrlichste [Titel]-Ankündigung ist«. Diese Einsicht, sagen die Jahrestage in ihrem vierten Band, stamme von Thomas Mann. Das ist gewiß richtig. Doch Weserich legt diese Maxime geradezu brechtisch aus, wenn er folgert, daß Fontane einen Namen als Titel gewählt habe, weil die erwogenen »anderen fast alle ein Urteil enthalten, dem Leser sein eigenes vorwegnehmen. Fontane wünschte seine Leser unabhängig!« In diesem brechtischen Geist beginnt die Klasse mit Interesse, Fontanes historische Erzählung zu lesen. Das gute Ende freilich

verdarben wir uns. Lockenvitz, der vermasselte es. [...] Lockenvitz, nunmehr Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Pagenkopf/Cresspahl, fragte uns nebenbei, ob Herr Weserich wohl selber eine Prüfung aushalte. Es ist wahr, wir gaben ihm die Erlaubnis. (Jahrestage, S. 1705)

Lockenvitz holt, seinen Lehrer zu triezen, das Gutachten Georg Lukács’ zu Weserichs Thesen ein. Was der »Widerspruchsgeist« Lockenvitz anbrachte, war

eine Zeitschrift aus der halben Hauptstadt, mit farbiger Bauchbinde, Form hieß sie, oder Sinn, die Botschaft der ostdeutschen Staatskultur an den Rest der Welt, darin schrieb der amtierende Fachmann für sozialistische Theorie in der Literatur, Heft 2, Seite 44–93 über Fontanes »Schach von Wuthenow«: die Erzählung sei ein »Geschenk des Zufalls«. Die darin geübte Kritik am preußischen Wert sei »absichtslos«, sei »unbewußt«. (Jahrestage, S. 1706)

Soweit das angebliche Zitat aus der Kulturzeitschrift Sinn und Form, das sich zwar nicht an der von Johnson angegebenen und auch nicht anderswo im Wortlaut findet, annähernd aber in der Buchfassung von Lukács’ Aufsatz, wie sie im Aufbau-Verlag und anderswo erschienen ist. Lockenvitz hatte sich ein Duell erhofft zwischen »einer Schulklasse in Mecklenburg und einem Grossdialektiker« in Budapest. Am Ende resultiert aus seiner Aktion die »Republikflucht« des einzigen Deutschlehrers, bei dem man das Deutsche wirklich hätte lesen lernen können. Was Johnson alias Lockenvitz sich in der Weserich-Episode zuschrieb, man mag es zuallererst als Verbeugung des Fontane-Preisträgers gegenüber Fontanes Literatur lesen. Andererseits beinhaltet die Weserich-Episode einen deutlichen Hinweis darauf, daß der Oberschüler und Abiturient von 1952 noch ein Anhänger der Lehren des Georg Lukács gewesen war.

KURT HOPPENRATH, DEUTSCH- UND MUSIKLEHRER

IN GÜSTROW.

INDIZIEN FÜR DIE EXISTENZ EINER UR-»BABENDERERDE«

Die geschilderte Episode aus dem vierten Band der Jahrestage stellt ihrerseits auch eine – erfundene – Erinnerungs-Hommage an den Deutsch- und Musiklehrer Kurt Hoppenrath dar, der Güstrow seinerseits verlassen mußte und der, ganz wie der Kandidat Weserich im Roman, in Göttingen promovierte. Dem Lehrer Hoppenrath und dessen Familie sah der Oberschüler Johnson sich nahezu freundschaftlich verbunden. Glaubt man seinem damaligen Sportlehrer Horst Dehn, schien er sich bei den Hoppenraths zeitweilig mehr zu Hause zu fühlen als bei der eigenen Mutter am Ulrichplatz. Zudem verfügten die Hoppenraths über den Zugang zu einem Bootshaus am Inselsee. Auf dessen Steganlage hat der Oberschüler Johnson, damals bereits ein Pfeifenraucher und Segler auf dem schuleigenen Piraten, Teile seiner frühesten Produktion, darunter das verschollene Babendererde-Fragment, Gedichte und wohl auch die Beschreibung Gabrieles verfaßt. Andererseits sollte man sich unter seinem häufigen Aufenthalt im Hause Hoppenrath doch keine allzu große Vertrautheit oder gar Seelenfreundschaft vorstellen. »Problemgespräche« hat man nicht miteinander geführt. Insgesamt vollzogen sich die Unterhaltungen eher auf der Ebene eines unverbindlichen »Blödelns« als auf der eines fachlich-literarischen Austauschs. Noch Ende der fünfziger Jahre in Göttingen glaubte Johnson es im übrigen seinem oppositionellen Schülerimage schuldig, das Mitbringen von Blumen für Louise Hoppenrath glatt zu verweigern – auch dann noch, als der Ehemann ihm, die Form zu wahren, das Geld dafür verstohlen in die Hand drückte.

Aus der Hoppenrathschen Bibliothek lieh Uwe Johnson zwischen 1950 und 1952 häufig Bücher aus. Ihr verdankt sich seine Vertrautheit mit dem Gesamtwerk Thomas Manns – die erste entscheidende Begegnung resultierte, wie die Begleitumstände vermerken, aus dem Jahr 1949. Nachfragen der Hoppenraths machten deutlich, daß der Schüler in der Tat die Gesammelten Werke gelesen, sie geradezu durchstudiert hatte – ein Hinweis überdies auf Johnsons erstaunliches Gedächtnis, zumal die Lektüre jeweils innerhalb kürzester Zeit abgeschlossen war. Natürlich »ist« Hoppenrath keineswegs der Weserich des Romans. Doch hat Johnson diesem Lehrerfreund mutatis mutandis nachgesandt, was der Lockenvitz der Jahrestage, »unberaten«, »unbefohlen«, seinem Deutschlehrer Weserich nachsandte: zwanzig zu begutachtende Aufsatzseiten. 1954 schrieb der Schüler seinem Lehrer eine Art Offenen Brief (veröffentlicht 1992 in Entwöhnung von einem Arbeitsplatz, S. 104 ff.); Kurt Hoppenrath hatte sich da bereits in Göttingen eingerichtet. Daß dieser sich, als es Zeit für ihn zu gehen war, die Umzugskartons noch vom Schulmeister der John Brinckman-Schule besorgen ließ, wahrhaftig »in cold blood«, das hat Uwe Johnson außerordentlich imponiert. Im erwähnten Offenen Brief unter dem 6. Oktober 1954 schreibt er:

Herr Hoppenrath ist mit mir durchaus nicht verwandt, oder verschwägert. [...] Wir lernten uns besonders kennen im Juli des Jahres 1951, gelegentlich gemeinsamer Betrachtungen über pädagogische Ethik, Betrachtungen die sich zusehends mit Salz anreicherten. [...] Herr Hoppenrath unterrichtete am gleichen Institut in den Fächern Musik und Deutsch [...] Doch war Herr Hoppenrath nicht nur bei wenigen beliebt. Man freute sich allgemein ihn zu sehen, denn er führte ergötzliche Reden. Er bemühte sich, im Gegensatz zu der obligaten Parteilichkeit marxistischer Wissenschaft, seinen Stoff einiger Massen objektiv darzustellen – es ist, heute und hier, begeisternd, jemand sagen zu hören was er denkt, um so mehr: wenn alle dasselbe denken. – Er leitete den John Brinckman-Chor: das war eine seltene Gelegenheit zu wirklich musikantischer Arbeit; das Lied der Gewerkschaften brauchten wir nicht zu lernen, aber das deutsche Volkslied haben wir begriffen (mitunter ward uns auch besondere Kenntnis, etwa von der Scheusslichkeit des Dreiklanges Es-E-D).

Wie Weserichs Dissertation über Fontanes Schach von Wuthenow in Göttingen gedruckt wurde, so promovierte Kurt Hoppenrath im Juli 1964 an derselben Universität über Eduard Krüger (1807–1885). Leben und Wirken eines Musikgelehrten zwischen Schumannscher Tradition und Neudeutscher Schule. Uwe Johnson liebte die romantische Musik. Neben Johann Sebastian Bach waren ihm Franz Schubert und auch Robert Schumann durchaus vertraute Komponisten. Hoppenrath schmiedete die Schülerschaft beim Chorsingen zusammen. Dies hat ihm sein ehemaliger Schüler denn auch noch 1954 ausdrücklich bescheinigt: »Der Chor war das einzige wahrhafte Kollektiv an dieser Schule, meine ich.« Das einzige Kollektiv mithin an einer sich als sozialistisch verstehenden »Neuen Schule«.

Die politische Atmosphäre der John-Brinckman-Schule in den Jahren der »Formalismus«-Kampagne 1951/52 schließlich hallt in den folgenden Formulierungen nach, die auch die Annahme nahelegen, daß Uwe Johnson diesen Brief wohl nicht der Post der »Demokratischen Republik« anvertraut haben wird:

Es ist hierzulande das merkwürdige Phänomen gebräuchlich, dass manche Schüler auftragshalber an jeder Äusserung ihres Lehrers erwägen, ob sie für die Schulleitung von Interesse sei, oder nicht. (Übrigens ist der stellvertretende Direktor der John Brinckman-Oberschule Sonderbeauftragter des Staatsicherheitsdienstes zumindest 1951 gewesen.) Auf solchen Wegen pflegen sich allerlei Gefährlichkeiten an unrechter Stelle anzusammeln; ich bat Herrn Hoppenrath bereits im Herbst 1952, die DDR zu verlassen, und hatte wahrlich Anlass das zu tun. (ebd., S. 105)

Der Kandidat Weserich und der Lehrer Hoppenrath: Mit beider Promotion in Göttingen endet die Parallele. Nach Erscheinen der Mutmassungen übrigens bekam Kurt Hoppenrath das Buch zugesandt, soll es aber aufgrund der eigenwilligen Kommasetzung dem Autor mit dem Bemerken zurückgesandt haben, dieser solle um Gottes willen nie behaupten, daß er bei ihm Deutschunterricht gehabt hätte – was Uwe Johnson denn auch nie getan hat.

Bleibt Kurt Hoppenrath als Hauptzeuge für die Existenz einer Vorversion der Ingrid Babendererde, indem er im Frühsommer 1952 gegenüber Horst Dehn geäußert hat: »Der Johnson macht die Schule nur nebenbei; er hat ja schon sein erstes Buch geschrieben.« Zur Zeit seines Abiturs im Mai/Juni 1952 hatte Johnson Hoppenrath die Mitteilung gemacht, er habe die Babendererde fertig. Diese erste Fassung der Babendererde wird dann der Abiturient und angehende Student aus Güstrow mit nach Rostock nehmen.

WILHELM GIRNUS VERSUS ERNST BARLACH.

DER SCHÜLER JOHNSON IM RAHMEN DER

»FORMALISMUS«-DEBATTE

Wir wissen, auch aus den Begleitumständen, daß die Abiturienten in Güstrow 1951/52 auf ihre Reifeprüfung nicht zuletzt durch intensive Lektüre des Neuen Deutschland, insbesondere von Artikeln aus der Feder Wilhelm Girnus’, vorbereitet wurden. Girnus war Vorsitzender der staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, die am 31. September 1951 zur besseren Gängelung der Künste – neben anderen auch gegen Einwendungen Bertolt Brechts – installiert worden war. Girnus, ein Schüler des seinerzeit in Leipzig lehrenden Literaturhistorikers Hans Mayer, erschien der Partei als der richtige Mann, gegen Barlach und andere »Formalisten« anzutreten. Johnson schreibt über Mayers entlaufenen Schüler:

»Eine Begabung ist eine einmalige und kann in jedem Fall etwas anderes sein«, das war Originalton Girnus. Er war ja kein Unbekannter. Unter seiner Ägide, als er der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten vorsass, hatte ein Oberschüler lernen müssen für die Reifeprüfung, was ein Girnus unter Formalismus verstand, nämlich eine typische Verfallserscheinung der bürgerlichen Kunst, der als einer Mode-Erscheinung auch fortschrittliche Künstler verfallen können, siehe Picasso. Wer dann Picassos Taube gesehen hatte auf dem Vorhang in Brechts Theater am Schiftbauerdamm, hatte leichte Wahl. Weiterhin war es eben dieser Girnus gewesen, der den Oberschülern ins Pensum geschrieben hatte, es gebe eine so schlimme Abweichung wie den Kosmopolitismus, eine von, vorzugsweise jüdischen, Imperialisten ausgesäte Ideologie, die die Einschränkung der staatlichen Unabhängigkeiten als gesetzmässig ausgebe, mit freundlichen Grössen von Stalin, der die Vaterschaft an dem jüdischen unter seinen Völkern in den Wind schlagen wollte. (Begleitumstände, S. 107)

Die staatliche Kunstkommission unter Vorsitz von Girnus erscheint als ein Resultat des ersten Kulturkampfes, den die SED in ihrem Staat meinte führen zu müssen. Die Auseinandersetzung begann ein Jahr vor Johnsons Abitur. Sie wandte sich unter anderem gegen eine Ausstellung von Werken Ernst Barlachs in Berlin. Die SED erwirkte die vorzeitige Schließung der Ausstellung und die Entlassung des Verantwortlichen. Nachdem Ernst Barlach von den Nationalsozialisten als »entartet« gebrandmarkt worden war, sahen die neuen Machthaber und Girnus in Barlachs Plastiken den volksfremden »Formalismus« exemplarisch realisiert.

Selbstverständlich machte die Schließung der Berliner Barlach-Ausstellung ein vieldiskutiertes Thema in der Barlach-Stadt Güstrow aus. Uberdies dachte, was Barlach anging, der Güstrower Uwe Johnson wohl immer schon eigen. Bereits der Schüler besaß eine enge Beziehung zu Barlachs Vertrautem »Lütten Schult«, der als Zeichenlehrer an der John-Brinckman-Schule unterrichtete und dessen Sohn Friedrich-Ernst Schult Johnson später das wesentliche Ambiente für den Beruf des Heinrich Cresspahl in den Jahrestagen liefern wird. Und nicht nur den schwebenden Engel im Dom hat Johnson bewundert. Er ließ auch seine Gesine mit dem Barlachschen Fries der Lauschenden im Gepäck nach Düsseldorf umziehen.

Vor allem aber erscheint Ernst Barlach untrennbar mit jener Landschaft verbunden, die auch Uwe Johnson geprägt hat. Der Güstrower Heidberg, an seinem Fuß liegt Barlachs Atelierhaus, stellt den Heiligen Berg von Johnsons norddeutschem Yoknapatawpha-County dar. Den Blick vom Heidberg als den Wunsch Gesines für die Stunde des Sterbens hat der Autor Johnson später in den Jahrestagen festgehalten. Am Beispiel des Heidbergs lernte Uwe Johnson nichts Geringeres als die »Unentbehrlichkeit der Landschaft«. Nach den »Wellen der Mecklenburgischen Landschaft« hatte Barlach einst seine Plastik eines Liegenden entworfen. Heinrich Cresspahl im Werk des Uwe Johnson aber erscheint entworfen nach der Plastik eines Spaziergängers, den Barlach gegen Mecklenburgs Wind anschreiten ließ. Ernst Barlach und seine Plastiken: Für Uwe Johnson waren sie aufs engste verbunden mit seiner Heimatlandschaft; sie waren ihm eins mit jener einmalig-unwiederholbaren Formation aus Wald, Hügeln und Wasser, »in der Kinder aufwachsen und das Leben erlernen«, wie Gesine sagen wird (Jahrestage, S. 1822). Größere Nähe erscheint kaum vorstellbar. Jedenfalls nicht im Fall des Güstrowers Uwe Johnson, der dann auch seine Examensarbeit bei Hans Mayer über Ernst Barlachs Gestohlenen Mond schreiben wird.

Durch seine Nähe zu Barlach gehörte Uwe Johnson folglich zu den Betroffenen in jenen Debatten um den »Formalismus«, wie sie seit 1951 geführt wurden in der DDR. Unter dem Druck des zu bestehenden Abiturs identifizierte sich der Oberschüler mit den aggressiven ideologischen Forderungen der Schule. Zum letzten Mal in Johnsons Leben wiederholte sich ein emotionales Muster, das seine Präfiguration bereits auf der »Heimschule« erfahren hatte. Wie die »Quexe« gegen den lesenden Johnson, so gingen die Ideologen des Antiformalismus-Kampfes gegen den Barlach-Verehrer Johnson vor. Deren orthodoxer Wortführer Wilhelm Girnus stellt dann auch folgerichtig jene Person dar, die Johnson in der Rückerinnerung der Begleitumstände mit größtem direktem Ingrimm und nahezu haßerfüllter Erbitterung bedenkt. In ihm sah er nichts anderes als den ideologischen Jugendverderber seiner Abiturstage. Wilhelm Girnus stand selbstverständlich, nicht nur in der Barlach-Frage, auch gegen Bertolt Brecht, wie vor ihm bereits Georg Lukács. Auch hierin wurde ein »Erbe« bewahrt.

Am 4. Januar 1952 hatte Wilhelm Girnus nachfolgenden Artikel veröffentlicht, und man kann davon ausgehen, daß diese Ausführungen Stoff für den Deutsch- und Gegenwartskunde-Unterricht in Güstrow abgaben:

Die Akademie der Künste zeigt gegenwärtig Werke des Plastikers und Zeichners Ernst Barlach, der 1938 in Mecklenburg verstorben ist. Die Akademie hat sich offensichtlich von dem Bestreben leiten lassen, der deutschen Öffentlichkeit das Werk eines Künstlers vorzuführen, von dem sie glaubte, daß in ihm das Streben zur Verbindung mit dem Volke, besonders mit der Bauernschaft lebe. Unzweifelhaft ist in ihm ein echtes Bedürfnis des Mitleidens mit dem leidenden Volk, den Beleidigten, Verfolgten, Unterdrückten, Ausgestoßenen vorhanden. Den Nazis, die im Deutschen den Herrendünkel, den Rassenwahn züchten wollten, mißfiel Barlach, weil er nicht die »blonde Bestie« verherrlichte. Aber die neuerliche Betrachtung seines Werkes zeigt doch so deutlich wie noch nie, daß Barlach ein auf verlorenem Posten stehender, in seinem Grundzug rückwärts gewandter Künstler war. Barlach hatte keine Vorstellung, wie das menschliche Leid überwunden werden kann, und daher ist er nicht in die Tiefe der Seele des unterdrückten Menschen gedrungen. Seine Geschöpfe sind eine graue, passive, verzweifelte, in tierischer Dumpfheit dahinvegetierende Masse, in denen auch nicht der Funke eines starken, lebendigen Gefühls des Widerstandes zu spüren ist. Mit Vorliebe sucht Barlach seine Typen in Bettlern, Vagabunden, Landstreichern, jenen passiven Schichten des Lumpenproletariats, die ohne jede Hoffnung leben.

Charakteristisch bezeugen Girnus’ Ausführungen den stalinistischen Geist in der Kunstdebatte jener Jahre. Der Künstler Barlach ließ allen Optimismus vermissen und war folglich untragbar für die glorreiche Neue Zeit. Ihm fehlte das Positive, Konstruktive.

Uwe Johnson hat im Abschlußband der Jahrestage direkt auf die zitierte Girnus-Passage Bezug genommen. Das geschah mit zahlreichen wörtlichen Übernahmen und einem Verweis auf Stalin, so daß der Leser meinen kann, der Woschd selbst spräche, wo in Wahrheit lediglich Wilhelm Girnus zitierend zum Sprechen gebracht wird:

Die S.E.D. hatte ihren Sachbearbeiter für Kunst entsandt in die Akademie, einen Girnus, wohlbewandert in den volksfeindlichen Praktiken des Formalismus, der wollte dem Verstorbenen wenigstens zugute halten, daß die Nazis ihn behandelt hatten als ihrer Art fremd. Aber Barlach habe auf verlorenem Posten gestanden, ein im Grundzug rückwärts gewandter Künstler sei er gewesen. Unberührt vom Hauch der russischen Revolution von 1906. Bekleidete eine Welt der »Barfüßler« mit einem Glorienschein. Was hingegen hat Stalin in seinem Werk »Anarchismus oder Sozialismus« über diese Welt der »Barfüßler« gesagt? Er hat erwidert: Richtig ist, daß ... Barlachs Orientierung auf eine verfaulende Gesellschaftsschicht hat ihm den Zugang zu dem großen progressiven Strom des deutschen Volkes verschlossen. Von ihm sich isoliert. Das das ganze Geheimnis seiner selbstgewählten Vereinsamung. (Jahrestage, S. 181)

Die paraphrasierende Genauigkeit der Wiedergabe zeigt, wie sehr hier einem das Gedächtnis geschärft war durch große Verletzung. Denn nichts deutet daraufhin, daß Uwe Johnson den Girnus-Artikel aufbewahrt hätte.

Was der Abiturient wohl nicht kannte, war die von Brechts Autorität getragene Gegenposition, wenngleich deren Argumente zugunsten Ernst Barlachs, mit erheblicher Verzögerung freilich, 1952 in Sinn und Form (4. Jg., Heft 1) veröffentlicht worden waren:

Ich halte Barlach für einen der größten Bildhauer, die wir Deutschen gehabt haben. Der Wurf, die Bedeutung der Aussage, das handwerkliche Ingenium, Schönheit ohne Beschönigung, Größe ohne Gerecktheit, Harmonie ohne Glätte, Lebenskraft ohne Brutalität machen Barlachs Plastiken zu Meisterwerken. [...] Auch einige seiner schönsten Werke erwecken den traurigen Gedanken an die deutsche Misere, die unsere Künste so geschädigt hat. (ebd., S. 182 ff.)

Nicht zuletzt die Tatsache, daß Güstrower Schüler in den Jahren 1951 und 1952 an Material wie dem zitierten für ihr Abitur haben lernen müssen, wurde Uwe Johnson zum Schreibantrieb für die uns bekannte, deutlich politisierte Fassung der Babendererde. Und nicht nur hierfür: Da der Erstling zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde, wird er im Abschlußband der Jahrestage die Schulgeschichte noch einmal neu und anders schreiben. Sie wird dann vollends zeigen, daß in der Güstrower Abiturs-Realität von 1952 es paradoxerweise jene leichter hatten, die zuvor schon von den Nazis indoktriniert worden waren.

DER ABITURAUFSATZ: VON LENIN ÜBER SHDANOW UND

LUKÁCS BIS ZU WALTER ULBRICHT

Folgende deutschlandpolitische Situation stellte den Hintergrund für Johnsons Abituraufsatz: Im März 1952 waren die sowjetischen Vorschläge zu Friedensverhandlungen für ein wiedervereinigtes Deutschland von den Westmächten zurückgewiesen worden. Der Abiturient Johnson verfolgte den Fortschritt bzw. Nicht-Fortschritt dieser Verhandlungen. Las, wie er in den Begleitumständen berichten wird, fiebrig Zeitung. Die Bundesrepublik hatte im gleichen Monat Mai (der also auch deutschlandpolitisch ein heißer war) den Deutschlandvertrag abgeschlossen, mithin ihren Beitritt zur Nato erklärt. Was bedeutete, daß die SED nun ihrerseits die eigenständige Entwicklung der DDR im Sinne eines eigenständigen sozialistischen Staates forcierte. Johnsons Reifeprüfung fiel zudem in die Vorbereitungsphase zur 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952. Dort wurde die neue Politik in Richtlinien gefaßt und der planmäßige Aufbau des Sozialismus mitsamt der Kollektivierung der Landwirtschaft und des verstärkten Ausbaus der Schwerindustrie beschlossen. Ferner auch der »verschärfte Klassenkampf« gegen die Kirchen und ihre Organisationen. Als weitere Gegner wurden der bürgerliche Mittelstand und dessen Intellektuelle namhaft gemacht. Schulen und Hochschulen beanspruchte die Staatspartei jetzt verstärkt als die Gelenkstellen der von ihr gewünschten Ideologievermittlung. Dabei kam selbstverständlich der FDJ eine zentrale Rolle zu. Bis 1953 sollten alle diese Beschlüsse verwirklicht sein. Der Student Johnson wird ihnen in Rostock erneut begegnen.

Im Mai 1952 schrieb Uwe Johnson seinen Abituraufsatz, und möglicherweise siedelt der Reifeprüfungsroman Ingrid Babendererde das Abitur in memoriam realitatis just in der Woche zwischen dem 26. und dem 30. Mai an. Die Themenstellung zielte aufs Eigentliche und lautete: Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß sie in ihrem Fühlen, Denken und Wollen verbinden und emporheben. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln (Lenin). Unverblümt verpflichtete das Lenin-Motto zu einer Stellungnahme gegen den »Formalismus« und »Kosmopolitismus« in der Kunst. Darüber hinaus sollte der Aufsatz sich auf die aktuelle kulturpolitische und überhaupt politische Lage der DDR beziehen. Der Abiturient Johnson fertigte, wie es sich gehört, dazu eine »Disposition«, gewidmet der »Lage der Kunst in der DDR«. Die »Ausführung« dann griff das vorgegebene Lenin-Zitat auf, indem sie es durch Absätze unterteilte in die Aspekte 1. Volkstümlichkeit, 2. Notwendigkeit positiver Perspektive und 3. gewünschte Erweckung schöpferischer Fähigkeiten bei den Massen. Als »Schluß« fragte der Schüler rhetorisch: »Welche Aufgaben ergeben sich aus diesen Forderungen für unseren Kampf um eine realistische deutsche Kunst?« Um dann die geforderte Parteilichkeit unter Beweis zu stellen. Diese erschien ihrerseits sorgfältig gegliedert: »Erstens«, »Zweitens«, »Drittens« und »Viertens«. Auf die Analyse der Wirklichkeit habe die Aneignung des »Erbes« zu folgen. Darauf das Studium der »Volkskunst« und dann, viertens und apotheotisch abschließend, das Studium der Kunst in der »sozialistischen Sowjetunion [...], die es in vorbildlichem Maße versteht, die Menschen für den Aufbau und Schutz ihrer Heimat zu begeistern«.

Johnsons Aufsatz war gleichsam als ein doppelter angelegt. Er enthält eine Anzahl von Klammern, die ihrerseits, je nachdem, ob man ihren Inhalt nun mitliest oder nicht, zwei verschiedene Textfassungen ergeben. Beide Versionen erweisen sich dabei in syntaktischer sowohl wie in grammatikalischer Hinsicht als vollständig und »richtig«. Wie der fast 18jährige diese beiden Texte ineinander gearbeitet hat, zeigt seine Sprachbeherrschung. Ein Beispiel:

Jede dieser beiden Richtungen behauptet, (die) schöpferisch(e) zu sein. Kann eine Kunst, die (eine Kraft der) Kriegshetze und (der) Unterdrückung freien Menschentums unterstützt, auch nur im mindesten Anspruch darauf erheben, schöpferisch zu sein?

Schülerhaft scheint daran allenfalls noch, daß diese Sprachbeherrschung auf solche Weise demonstriert werden sollte – zumal beide Textversionen in ihrer Aussage kongruent sind.

Der Abiturient Johnson berief sich nicht ausschließlich auf Lenin. Sondern weiterhin auch auf Stalins Hauptfachmann in aestheticis, Alexej Shdanow, den Erfinder jenes goldenen Wortes, dem zufolge man im Dichter einen »Ingenieur der menschlichen Seele« zu erblicken habe. Shdanows Schrift »Über Kunst und Wissenschaft« war gerade 1951 in einer Massenauflage erschienen. Der Band enthielt zwar alte Texte, entstanden bereits zwischen 1934 und 1948, gleichwohl markierte sein Erscheinen die Übernahme der stalinistischen Kunstbetrachtung durch die Führung der DDR. Weiterhin lag seit demselben Jahr die Sammlung von Äußerungen zu Kunst und Literatur von Marx und Engels (in der Babendererde wird die DDR in karikierender Anlehnung an die Physiognomie dieser beiden das »Land der Bärtigen« geheißen) im Aufbau-Verlag vor. Johnsons einleitende Anrufung des Alexej Shdanow glich einer quasireligiösen Eröffnung. Er stellte seinen Tribut an die große Sowjetunion dar, die den Faschismus besiegt hatte, war aber keineswegs nur als Taktik eines Schülers zu verstehen, der das Abitur gut bestehen wollte. Der vormalige »Jungmann« Uwe Johnson kannte Shdanows Kunstkonzept in dessen Mischung aus »Volkstümlichkeit« und Widerstand gegen den »kosmopolitischen Formalismus« ja eigentlich bereits, stimmte es doch wesentlich mit dem überein, was er einst in der »Heimschule« gelernt hatte.

Der Abituraufsatzschreiber wandte sich in seiner »Einleitung« dann dem zu, was er die DDR-deutsche »realistische Kunst als Teil des Überbaus« nannte. Dabei fallen die Namen Becher, Brecht, Seghers, Willi Bredel und Friedrich Wolf, wobei die Reihung nicht alphabetisch gehalten ist, was wiederum auf eine Rangfolge in der damaligen Wertschätzung dieser Künstler durch den Schreibenden selbst hindeuten mag. Daneben verweist die Auswahl dieser Namen (und vor allem auch die Nennung von Stephan Hermlins Manfelder Oratorium) darauf, daß im Unterricht der Text der Zentralkomitee-Entschließung zum »Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur« eine Rolle gespielt haben muß. Auch am Zustandekommen dieses vom Zentralkomitee am 17. März 1951 verabschiedeten Dokumentes hatte Girnus »verdienstvoll« mitgewirkt. Es lautete:

Kulturelle Erfolge in der Deutschen Demokratischen Republik.

Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands stellt fest, daß in der Deutschen Demokratischen Republik auch auf dem Gebiet der Kunst und Literatur Leistungen erzielt wurden, auf die alle fortschrittlichen Deutschen mit Recht stolz sind. Dazu gehören die Werke der Schriftsteller und Dichter Arnold Zweig, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Bernhard Kellermann, Friedrich Wolf und Willi Bredel, Erich Weinert, Hans Marchwitza, Bodo Uhse, Stephan Hermlin, Kurt Bartel (Kuba), Alfred Kantorowicz, die während der Emigration oder nach 1945 geschrieben und in den letzten Jahren veröffentlicht wurden. Diese Werke haben an der Bewußtseinsänderung des deutschen Volkes einen bedeutenden Anteil. [...] Mit dem Mansfelder Oratorium haben seine Schöpfer ein Werk geschaffen, das einen besonderen Platz im kulturellen Leben in der Deutschen Demokratischen Republik einnimmt.

Auch das hatten die Schüler also lernen müssen. Daher rühren die von Johnson genannten Namen. Weiterhin hatten Johnson wie seine Mitabiturienten gelernt, daß man sich für den Kampf gegen den »Formalismus« am besten jenes kanonisierten Engels-Ausspruches bediente, der lautete: »Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen.« (Engels an Margaret Harkness, April 1888) Bei Engels schien andererseits aber nicht angelegt, was die faschistische und die »marxistische« Kunstanschauung in der Argumentation zusammenführte: der Vorwurf nämlich, daß der »kosmopolitische Formalismus« »zersetzend« wirke. Der Ausdruck »zersetzen« findet sich in einem ZK-Beschluß (»Der Formalismus bedeutet Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst«) ebenso wie in Johnsons Aufsatz. Letzterer schreibt vom »Kampf zwischen der zersetzenden, antinationalen Kunst des Imperialismus und der [...] Kunst des Fortschritts«. Mit der durchaus systematischen Zusammenkopplung von Kosmopolitismus und Formalismus aber befand man sich nicht weit vom Vorwurf entfernt, daß es eine jüdische Internationale sei, die alle nationale, völkische bzw. volksverbundene Kunst zersetze. Im Rückblick der Begleitumstände hat Johnson, mit Erbitterung wiederum, an die antisemitischen Untertöne dieser Kampagne erinnert. Im Abituraufsatz lesen wir:

Wenn wir uns diese unsere Ziele vor Augen führen und sie gründlich durchdenken, dann erst erkennen wir die ungeheure Bedeutung des Kampfes gegen Formalismus und Kosmopolitismus, diese beiden reaktionärsten und volksfeindlichsten Strömungen im Kulturleben des Westens. Diese Kunst ist ein Instrument der imperialistischen und kriegshetzerischen Bestrebungen der Feinde der Menschheit. Der Formalismus verzerrt durch Überbetonung formaler Dinge die seit jeher gültigen Gesetze der Ästhetik. Er verwirrt die Menschen, vernichtet ihr gesundes Empfinden und hat das Ziel, sie unter den Einfluß des amerikanischen Imperialismus zu bringen. Der Kosmopolitismus, das »Weltbürgertum« soll den Begriff der Nation vernichten und damit die nationale Eigenart der Völker unterdrücken. Die USA-Imperialisten hoffen sich eines nicht in Nationen gegliederten Europa leichter bemächtigen zu können. [...] Der selbstverständliche Ton des Satzes »Die Kunst gehört dem Volke« ist durchaus begründet. Hier wird etwas Richtiges und von jeher Natürliches ausgesprochen und in das wahre und richtige Licht gestellt. Gerade aus der Tiefe des Volkes entstanden in der deutschen Vergangenheit die schönsten und reinsten Werke deutschen Wesens und Volkstums.

Der vormalige »Jungmann« und seine Lehrer hatten in ihrer »Neuen Schule« nicht viel Neues lernen müssen. Im Zeichen des Antimodernismus und des National-»Volksverbundenen« erscheinen die beiden Totalitarismen einander zum Verwechseln ähnlich – gerade in ihrem Nachdenken über die Kunst. Und dennoch versprach der sich etablierende Sozialismus, die Verbrechen der Nazis wiedergutzumachen. Beides in seinem widersprüchlichen Miteinander erleichterte für so manchen Überbauarbeiter den Übergang.

Der Abiturient Johnson fuhr sehr nah am Originalton eines Kulturschutzbundobmannes fort:

Ob wir hier noch die widerlichen Auswüchse des Jazz, die entwürdigenden Auswirkungen der Schmutzliteratur oder anderes erwähnen –: Es ist eine der vordringlichsten Pflichten aller deutschen Kulturschaffenden und kulturbewußten Deutschen, für die Reinhaltung und Natürlichkeit unserer deutschen Kunst zu kämpfen, damit sie »von den Massen verstanden und geliebt« wird.

Was, im Fall des Jazz, beim Abiturienten Johnson tatsächlich noch eigener Überzeugung, was bereits bloßer Taktik entsprang, ist heute nur sehr schwer unterscheidbar. Um so weniger, als der Schüler gleich nach bestandenem Abitur in seinen Gedichten den Jazz frenetisch feiern wird. Gegen den Jazz stand, jedenfalls im Frühjahr 1952, das Gemeinschaftslied. Für dieses schwärmte Uwe Johnson, der Abiturient:

Es gibt so eine Art geniale Überheblichkeit, die ein schönes Volkslied mit der verächtlichen Bezeichnung »momentane geniale Improvisation« abtut. Hieraus entwickelt sich dann die (absolut) exklusive Schicht der Kulturschaffenden, die individualistischen und, da die Verbindung zum Volk fehlt, idealistischen Bestrebungen und Zügen freien Lauf läßt. Jede Tendenz dieser Art müssen wir entschieden bekämpfen. Gerade im Volk liegen die kräftigsten und schöpferischsten Impulse, die es für die Entwicklung unserer Kunst auszunutzen gilt. Darum müssen wir die Bewegung der Laienkunst stärken, damit der Zusammenhang, die Verbindung der Kunst mit dem Leben des Volkes gewahrt und gefestigt wird.

Dank eines glücklichen Fundes läßt sich die unmittelbare Quelle der Themenstellung für den Abituraufsatz benennen. Es war kein Geringerer als der »kalte Walter«, so Wolf Biermann, selbst. Der themenstellende Lehrer hatte die Ausführungen des Staatschefs Walter Ulbricht dem Neuen Deutschland vom 31. Oktober und 1. November 1951 direkt entnommen. Aus Ulbricht sprach der Kleinbürger, der sich als Revolutionär verstand. Der wandte sich wie selbstverständlich gegen jede – so wörtlich: »entartete« Kunst. Walter Ulbricht auch war es gewesen, der auf dem Formalismus-Plenum des Zentralkomitees, als Otto Nagel attackierte Malerkollegen verteidigte, arglos und mit augenzwinkernder List gefragt hatte: »Gab es nicht auch vor Hitler Entartete?«

Ulbricht forderte, sich auf Lenin berufend, ein volksverbunden-realistisches »Gestalten«. Das sollte das Leben schöner machen und »die Helden unseres Volkes so realistisch (darstellen), daß sie jeder Jugendliche als sein Vorbild betrachtet«. Der Jugendliche Uwe Johnson singularisierte in seinem Abituraufsatz dann die Helden des Volkes zum »Mechaniker Schulz von der Warnow-Werft«. Man sieht: Die Lehrerschaft war bei den Abiturvorbereitungen kein Risiko eingegangen. Die Schüler hatten die Ansichten des Staatschefs geradezu auswendig lernen müssen. Hatte der spitzbärtige Staatschef gemeint:

Wir brauchen weder die Bilder von Mondlandschaften noch von faulen Fischen und ähnliches,

so traf der Abiturient den gewünschten Tonfall genau, wenn er seinerseits formulierte:

Es entstehen dort Bilder von Mondlandschaften und faulen Fischen, jedoch keine, die den Aufbau und den Friedenskampf der DDR zum Gegenstand haben.

Hier scheint sich ein Paradefall des kleinbürgerlichen Kommunismus in Sachen der modernen Kunst zu artikulieren. Noch Ernst oder schon Ironie? Wie hat er ausgeführt, wissend, was seine Lehrer lesen wollten?

Die Kunst hat doch als höchsten Zweck die Aufgabe, den Menschen Freude und neue Kraft zu schenken. Hierzu steht in aufreizendem Gegensatz die Tatsache, daß wir oft in Gemäldeausstellungen vor einem Bild stehen und es für eine Darstellung besonders merkwürdig geformter Kartoffeln halten; nachher hieß das Bild dann »Interpretation des Nietzscheschen Übermenschen«. Interessant ist in diesem Zusammenhang der widerliche Zynismus Westberliner Zeitungen, die den Vorschlag machen, die von Dissonanzen und Atonalität strotzenden Werke Strawinskys dem Publikum doch zehnmal vorzuführen, dann werde es sich schon daran gewöhnen.

Anzeichen ironisierenden Umschreibens offizieller Forderungen, wie sie sich wenig später in den Rostocker Klausuren finden werden, fehlen hier noch zur Gänze. Des weiteren wird Uwe Johnsons damals noch gewünschte Verbundenheit mit der Gemeinschaft seine Einstellung bestimmt haben. Walter Ulbricht lobte gleichfalls die »Laienkunst« und das ihr entspringende Lied. Der Abiturient immerhin, dem der Chor unter Kurt Hoppenrath – wie erwähnt – als die einzige wahre Gemeinschaft an der John-Brinckman-Schule erschien, korrigierte hierin seinen Staatschef, nannte das »Chor- und Volkslied« anstelle des »Massenliedes«.

Am 3. Juni 1952 erhielt der Abiturient Uwe Johnson sein Zeugnis: »Uwe Johnson hat sehr gute Leistungen in Deutsch« erbracht. Bis fast zur Unleserlichkeit durchgestrichen wurde irgendwann später ein anderer Passus dieser Beurteilung, der dem Schulabgänger bescheinigt: Er »überragt die Leistungen der übrigen Schüler«. Der als ein Primus begonnen hatte, schloß seine Schule als ein solcher ab.

Uwe Johnson

Подняться наверх