Читать книгу Joseph Roth - Letzter Donauwalzer - Bernd Oei - Страница 13

2. 6. Die Legende vom heiligen Trinker

Оглавление

2. 6. 1. Entstehung und Inhalt

Die letzte Geschichte, die Roth testamentarisch hinterlässt, erscheint im Amsterdamer Verlag Allert de Lange 1939 posthum Paris bietet Topographie für Teilhandlungen vieler Romane Roths, darunter Napoleon und die Hundert Tage, Flucht ohne Ende oder Beichte eines Mörders, zuletzt bietet es die Kulisse die Legende des heiligen Trinkers. Zudem hat er seit 1925 als Auslandskorrespondent auf eigenen Wunsch in der Stadt an der Seine gearbeitet und die letzten glücklichen Tage an der Seite seiner Frau vor Ausbruch ihrer Schizophrenie verlebt. Der prosaische Beginn ist typisch, weil symbolisch und mit Zeit- und Ortsangabe verbunden: „An einem Frühlingsabend des Jahres 1934 stieg ein Herr gesetzten Alters die steinernen Stufen hinunter, die von einer der Brücken über die Seine zu deren Ufern führen.“73

Das Gesicht seiner Zeit zeichnend, erzeugt Roth auch sein eigenes, das eines unrettbaren Säufers. Zum zweiten Mal nach Die Rebellion heißt der Protagonist Andreas; er ist jedoch als Alter Ego ein resignierter Trinker, der dennoch ein Mann von Ehre sein will. Als ihm ein Fremder, in dem man das Gott erkennt, Geld leiht, will er dieses zurückerstatten, was misslingen muss, weil er trinkt und sein Leben von Zufällen gesteuert wird.

Während Roth nach seinem Kollaps in das Armenspital Necker eingeliefert wird, wo er nach vier Tagen an einer Lungenentzündung bei progressiver Leberzirrhose qualvoll stirbt, erfährt Andreas in der Kirche ein sanftes Ableben: „Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!“

Über fünfzehn Kapitel erzählt Roth die Geschichte eines liebenswerten Alkoholikers, der um eine geprügelte Frau zu schützen, getötet und seine Schuld nie überwunden hat. Auch dieses Detail erinnert an den Autor selbst, der wesentliche Züge biografisch in seine Legende einschreibt, darunter die Herkunft Aus Osteuropa. Dass er sich schuldig an der Ohnmacht gegenüber der kranken Frau gefühlt und für seine rasende Eifersucht schämt, dokumentiert seine Selbstaussage lautet: „Ehe ich zu leben angefangen hatte, stand mir die ganze Welt offen. Aber als ich zu leben anfing, war die offene Welt verwüstet. Ich selbst vernichtete sie mit Altersgenossen.“74

Im ersten Kapitel erhält der verwahrloste Andreas Kartak unter einer Brücke Geld aus der Hand eines Fremden, mit dem Hinweis, er möge es sonntags der heiligen Theresia in der Kirche Sainte Marie des Batignolles zurückgeben. Der Ort bezeichnet ein Stadtviertel, das zu Roths Zeiten vorwiegend Künstlern vorbehalten und, vergleichbar mit Montmartre heute, äußerst populär ist. In der Kirche gedenkt man den von der heiligen Theresia gelehrte kleinen Weg: die Armut des Menschen, der vor Gott mit leeren Händen steht zu erkennen, der sich von ihm alles schenken lassen muss. Darum soll jeder seinem Nächsten gegenüber milde und freigiebig auftreten. Nach seiner Konvertierung zum Katholizismus, den Roth 1934 als symbolisches Bekenntnis zur Donaumonarchie versteht, trägt er selbst ein Medaillon der Theresia mit sich.

Im zweiten Kapitel steigt Andreas die Treppen hinauf; er hat durch dieses Wunder, die Geldgabe des Fremden, eine zweite Chance erhalten. Wenig später (3) steigt eine Verkäuferin die Leiter hinauf, um ihm eine günstige Brieftasche aus dem Regal zu holen, die Andreas sich erbittet, um das geliehene Geld dort sorgfältig zu verwahren. Der erste Wendepunkt erfolgt prompt.

Am Sonntag, auf dem Weg zur Kirche, holt ihn die Vergangenheit in Gestalt von Karolina ein, seiner einstigen Freundin, für die er getötet hat. Er verpasst den Kirchengang und verbringt den Tag und die folgende Nacht mit ihr. Am nächsten Morgen geht der Emigrant aus Olschowice, dem polnischen Schlesien, in ein Lokal und trinkt aus Kummer über sein Versäumnis (5).

Er träumt von der heiligen Therese, die traurig darüber ist, dass er nicht zu ihr gekommen ist (6) und findet auf wundersame Weise in der Brieftasche tausend Francs, ein Vielfaches von dem Betrag, den er zurückerstatten muss.

Als er in einem Lokal davon zwanzig vertrinkt, erkennt er auf dem Plakat eines Fußballspielers seinen einstigen Klassenkameraden wieder (7). Er spürt den Prominenten auf, der sich über das Wiedersehen ebenso freut wie er und ihm nebst Anzug ein gemietetes Zimmer als Geschenk überlässt (8). Die Männer tauschen Erinnerungen aus (9); als Andreas nach langer Zeit badet erscheint es wie eine Neugeburt oder Taufe.

Die Versuchung begegnet ihm bereits auf dem Gang in Gestalt seiner neuen Zimmernachbarin Gaby, einer Tänzerin(10). Er verbringt die Nacht mit ihr (11) und den anschließenden Tag auf Schloss Fontainebleau (Napoleon nahm hier 1814 seinen endgültigen Abschied) mit ihr: seine Schwierigkeit, sich tiefer auf einen Menschen einzulassen, wird offensichtlich.

Am Sonntag geht Andreas geht erneut zur Kirche, um seine Schuld zu begleichen (12). Er trifft jedoch wieder auf einen alten Bekannten, der ihn um Geld bittet, das er erhält. Ein zweites Mal ist die Chance vertan (13). Noch einmal trifft er auf den Fremden, der ihn noch einmal Geld für Theresia anvertraut. Andreas flüchtet in die Bar Taro-Bari, Schauplatz in Beichte eines Mörders Schauplatz und bleibt dort eine ganze Woche bis zum Sonntag (14). Er trifft auf ein unscheinbares Mädchen namens Therese, die er prompt für die Heilige hält und ihr das ihm anvertraute Geld gibt. Die junge Frau will seine Gabe nicht annehmen; stattdessen sie dem Verwahrlosten stattdessen selbst hundert Francs. Unmittelbar darauf stirbt Andreas (15).

2. 6. 2. Vorsehung, Schicksal, Zufall

Die Legende als Gleichnis oder Parabel zu betrachten liegt nahe. Eine Lesart bietet die, vom Autoren angebotene, das Leben aus der Vorsehung heraus zu betrachten: „Nun wollte es die Vorsehung – oder wie weniger gläubige Menschen sagen würden: der Zufall –, daß Andreas wieder einmal knapp nach der Zehn-Uhr-Messe ankam. Und es war selbstverständlich, daß er in der Nähe der Kirche das Bistro erblickte, in dem er zuletzt getrunken hatte, und dort trat er auch wieder ein.“75

Der Sinnspruch der Gruppe Anonyme Alkoholiker lautet: Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Für den Philosophen Odo Marquard in Apologie des Zufälligen (1986), der den Abschied vom Prinzip fordert, sind Menschen „mehr unsere Zufälle als unsere Wahl". Im Konflikt zwischen Optimismus der Veränderbarkeit und Pessimismus der Schicksal-Hörigkeit hält er für angebracht, die Balance zu halten und nicht in ein mögliches, doch fiktives, Krisenszenario einzustimmen. „Unsere Nichtkrise ist die eigentliche Krise unseres Denkens.“ Als Skeptiker plädiert er für den Abschied vom Dogma, da sich vermeintliche Wahrheiten als immer kurzlebiger erweisen. Für Marquard verhindert die Krise der Erwartung die Begegnung mit dem wirklichen Sein und seinen Möglichkeiten der Veränderung. In seiner Betrachtung liegt viel Denken Roths.

Dessen Lebenserkenntnis besteht darin, dass Menschen ratlos geworden sind; sie wissen nicht mehr, wie Zusammenleben funktioniert. Zudem gehen sie in ihrer Naivität fahrlässig mit Chancen um. Invertiert darf auch geschlussfolgert werden: gute Absichten allein genügen nicht, sie verhindern Rettung.

Drei Frauen begegnet Andreas und mit keiner weiß er mehr anzufangen als mit ihr zu schlafen oder wie bei der Verkäuferin davon zu träumen.

Ernst Bloch beobachtet in der Ethik die Kraft des Möglichen durch immerwährenden Versuch. Seine, verkürzt das Prinzip Hoffnung genannte Maxime lautet: „Die latente Tendenz zur Verwirklichung von Utopien steckt in den Dingen selbst, die Menschen müssen sie nur entdecken.“76 Menschen verlieren nach dem Krieg das Vorstellungsvermögen, etwas könnte veränderbar sein.

Dreimal versucht Andreas, sein Schicksal zu wenden und lässt sich dreimal von vermeintlichen Zufällen ablenken, zielgerichtet zu handeln. Er hat gewiss gute Absichten, wie jeder Alkoholiker, der schwört, nie wieder zu trinken und der an der Willensfrage scheitert. Eine Form von psychischem Determinismus liegt darin und führt zur Legende des guten Vorsatzes.

Gott scheint mit Andreas zu spielen. Das verlorene Geld vermehrt sich auf wundersame Weise immer wieder; es kehrt zu ihm wie Hoffnung oder Schicksal, das erhört und gelebt sein will, zurück. Im Zeitalter der Opulenz, steht er vor einem permanenten Dilemma, sich ändern zu können und es nicht zu vermögen, weil das Jasagern mit der verinnerlichten Legationsrat kollidiert.

Der Zufall – für Roth Fügung – hält mehrfach Einzug, doch unterscheidet Roth Begegnungen, die aus dem Verhalten resultieren und daher einem sozialen Magnetismus unterstehen von unbeeinflussbaren Ereignissen. „Es schien ihm, daß sein Freund verlorengegangen war im Regen, genauso, wie er ihn zufällig getroffen hatte, und da er kein Geld mehr in der Tasche besaß, ausgenommen fünfunddreißig Francs, und verwöhnt vom Schicksal, wie er sich glaubte, und der Wunder sicher, die ihm gewiss noch geschehen würden, beschloss er, wie alle Armen und des Trunks Gewohnten es tun, sich wieder dem Gott anzuvertrauen, dem einzigen, an den er glaubte.“

Die naturalistische Ethik - Ludwig Feuerbachs Religionsphilosophie - gründet auf der Überzeugung, dass erst in der Moral wahr oder falsch unterschieden wird und sie objektive Erkenntnisse vermittelt. Der Pragmatiker orientiert sich auf die Übereinstimmung von Erfolg und Handlung nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Tatsächlich weicht Andreas negativen Erfahrungen und Orten aus und sucht im übertragenen Sinn seinem Milieu zu entkommen. Doch die Übertragung von einer Situation oder einer Person auf eine andere gelingt ihm nicht, weil die Sucht es nicht zulässt. Andreas folgt einem Muster und gleicht einem Gefangenen in Freiheit.

Der Not-Naturalismus, vertreten von Albert Schweitzer, geht davon aus, dass spirituelle Wahrheiten nicht auf den Alltag übertragbar sind, ebenso wenig wie die Naturgesetze für Gott oder die Metaphysik gelten. Die Moral erfolgt intuitiv und nun – kognitive, sie kann nicht gelehrt, sondern muss erfühlt und erfahren werden. Anteile dieser Gesinnung, die eine reine Verantwortungsethik beinhaltet, finden sich in der Erzählung auch. Andreas ist ehrlich, er sucht in keiner Situation den eigenen Profit, was ihn zu einer Art „armen Verschwender“ macht, um einen Romantitel von Ernst Weiß aufzugreifen.

Es gilt, den Zufall der Gelegenheit von jenem der Bestimmung zu unterscheiden. Anfänglich heißt es über Andreas: „Und er lebte von Zufällen, wie viele Trinker.“ Zuletzt lebt von dem Geld, das ihm in Taro Bari zu-fällt. Mit dem geliehenen Geld verändert er sich; er hat Angst, es zu verlieren und beginnt zu rechnen. Das Geliehene ist folglich etwas anderes als das Erarbeitete oder das Geschenkte; es besitzt eine höhere Weihe. Schon seine Begegnung mit der Vergangenheit in Gestalt von Karoline ist es kein banaler oder beliebiger Zufall, der ihn von seiner Vorhabe abhält.

Andreas begleicht, symbolisiert durch das gemeinsame Abendmahl, eine alte Rechnung und will quitt mit dem Vermächtnis der Zeit sein. Andreas setzt hier ausdrücklich die Begriffe zufällig und schicksalshaft gleich Anders ist die Begegnung mit der Tänzerin Gaby, weil sie ohne Vergangenheit „nur zufällig zueinander gestoßen sind. Die Nacht breitete sich vor ihnen aus wie eine allzu lichte Wüste.“

So erscheint vordergründig alles zufällig wie in Beichte eines Mörders oder Das falsche Gewicht.77 Ebenso beiläufig findet das Topos des Fremdseins durch Andreas´ Einreise als polnischer Kohlenarbeiter Erwähnung. Das Schwinden vertrauter Welten und Improvisationskunst wirken als latenter Sündenfall.

Ein Topos, das auch in anderen Prosawerken Verwendung findet ist der Spiegel. „Er ging also, selbstbewusst, trotz seiner zerlumpten Kleidung, in ein bürgerliches Bistro, setzte sich an einen Tisch ... Und da sich seinem Sitz gegenüber ein Spiegel befand, konnte er auch nicht umhin, sein Angesicht zu betrachten, und es war ihm, als machte er jetzt aufs neue mit sich selbst Bekanntschaft. Da erschrak er allerdings. Er wusste auch zugleich, weshalb er sich in den letzten Jahren vor Spiegeln so gefürchtet hatte. Denn es war nicht gut, die eigene Verkommenheit mit eigenen Augen zu sehen.“78

Auch im Schlusskapitel wird der Blick in den Spiegel auf Andreas entscheidender Wendepunkt, diesmal ist es ein anderer Gast, der bemerkt, wie er gleiche einem Sack umfällt und stirbt. Spiegel gerät zur Metapher für Zufall.

Die Bilder und Metaphern wiederholen sich, daher erscheint die legende vom Heiligen Trinker als Abbreviatur der gesamten Prosa. Im Hotel Savoy und in Der stumme Prophet vervielfacht der Spiegel die Räume und die Perspektiven, er verdeutlicht Distanz zu dem Gespiegelten, den Objekten. Der Clown Komantschin stirbt vor einem Spiegel, in dem er sich rasiert.

Kühles Glas, das neben Transparenz auch für Kälte und Austauschbarkeit der Menschen steht, bildet ein dem Spiegel nahestehendes Motiv. In Tarabas fungier Glas und der Spiegel ebenfalls als Mittel der Selbstidentifikation. Roth modifiziert den Narziss-Mythos, der für Vereinsamung und Horizontverengung introvertierter Existenzen steht.Zu viel Sehnsucht auf die große Erlösung verstellt den Blick auf die kleinen Lösungen des Lebens.

Maßvolles Trinken ist bereits ein Thema in Platons Symposion, das hauptsächlich über die Liebe handelt. So gemahnt er über die rhetorische Figur des Aristophanes daran, ein Glas Wein für die Gesundheit, eines für Liebe und eines für guten Schlaf zu trinken; mehr Genuss führt zu negativem Verhalten. Der Alkohol fördert die schlechten und hemmt die guten Qualitäten; auch diesbezüglich erweist sich Roths Erzählung paradigmatisch als Variante und Replik auf antike Legenden.

Roth eignet sich einen mythisch-poetischen Stil an, für den Kassierers Begriff der „symbolischen Prägnanz“ zutrifft; eine immanente Gliederung im Akt der Wahrnehmung und eine anschließende Repräsentation.

Joseph Roth - Letzter Donauwalzer

Подняться наверх