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2. 1. Der blinde Spiegel

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2. 1. 1. Entstehung, Inhalt

Der blinde Spiegel, in 19 Kapitel unterteilt, erscheint 1925 in Berlin bei Johann Heinrich Wilhelm Dietz in Berlin, der nach dem Tod des Herausgebers gerade mit der Zeitschrift Vorwärts fusioniert. Der etablierte Verlag publiziert sozialistische Autoren wie Mehring, Marx/Engels, Lassalle und Kautsky. Roth schiebt seine Prosa zwischen journalistische Reiseberichte (sein Broterwerb) ein. Nach Barbara wählt Roth in Fini eine weibliche Hauptfigur zur wehrlosen Protagonistin seiner Auseinandersetzung mit einer bedrohlichen und gewalttätigen Gesellschaft. Sprachlich vollzieht sich das auf der Basis von neoromantischer Prosalyrik, deren Zärtlichkeit des Tonfalls mit trostlose desillusionierendem Inhalt kontrastiert.

Das Wiener Madl Fini, um 1900 geboren, ist 18 Jahre alt, als ihr Vater traumatisiert aus dem Krieg heimkehrt. Dem schüchternen Mädchen schenkt niemand viel Aufmerksamkeit. Sie arbeitet als Stenotypistin und verliebt sich in den Geiger Ludwig, obschon sie weiß, dass dieser bereits ihre ältere Schwester verführt, zur Abtreibung gezwungen und danach verlassen hat. Auf Dauer vermag sie seinem sexuellen Drängen und seinen „dunkelvioletten Tönen“ nicht zu widerstehen und gleicht einem Mantel, der irgendwann doch von der Garderobe genommen werden muss. Als sie die Schwäche des vermeintlichen Raubtiers im Mann durchschaut, etwa den Geiz einer Petroleumlampe, wendet sie sich von ihm ab, kann aber nach Verlust ihrer Unschuld nicht mehr viel erwarten. Auf den Musiker folgt eine Beziehung zu dem politischen Redner Rabold, die gleichfalls enttäuschend verläuft. Am Ende geht Fini, weil sie in den Himmel will, in die Donau, dem Wiener Pendant zum mythischen Fluss Lethe.

2. 1. 2. Zwischen Fatalismus und Defätismus

Die kleine Fini saß auf einer Bank im Prater und hüllte sich gut in die gute bergende Wärme des Apriltages“46 Der Anfang ist typisch, weil er einen Ort und eine Zeit nennt. Meist beginnen Roths Geschichten im Frühling, die Welt ist zu diesem Zeitpunkt noch in Ordnung und verspricht noch besser zu werden.

Fini ist nicht nur physisch klein, sondern auch psychisch. So verliert sie sich ängstlich in den Straßen der großen Stadt. Roth beschreibt eine Reihe von Besonderheiten seiner Zeit, die zudem von symbolischer Bedeutung sind wie das Laternenentzünden mit langer Stange, dem auch im selben Jahr Kurt Tucholsky mit einem poesievollen Artikel würdigt.47

Grundlegend bietet die Erzählung mit dem vorhersehbaren Ende drei Lesevarianten, die sich nicht exkludieren: Fatalismus, Defätismus und Sozialismus. Fatalismus beinhaltet den Glauben an das Wirken einer höheren Macht, meist in göttlicher Form vorgestellt, dem das Individuum ausgeliefert bleibt. Fini vermag sich nicht zu wehren und ist daher zum Opfer bestimmt. Von Anfang an empfindet sie das Morgen und Übermorgen als ein Grauen, als Bedrohung und schwarze Schatten. Sie verkörpert Ohnmacht und Angst; Rettung scheint ihr nur in Begleitung und schützender Umarmung eines Mannes, eines Liebhabers, möglich. Im Unterschied zum Determinismus, der von selbst verschuldeten Ursachen und Wirkungen ausgeht und sich meist auf die Vergangenheit bezieht, wohingegen der Fatalist nur die Zukunft im Blick hat, scheint Fini schuldlos in diese Welt hineingefallen und gleich einem Insekt nicht mehr den Weg aus der Flasche zu finden. Roth liefert keine Hinweise, die auf einen sozialen Determinismus schließen lassen; seine Formulierung lautet „zwischen dem Unglück und seinen schrecklichen Folgen.“

Defätismus beinhaltet Resignation, die entweder erfahrungsbedingt oder selbstkonditioniert ist. Vor allem Frauen haben um die Jahrhundertwende weniger Selbstbewusstsein als Männer, sehen sich im Patriarchat als unterlegen an und können sich meist nur in ihr Schicksal fügen; dazu zählen Zwangsehe, kein Recht auf Arbeit und moralische Vorverurteilung bei Verlust der Jungfräulichkeit. Soldaten, die im Krieg Skepsis am Sieg äußerten, galten als Defätisten.

Finis Minderwertigkeit kommt an mehreren Stellen zum Ausdruck, etwa beim Stenographieren „Es war, als hatte man ein verrücktes, wirbelndes Rad zu stenographieren; große, bunte Rader kreisten, wuchsen violett und rot gerändert aus dem Papier.“48

Die Furcht einen der begehrten Arbeitsstellen zu verlieren ist im Wien der Nachkriegszeit groß. Dass Fini überhaupt arbeiten darf, verdankt sie dem Umstand, dass ihr Vater Kriegsinvalide ist und die Rente nicht ausreicht. Die unterlegene Rolle der Frau im Rollenverständnis des Mannes kommt deutlich zum Tragen. Fini vollzieht nur schwer die Entwicklung zur heranwachsenden Frau bis. Das pubertierende Mädchen fixiert immer nur die Erwartungshaltung ihrer nächsten Umgebung. Sie fürchtet sich vor ihrem Chef und fremden Straßen, vor ihrer erwachenden Sexualität. Männer sind für sie gefährliche Raubtiere, denen die Frau willenlos erliegen muss, zumal sie das Schicksal der verführten und verlassenen, durch eine Abtreibung beinahe ums Leben kommenden Schwester erlebt. Schließlich aber lässt sie sich vom selben Geiger verführen, weil sie seinem Begehren „der dunkelvioletten Töne“ nicht widersteht.

Die Frau ist devotes Opfer, zum Verzicht (erst dem Vater, später dem kranken und erblindeten Gatten gegenüber und zuletzt einem politisch Verfolgten) bereit oder zu absoluter Hingabe gegenüber dem Mann verpflichtet. Immer ordnet sie sich seinen Interessen, seinem Willen unter analog Nietzsche: „Das Glück des Mannes heißt: Ich will. Das Glück des Weibes heißt: Er will.“49

Bei Roth heißt es: „Die Männer sind aus einer ganz anderen Welt als wir kleinen Mädchen, sie sind klug, stark und stolz, sie lernen viel und wissen viel, sie suchen die Gefahren, und durch die Straßen gehen sie herrschend, und ihrer ist, was sie sich wünschen, die Hauser, die Bahnen, die Frauen und die ganze Stadt.“50

Ehelos ist für die Frau ein Synonym zu mit ehrlos, besonders im Patriarchat.

Roths Stil unterscheidet sich in von dem Zweigs, doch es finden sich zeittypische und daher vergleichbare Phänomene: Untergangsstimmung, Dominanz der männlichen Sexualität, weibliche Furcht und Schamgefühl, Abhängigkeit bis hin zur Hörigkeit der Frau vor dem Mann, seinem Beruf, seiner Rolle als Ernährer und seinem sozialen Stellenwert.

Roth schildert die animalische Brutalität, die junge keusche Frauen bei der körperlichen Annäherung der Männer empfinden. Fini erscheint traumatisiert und hypnotisiert, nicht vorbereitet auf die Rolle einer Frau. Wie die meisten Kinder ihrer Zeit wird sie nicht aufgeklärt un wächst in einer Atmosphäre der Angst heran. Eine vergleichbare Erzählung liefert Stefan Zweig in Die Liebe der Erika Ewald (1904), in der eine junge enttäuschte Frau vor dem Suizid durch einen Zufall gerettet wird. Veränderung im Innenleben weiblicher Seelen, die zur Lebensunfähigkeit, in Roths Fall in den Suizid führt, sind nahezu identisch. Viele junge Frauen, sehen sich unterdrückt und stehen dieser Form der Gewalt sprachlos gegenüber. Ihre Machtfantasien übertragen sie meist auf selbstbewusste Männer; Fini stellt dabei keine Ausnahme dar.

Die ontische Problematik, das eigene Sein durch Armut, Tugend und Redlichkeit zu bewahren, dominiert. Zwar ist Fini auch Opfer ihrer existentiellen Armut, ausgelöst durch Österreichs Niederlage im Ersten Weltkrieg, doch die Konzentration liegt auf ihrer Infantilität. Die Kluft zwischen männlichem und weiblichem Eros scheint unüberbrückbar; die Verletzlichkeit und Sensibilität der werdenden Frau wird nicht nur bedroht, sie wird zerstört. Die zentrale Frage lautet: welche Veränderung ist in einem rigiden Rollenverständnis möglich?

Der Historiker Philipp Blom, der die Weltuntergangsstimmung vor dem Ersten Weltkrieg analysiert, antwortet: „Anstatt draußen ... hatte sich diese Veränderung im Inneren vollzogen, in den Häusern und Köpfen.“51

Roths Erzählung widerspiegelt die Verunsicherung, in welche Richtung die Veränderung laufen soll; sie sind „durchzuckt von ungeordneten und unverdauten Informationen ... ein Schrei, der von der Bühne geschleudert wurde.“

Fatalistisch heißt in diesem frühen Stadium Roths nicht religiös, sondern mythisch imprägniert. Fini gleicht mythologisch dem Epimetheus52, der alles zu spät bedenkt und nur in der traulichen Lage des Nachfühlens gefangen bleibt. Der Kern der Lehre, zumindest bei Platon, besteht darin, dass Epimetheus den Menschen schwächt, weil er ihn nackt und wehrlos lässt (damit er den Göttern nicht gefährlich werde) und sein Bruder Prometheus daher das Feuer raubt, ein Privileg, das den Göttern vorbehalten bleiben solle. Wenn Prometheus zum Sinnbild der Hybris und des homo technicus Verwendung findet, dann allegorisiert Epimetheus Verzagen und Dulden bzw. verzögertes Nachdenkenden.

Fini erscheint zu wenig reflektiert, um sich behaupten zu können und erinnert das österreichisch-deutsche Kollektivschicksal, das zum Untergang bestimmt bleibt, weil es all seine Hoffnung auf ein Ereignis setzt, das unmöglich eintreten kann. Für den Fatalismus spricht die Wendung „beschlossen war ihr Schicksal“. An ihrem neunzehnten Geburtstag verlässt sie ihn weinend.

2. 1. 3. Gewalt der Musik und der Sexualität

Vergleichbar mit Zweigs Die Liebe der Erika Ewald ist auch die verführerische, nahezu magische Kraft der Musik, die sich bereits in Konzertbesuchen der heranwachsenden Frau in Begleitung des Malers Ernst ankündigen. „»Die Musik«, sagte Ernst, »enthält alle Geräusche der menschlichen Welt, eingefangen in gesetzmäßige Bindung und gesteigert ins Übermenschliche.«53

Der Einfluss Schopenhauers, der Musik als die metaphysische Inkarnation des absoluten Willens bezeichnet, liegt nahe. „Weil die Musik nicht, gleich allen andern Künsten, die Ideen, oder Stufen der Objektivation des Willens, sondern unmittelbar den Willen selbst darstellt; so ist hieraus auch erklärlich, daß sie auf den Willen, d.i. die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers, unmittelbar einwirkt, so daß sie dieselben schnell erhöht, oder auch umstimmt.“54

Nietzsche spricht von übermenschlicher Kraft der dionysischen Musik, Emotionen zu erzeugen. Als Finis Schwester Tilly beinahe nach dem Eingriff einer Engelmacherin stirbt, entdeckt sie Fini das Geheimnis: „Ein Tier ist der Mann, wenn er zu uns kommt und wenn er uns verläßt. Wenn wir dem eisernen Druck seiner Schenkel nachgeben und wenn er aufsteht, müde und mit nachlässigen Fingern uns das Kleid zuhakt.“55

Beide aufeinanderfolgenden Erlebnisse haben mit dem Rausch der Gewalt affektgesteuerten Trieblebens zu tun, der sich die Frau wehrlos ausgesetzt sieht. Folglich koinzidiert beides in der Person des Geigers Ludwig; er erscheint ihr wie eine Naturmacht (Raubtier), ein Gast in ihr und zugleich ein neues zu Hause. „An uns vorbei schreiten die jungen Mädchen, noch nicht gezeichnet vom bitteren Geschmack, vor ihnen die kommenden Tage, leuchtend und frisch wie niemals betretene Rasen.“

Ihre Desillusionierung ist der Anfang vom Ende. Sie lernt den Sozialisten Rabold kennen, auf die Musik folgt die Rede, mythisch auf die alte die neue Klage, auf die dionysische Lyra die apollinische in Flöte. Musik bleibt das Grundmotiv: der durch Kanonendonner schwerhörige Vater kann wie durch ein Wunder wieder hören, noch einmal atmet Fini Glück: „Der Ton einer abendlichen Flöte kam, im Ufergras zirpten die Grillen.“

Glück der Zweisamkeit gibt es bei Roth nie. Rabold verschwindet spurlos und kommt nicht zurück. Allein und verlassen, gleitet Fini auf Wolken aus, fällt in den Fluss, ertrinkt, weil niemand mehr da ist, um sie zu retten. In Finis Gang zur Donau zeichnet sich allegorisch bereits das Ende der Donaumonarchie ab. Mit ihr stirbt das junge Leben, alle Hoffnung scheidet aus der Zukunft.

Joseph Roth - Letzter Donauwalzer

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