Читать книгу Joseph Roth - Letzter Donauwalzer - Bernd Oei - Страница 6
ОглавлениеExkurs: Norbert Elias, Die Bedeutung des Rituals
In zahlreichen Erzählungen nimmt Roth Bezug auf das höfische Etikett wie in der Schilderung des Begräbnisaktes in Seine k. u. k. apostolische Majestät, um über das soziale Gefüge und das Selbstverständnis Menschen zu berichten. Dies hat einen tieferen Grund: den Wert des Respektes, der durch Höflichkeit sichtbar gemacht wird und die symbolische Gemeinschaft, die eine Zeremonie zum Ausdruck bringt. Der Soziologe Norbert Elias29 postuliert in Über den Prozeß der Zivilisation eine Theorie der Norm unter Einbezug des langfristigen Wandels der Persönlichkeitsstrukturen in Westeuropa zwischen 800 bis 1900.
Der erste Band behandelt die Psychogenese der modernen Persönlichkeitsstruktur, die er in drei Stadien einteilt: die mittelalterliche courtoisie, die höfische civilité und die neuzeitliche civilisation. Der zweiten Band liefert eine Soziogenese über drei Prozessstadien: Feudalisierung, Monopolisierung von Machtmitteln und der Vergesellschaftung dieser Monopole.
Wie alle sozialen Prozesse bleibt auch der Zivilisierungsprozess zwar gerichtet, aber irreversibel mit „Entzivilisierungsschüben“. Das Subjekt gehört mehreren Zivilisationen an, so weiß es nicht Bin ich ein Mensch oder ein Wiener? Roth fühlt sich als Österreicher und als Jude. Nur im Mikroskop (Biotop) erlaubt sich das Individuum noch Individualität.
Ebenso verlaufen parallel Individual- und Herdeninstinkt als Teile des Verhaltens. Die zunehmende Kluft zwischen erlebter und erzählter Zeit und das Erkennen historischer Zusammenhänge setzen einen Schrumpfungsprozess des Verstehens in Gang. Ausgehend von den narzisstischen Kränkungen durch Marx, Nietzsche und Freud manifestiert sich die Erkenntnis: weder Materie, noch Geist oder Seele sind frei, sondern unterliegt ökonomischen Gesetzen.
Als empirische Basis für dieses Modell dienen Elias neben Geschichtswerken und historischen Biographien Bücher über angemessene Manieren und Verhalten mit den jeweiligen Anforderungen und Romane, welche Konventionen ihrer Zeit widerspiegeln. Die Anforderungen werden im Verlauf der Zivilisationsgeschichte immer höher. Frühere Ansprüche oder Pflichten verschwinden nicht, sondern werden durch Verinnerlichung und Gewöhnung nicht mehr als solche erkannt. Sie gelten als normal und bleiben kritisch unreflektiert.
Für den Zusammenhalt sind Rituale unentbehrlich, nicht nur auf die höfische Etikette, sondern auf alle Volksschichten bezogen: das Verhalten wird codiert zwecks Übereinstimmung von Gesellschafts- und Persönlichkeitstypus.
Eine Strategie besteht im Assimilationszwang, eine andere die Stigmatisierung Andersdenkender und eine dritte im Wettbewerb. Netzwerke bilden sich. Die Folge einer solchen Organisation sind Partien.
Es wird immer weniger mit und immer mehr über einander geredet. Dabei kommt es zu „Interdependenzketten“, die gegenseitigen Abhängigkeiten von Infrastrukturen. Eine sichtbare Auswirkung sind Bürokratien und Hierarchien. Der Planungsdruck für Individuen steigt, da ihre ausgeführten Handlungen nicht mehr direkt besorgt werden, sondern Stationen und Abläufe berücksichtigen müssen. werden müssen. Diese Entwicklung verläuft nicht homogen, sondern regional äußerst differenziert, was die Spannungen zwischen Cis- und Tansleithanien und die Entwicklung der Völker in Europa erklärt.
Je zivilisierter ein Staat ist, desto weniger darf der Einzelne Schwankungen in Affekten und Trieben nachgehen. Das Persönliche tritt gegenüber dem comme il faut zurück. Emotionen müssen gebändigt und aus der Öffentlichkeit verbannt werden, eine Fassadenkultur entsteht, die von Kulissenpolitik begleitet wird. Alles geschieht für das Protokoll, jedes Ereignis ordnet sich dieser Vorhersehbarkeit unter. Der Prozess der Zivilisation führt zur Transformation der Außenzwänge (Fremdkontrolle) in Innenzwänge (Selbstkontrolle). Einzig Konventionen halten die Diversität in der Donaumonarchie zusammen.
Die Modernisierung ist vornehmlich durch eine Macht-Monopolisierung gekennzeichnet. Bereits im Mittelalter, während der Herrschaft der Aristokraten, kam es zu einem enormen Konkurrenzdruck bedingt durch Landknappheit. Der Einzelne lebt in ständiger Angst und Unsicherheit, da eine Bedrohung durch körperliche Gewalt jederzeit gegeben ist. Die stetige Unsicherheit verhindert in der eine langfristige vorausschauende Planung des Lebens durch die Menschen. Um die Konkurrenzsituation zu entschärfen, führt der Prozess der Staatsbildung zunächst zu einer Verkleinerung der Anzahl der Konkurrenten, im Folgenden zu einer Monopolstellung einzelner Fürsten und letztendlich zur Bildung eines absolutistischen Staates, der die physische Gewalt durch Institutionen, zunächst Institutionen des Königtums, monopolisiert.
Verflochten ist dieser Prozess mit zunehmender sozioökonomischer Funktionsteilung. Das Gewaltmonopol des Staates erlaubt es den Menschen nun, langfristig zu planen, da der Kampf nicht mehr notwendig und auch nicht mehr legitim ist. Von einer Ubiquität der Macht kommt es also im Verlaufe der Soziogenese zu einer „Macht-Enteignung“ der Einzelnen. Die eigene Gewaltanwendung ist nicht mehr legitim und konkurriert mit der Gewaltanwendung des Staates. Die unberechtigte Aneignung von Gewalt wird fortan sanktioniert. Nicht die Zivilisation ist das eigentlich fest Bestehende, sondern der sich verändernde Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen individueller Selbstregulierungen im Zusammenleben mit anderen Menschen.
Wenn „Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln“ und sich der Mensch zunehmend nur über traditionelle Konventionen und Rituale definiert, ist die Peripetie erreicht. Die Habsburger Dynastie ist eine ausgeprägte Kulissenmonarchie mit größtmöglicher ethnischer Heterogenität aufweist. Hier kommt dem Schuld- und Schamgefühlen besondere Bedeutung zu, wie die Regelung des „gesamten Trieblebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird.“30
Zivilisation folgt einer Struktur, aber keinen rationalen Logik. Die Vernünftigkeit liegt vielmehr in dem Freiraum, der zu einer größeren Planbarkeit privater Handlungen führt. Für Elias bestimmt eine fundamentale dynamische Verflechtungsordnung den Gang des geschichtlichen Wandels. „Sie ist es, die „Pläne und Handlungen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander. … daß sich aus allem Planen und Handeln der Menschen vieles ergibt, was kein Mensch bei seinem Handeln eigentlich beabsichtigt hat.“
Diese Verflechtung folgt einer Eigengesetzlichkeit, ist nicht strukturlos; weder rational noch irrational. Elias Theorie findet sich in Roths Beschreibung, einer Mischung aus präziser äußerer Beobachtungen und Magie durch mythologische Komponenten wieder, die Roths Zeitgenosse Cassirer31„Weltwahrnehmung des mythischen Bewußtseins“ heißt.
Zivilisation ist für ein äußerst fragiles und fragwürdiges, ambivalentes Gebilde, aufgrund der Unter der differenzierten und stabilen Habsburger Erziehung werden dem Einzelnen mehr und mehr Automatismus angezüchtet - ein Selbstzwang internalisiert, zu dem Gehorsam und Pflichtgefühl gegenüber dem Vaterland und kollektive Werte primär gehören.
Rousseau und Nietzsche betrachten diese Kulturleistung als „Zucht des Kopfes“ kritisch, da sie eine Verformung des Leibes inkludiert, denn Leitkulturen fördern sowohl kognitive als auch emotionale Störungen Menschen und erziehen zum uneigenständigen Herdentier. Roth kennt das Argument der Verzärtelung der „blonden Bestie“, die Dekadenz begünstigt. Der Mensch stumpft ab. Roths geschichtliche Adaption des Untergangs besteht darum aus einer Mischung von selbsterfüllender Prophezeiung und Nostalgie. Die Folgen der Umorientierung, verbunden mit Konfliktausbrüchen, welche die Monarchie noch zu unterdrücken verstand, empfindet er als traumatisch. Elias These, Monopolisierung und Stabilisierung führen zu „befriedeten Räumen“ muss Roth angesichts der gewaltverherrlichenden Diktaturen zu einer nachträglichen Akzeptanz der Habsburgerdynastie bewogen haben.
Exkurs Schnitzler und die Rebellion gegen die Metaphysik
Roth bezeichnet seine Literatur als „Aufstand gegen die Metaphysik“. Viele Dichter aus den Kreisen des Impressionismus und der Sezession gelangen in der Erkenntnis solcher Defizite in der modernen Gesellschaft, die als Krankheit und Verfallssymptome begriffen werden, früher oder später zu religiösen Fragestellungen oder auch religiösen Antworten: Von Schopenhauer und Nietzsche beeinflusste Autoren suchen Zuflucht in der Mystik, so auch Hugo von Hofmannsthals Jedermann (1911) und das Salzburger Mysterienspiel. Vor der Revolution steht immer das Warten. Heinrich Mann bringt dies in Ein Zeitalter wird besichtigt pointiert zum Ausdruck: Die einen drängen zur Herrschaft, „die andere Vorkriegserscheinung ist das Warten“. So lautet eine Szene in Tollers Drama Masse Mensch (1919) „Im Wartesaal“.
Nach der Zerschlagung des letzten Reiches, das transnational auf Religion und Personenkult vertraut, ist eine Rückkehr zum naiven Gottesvertrauen unmöglich. Arthur Schnitzler artikuliert den Vertreter des modernen Zeitgeists durch Heinrich Beermann im Roman „Der Weg ins Freie" (1908): „Und was die Religionen anbelangte, so ließ er sich christliche und jüdische Legenden so gut gefallen als hellenische und indische; aber jede war ihm gleich unerträglich und widerlich, wenn sie ihm ihre Dogmen aufzudrängen suchte. Und zusammengehörig fühlte er sich mit niemandem, nein, mit niemandem auf der Welt. Mit den weinenden Juden in Basel gerade so wenig als mit den grölenden Alldeutschen im österreichischen Parlament.“32
Doktor Stauber, noch der älteren Generation angehörig, äußert seine Vermutung, dass moralische Grundwerte seit jeher einen schweren Kampf gegen den genuinen Egoismus des Menschen geführt haben, der nun, entfesselt durch die Autonomie des Menschen und die modernen Ideen entschieden scheint: „ … wissen Sie, in der Epoche, aus der ich eben komme, wo die Begriffe so unwiderruflich festgestanden sind, wo jeder zum Beispiel genau gewußt hat: man hat seine Eltern zu verehren, sonst ist man ein Schuft, schon damals haben die so genannten modernen Ideen mehr Anhänger gehabt, als man ahnt. Nur, daß es diese Anhänger selbst manchmal nicht recht gewußt, daß sie selber ihren Ideen nicht getraut, daß sie sich gewissermaßen wie Auswürflinge oder gar wie Verbrecher vorgekommen sind. "
Die Politiker der neuen Zeit wechseln Meinungen und Parteien wie ihre Kleidung, Volksvertreter sind gewissenlos und gebärden sich wie Verbrecher. Ihr Handeln nimmt dank der Massenvernichtungsmaschinerie eine ungeheure Reichweite an und potenziert die Quantität. Eine Folge bildet die bürokratische Verwaltung des Sterbens, die Schnitzler im Drama Professor Bernhardi (1912) aufgreift. Liegt der Schwerpunkt noch auf der Radikalisierung von Ideen, so reflektiert Schnitzler in seiner Komödie Fink und Fliederbusch (1917) dagegen die Austauschbarkeit der Ideale.
Ein Reporter, der unter zwei Pseudonymen für zwei Konkurrenzblätter schreibt (eines für die Republik und eines für die Monarchie) pointiert die groteske Situation, die ihn dazu nötigt, sich selbst zum Duell zu fordern. In Professor Bernhardi kollidieren klerikale, nationale und liberale Interessen tragisch, da niemand philanthropisch handelt. Mit Ausbruch des Weltkrieges hat die Absenz von Moral komödiantisch obsiegt.
Seit der Französischen Revolution tritt der Staat als Götze oder Leviathan auf. Der Träger der letzten Krone Franz Joseph beruft sich noch (glaubhaft) auf Gottes Gnadentum, er ist der letzte Kitt seines zerbrechenden Reiches. Roths Fragen kreisen um einen Himmel, der keinen Schatten mehr wirft, weil ihm die Sonne fehlt: Wer ersetzt ihn? Wer füllt das ethische Vakuum? Wirtschaft und konstitutionelle Politik sind bereits enger miteinander verwoben als während des Nepotismus an den Höfen der Könige.
Als Schnitzler resigniert, ist Roth noch ein junger Mann. Keine zehn Jahre später sind seine Ideen, seine Hoffnungen passé, perdu. Der Erbadel des Blutes sieht sich von der Geldaristokratie entmachtet, das Bürgertum und die Industrialisierung haben ihre Götzen Effizienz und Mammon getauft. Nicht nur Religion ist Opium, auch Aktien und Börsenkurs narkotisieren ethische Substanz.
Bis 1924 schreibt Roth für das Berliner Börsenblatt, bis er es aus ethischen Gründen verlässt. Er ahnt durch die Fusion von Militär, Wirtschaft und Politik das Scheitern der Dreiteilung der Gewalt in der Weimarer Republik. Skrupellosen Intriganten bereiten einen Rechtsputsch vor, den Regierungsvertreter dulden, mitunter fördern (Das Spinnennetz). Dem Ausbruch des ersten Weltkriegs folgt einer Automatisierung, bei der eine Schraube in die andere greift und der
in den Zweiten Weltkrieg mündet.
Finis Austriae. Wer trägt Schuld am Untergang? Mit zunehmenden Nationalismus erweisen sich ständisch geprägte Gesellschaften instabil, besonders die k. u. k. Monarchie. Nach dem ersten Weltkrieg, in den viele Schriftsteller in somnambuler Euphorie gefolgt sind, herrscht große Leere: Schweigen, auf das ein extremes Echo folgt mit unvereinbaren Antworten. Die alten Werte lösen sich auf, eine Metaphysik der alten Ordnung existiert nicht mehr. Der soziale zieht einen moralischen Wandel nach sich wie die militärische Niederlage das nationale Ressentiment. Roth antizipiert den Triumph des Plebejers, die Verführung der manipulierbaren Masse.
Das Volk weiß nicht wohin mit ihrer Enttäuschung, wie ein gefräßiges Tieres brüllt es nach Rache für seinen aufgestautem Zorn. Die Angebote der Vernunft werden überhört. Rassentheorie, Sozialdarwinismus (Kannibalen-Mentalität), Revanchismus und der Wille zur Gewalt, oft gepaart mit blinder Zerstörungswut, drängt die Intellektuellen, die Versöhnenden und Nachdenklichen an den Rand und darüber hinaus. Medien fördern Vorurteile und Irrationalität.
Anstelle dionysischer Befreiung herrscht Besinnungslosigkeit, in der Kunst mehr und mehr zu Propaganda verkommt. Die Umwertung aller Werte kennt kein Maß, keine Bescheidenheit, keine Zwischentöne. Flucht in die Finsternis nennt Schnitzer eine seiner letzten Erzählungen, der Ruf nach Totalität und noch mehr Wahnsinn impliziert Immer häufiger enden seine einst komischen Pointen mit einem Mord oder Suizid.
Die Menschen können sich nicht so schnell an Verantwortung und Wahl gewöhnen. Ihre Entscheidung, welche politische Richtung den Vorzug bekommt, wird bestimmt durch das Charisma der politischen Führer oder die Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Es gibt keine Sonne mehr, aber blendenden Glanz der revolutionären Respektlosigkeit mit dem Althergebrachten. In der Erzählung Die Büste des Kaisers schildert Roth wie der Graf Morstin ungewollt Teilnehmer eines makabren Totentanzes wird, in dem die Stephanskrone zur dekadenten Volksbelustigung dient: „Er war nicht mehr imstande, zu messen, zu wägen und zu überlegen. Es schien ihm, daß kaum jemand irgendeine Art der Gewalttätigkeit bestialisch genug sein könnte, die Niedrigkeit jenes Mannes, der mit den Kronen auf dem kahlen Schädel eines Maklers tanzte, jeden Abend mit einer anderen, zu strafen und zu rächen … Er bewaffnete sich mit der halbgeleerten Sektflasche...als gälte es einen häßlichen Brand zu löschen ...“33
Gott ist tot. Die Maxime Nietzsches bedeutet für Roth das Aussterben aller vornehmen Scham des Edlen, der Zorn fegt den Humanismus hinweg. Es gibt kein gesellschaftliches Taktgefühl mehr, kein Tabu und daher keine Rettung der Intimität vor Instinktlosigkeit. Die proklamierte Freiheit des Willens und der Rasse unterliegt vorerst keiner Prüfung. Man proklamiert, dass Fortschritt oder Sieg nichts Böses an sich sein können, und dass im Krieg nur der Sieg um jeden Preis zählt. Krieg ohne sittliche Schranken. Die reinigende Katharsis schlägt um in destruktive Katastrophe.
Heinrich Mann, Franz Werfel, Ernst Toller: Das Ende der Metaphysik
Seit Kaiser Wilhelm ihn zum Ziel erklärt hat, den Platz an der Sonne, ist selbst das Weltall Teil nationaler Identität. Nach dem Schock des Ersten Weltkrieges: blutige Materialschlachten, Massensterben in Schützengräben, plattgewalzten, Dörfern, strategisch geplanten Vergewaltigungen und Einsatz von Kampfgas folgt kein wirkliches Erwachen, sondern ein Traumata, der noch tödlicher, noch blutiger, noch brüllender endet im Traum vom restaurierten Reich unterm Hakenkreuz. „Die Primitiven erwarben das Verdienst ... mit Weltanschauung, Rasse, revolutionären Phrasen und bluttriefender Dummheit.“34
Heinrich Mann ist ein unbestechlicher Seismograph „Er war 39 Jahre alt, als er 1910 in einer kurzen Notiz sein bisheriges Leben bilanzierte. Hinter ihm lag ein Weg, der, »durch sechs Romane hindurch, von der Behauptung des Individualismus zur Verehrung der Demokratie geführt hat«. Kurz darauf verfasste Heinrich Mann seinen Essay »Geist und Tat« mit dem damals unerhörten Frankreich-Lob und der gnadenlosen Deutschland-Kritik.“35
Roth, 1920 aus Wien nach Berlin gezogen, sieht in den politischen Aktivitäten Heinrich Manns einen Erben Emile Zolas und leuchtendes Vorbild überwältigt. 1924 veröffentlicht er in dem einflussreichen Organ der Sozialisten „Vorwärts“ den Essay „Der tapfere Dichter“, der auf dem rechten Auge nicht blind sein will. Heinrich Mann ist „der einzige Rufer von Geist im brüllenden Streit der reaktionären Barbaren“36- damit sind Großkapitalisten gemeint, die sich über Lobbyismus in die Politik einkaufen und das Volksbegehren bzw. Volkswirtschaft in ökonomische Partikularinteressen transformieren. Roth erkennt wie Mann im Nationalismus den Verrat am völkischen Gedanken und zugleich die systematische, infame Unterwanderung von Demokratie von rechts.
Bis heute hat sich nichts an diesen Mechanismen geändert. Roth hinterfragt, wie viele Dichter von Ansehen und Rang noch engagiert schreiben, ohne Rücksicht auf ihren ihre Reputation in Deutschland zu nehmen. Er vermisst das Aufbegehren der Intelligenz gegen den Stumpfsinn der Allgemeinheit. Er sorgt sich um Demokratie im Parlament, die geduldige und schrittweise Arbeit an und mit der Vernunft. Der Versailler Vertrag ist imprägniert von jener unbarmherzigen Überzeugung, dass Besiegte nicht geschont werden dürfen. In der Zeit des politischen Umbruchs im Wertewandel wird der politische Mord als Mord für die Idee alltäglich, ob in Jekaterinburg, München oder Berlin.
Europa taumelt: Straßenterror in der Weimarer Republik, soziales Elend und der immer grotesker ausufernde Antisemitismus sind weitere extreme Phänomene. Roth thematisiert die Fememorde wie die Attentate auf Rathenau und Enzensberger nicht nur in seinen journalistischen Beiträgen, sondern auch in seinem ersten Roman Das Spinnennetz, dessen Titel die Ähnlichkeit des Hakenkreuzes mit dem Spinnennetz evoziert, eindrucksvoll. Beide Schriftsteller verbindet viel, ihre frühzeitige Emigration, die Wege kreuzen sich wieder, beim Exil-Verlag Querido und im französischen Exil an der Rivera in Sanary-sur-Mer nahe Toulon. Auch Roth, 1916 noch Kriegsfreiwilliger, wird zum Pazifisten, selbst wenn er nicht an Die Weißen Blätter37 mitarbeitet. Eine Vergleichbarkeit in ihrem sozialistischen Engagement besteht besonders zur Trilogie Die Armen (1917), Der Untertan (1914 vollendet, 1918 publiziert) und Der Kopf (1925), welche die Entwicklung des Schriftstellers Roth prägt.
Alles Exilanten aufzuzählen macht wenig Sinn, doch mit Schnitzler und Heinrich Mann sind zwei Pole der Opposition aus der Vätergeneration Roths genannt, die auf unterschiedliche Weise gegen ihre Zeit protestieren und literarisch als auch publizistisch die Stimme gegen nationale Chauvinismen erheben, die sich achten und dennoch nicht einer Partei zuzuordnen sind. Roth mag sich nur kurz für den Sozialismus entschieden haben, doch seiner sozialen Gesinnung bleibt er bis zuletzt treu.
Franz Werfel, wie Roth von jüdischer und katholischer Mystik durchdrungen, lässt in seinem Roman Der veruntreute Himmel in Roths Todesjahr 1939 keinen Zweifel an der Ursache des ganzen Elends: Der Aufstand gegen die Metaphysik, der Nihilismus tritt humane Werte mit Füßen und legitimiert dies als Recht des Siegers. Das Credo seines fiktiven Erzählers lautet: „Ich verabscheue unsagbar den allgemeinen Geisteszustand unserer modernen Welt, jenen religiösen Nihilismus, der als Erbschaft längst verschollener Eliten seit drei Menschenaltern das Gemeingut der Massen geworden ist.“38
Ganz ähnlich äußert sich in einem Brief an Roth Juni 1934 der Elsässer René Schickele. Er erklärt seinen Roman Die Witwe Bosca (1933) zur Illustration des modernen Menschen, „der sein Gewissen verlor", nachdem er „die alten metaphysischen Bindungen abgelegt" hat.
Auch Tollers Revolutionsdrama Masse Mensch (1919) ist Roths Frühwerk seelenverwandt, da es seine Motive aufgreift. In seinem Drama führt die Intellektuelle Sonja führt bewaffnete Arbeiter in den Kampf gegen die Kriegsgewinner. Nach der Niederlage bezahlt die Frau ihre moralische Festigkeit mit dem Leben. Besonders kongruent in der Gesinnung mit Roth ist, dass Toller dem kommunistischen Plädoyer „Der Zweck heiligt die Mittel“ seine Auffassung von der Humanität im revolutionären Kampf entgegenstellt. Toller verabscheut Kapitalismus und Stalinismus gleichermaßen, da beide despotischen Gewalten anwenden. „Jeder lebt Sich. Jeder stirbt Seinen Tod. Der Mensch, wie Baum und Pflanze, schicksalsgebundene, vorgeprägte Form, die werdend sich entfaltet, werdend sich zerstört. Erkämpf die Antwort selbst! Leben ist Alles.“39
Um diese Zeit, die Weimarer Republik in Deutschland, die Erste Republik in Österreich, sind die linken Intellektuellen noch voller Hoffnung und innovativer Kraft. Ihr Vertrauen in den neuen Humanismus ist trügerisch, denn die Agonie hat längst begonnen, der Untergang ist nicht aufzuhalten. 1933 und 1938 entscheidet sich die Geschichte, aliae jactae sunt.
Toller stirbt nahezu unmittelbar vor Kriegsausbruch und vor Roth infolge der unüberbrückbaren seelischen Verzweiflung im amerikanischen Exil. Camus erklärt den Selbstmord in Der Mythos von Sisyphos zur wichtigsten philosophischen Frage überhaupt, weil alle anderen Fragen nach dem Wert des Lebens aus einem unbedingten Ja zu ihm hervorgehen. Wer das eigene Leben töten darf, kann keine Gründe mehr finden, fremdes uneingeschränkt zu schützen. Es bedarf Selbstwert und Demut für den ganzheitlichen Menschen; die Mehrheit aber zieht Brot der Freiheit und Hass dem Frieden vor.
Kulturbewusstsein der Skepsis
Fünf Punkte sind markant für den Zeitgeist zwischen zwei Weltkriegen. Zunächst politisch die militärische Verwüstung des Reiches im Herzen Europas, das in kleine Nationalstaaten zerfällt, den Austrofaschismus und das Dritte Deutsche Reich zeitigt. Dieser erweist sich als das unheilvolle Erbe der Vergangenheit mit seinen ungelösten Konflikten wie der Balkankrise. Das Ende einer Ära widerspiegelt am eindrücklichsten der Niedergang der Familie Trotta.
Zweitens religiös: der irreversible Bruch (der Tod Gottes) mit der Tradition eines tief gläubigen Glaubens, potenziert Zweifel und familiären Zerfall. Das vermeintliche Ende der Metaphysik veranschaulicht Hiob am eindrucksvoll.
Drittens: Die durch den Nihilismus ausgelöste Wertekrise untergräbt das Vertrauen in humanistische Traditionen, führt zur Orientierungslosigkeit und Radikalisierung. Die metaphysische Obdachlosigkeit der Entwurzelten zeitigt Rechtsextremisten wie Theodor Lose in Das Spinnennetz, desillusionierte Revolutionäre wie Friedrich Kargan in Der stumme Prophet oder psychopathische Narzissten wie Golubtschik in Beichte eines Mörders.
Viertens: Die Gesellschaft spaltet sich zunehmen in Positivisten oder Anhängern der Neuen Sachlichkeit und irrationalen Weltverschwörungstheorien wie Militarismus und Faschismus. Reaktionen auf die Enttäuschungen über die Republik bieten Utopien und Mystik bzw. Reaktivierung von Katholizismus und Gnosis. Autodestruktive Strukturen verdeutlichen Tarabas und Eibenschütz in Das falsche Gewicht.
Fünftens: Der intrinsische Zusammenhang von Heimatlosigkeit sowohl geografischer, familiärer als auch ideologischer Art, Entfremdung bzw. Fremdsein, paradoxale Sehnsucht und Erlösungsfantasie mit kollektiver Bereitschaft zum Untergang zeitigt keine Helden, sondern impassibilité - ein Begriff Flauberts für die Teilnahmslosigkeit und Resignation des Subjekts gegenüber der Veränderbarkeit der Welt. Da der Gestaltungswille, der Wille zum Leben dysfunktional bleibt, pervertiert er in zunehmende Zerstörungslust und Selbstverleugnung: im besten Fall bleibt das Subjekt ein „unbeteiligter Beobachter eines Schiffsunterganges“ (Metapher Blumenberg) wie Franz Tunda in Flucht ohne Ende.
Roth bezeichnet die Suche nach Werten „hinter dem Zaun“ als eine nach greifbarer Wirklichkeit und Objektivität. Zu Beginn wendet er sich von der Sentimentalität der Romantik, dem Individualismus und der Melancholie ab. Nachdem ihm vorübergehend Sozialismus, Neue Sachlichkeit und der Existenzialismus Lösungen bieten, bricht Roth mit ihnen, bedingt durch ihre Wehrlosigkeit in der Weimarer Republik. Es bleibt ihm die Flucht zurück. Die verlorene Jugend und Heimat sind Ausgangspunkt zur einer Verwurzelung, welche die Orientierungslosigkeit auffangen soll. Am Ende steht eine utopische Flucht in Träume und Sucht, Folge einer als Ausweglosigkeit empfundenen: „Ich wurde eines Tages Journalist aus Verzweiflung über die vollkommene Unfähigkeit aller Berufe, mich auszufüllen… Ehe ich zu leben angefangen hatte, stand mir die ganze Welt offen. Aber als ich zu leben anfing, war die offene Welt verwüstet. Ich selbst vernichtete sie mit Altersgenossen … Nur wir, nur unsere Generation, erlebte das Erdbeben, nachdem sie mit der vollständigen Sicherheit der Erde seit der Geburt gerechnet hatte.“40
Der noch relativ junge Roth benennt hier in der Provence, in die er 1933 flieht, bereits wörtlich, den Gegenstand seines Spätwerks. Als Journalist ist er Chronist, Prophet und Kritiker seiner Zeit: „Wir sind die Söhne. Wir haben die Relativität der Nomenklatur und selbst die der Dinge erlebt. In einer einzigen Minute, die uns vom Tode trennte, brachen wir mit der ganzen Tradition, mit der Sprache, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst: mit dem ganzen Kulturbewusstsein. In einer einzigen Minute wußten wir mehr von der Wahrheit als alle Wahrheitssucher der Welt. Wir sind die auferstandenen Toten. Wir kommen, mit der ganzen Weisheit des Jenseits beladen, wieder herab zu den ahnungslosen Irdischen. Wir haben die Skepsis der metaphysischen Weisheit.“
Roth versucht, sich „hinter dem Zaun der Metaphysik “ wiederzufinden – vergeblich. Der Text „Die weißen Städte", als Vorwort für einen Roman gedacht, impliziert inmitten der um sich greifenden Finsternis einen Lichtblick, den der zunehmend resignierende Autor im französischen Modell der Dritten Republik (1870-1940) erkennt. Der Bericht drückt das Krisenbewusstsein der Kriegsgeneration im Jahrzehnt nach dem nicht überwundenen Schock des Weltkriegs aus.
Am 30. Januar 1933, dem Tag von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, verlässt Roth Deutschland für immer. Sein Brief an Stefan Zweig dokumentiert Weitsicht: „Inzwischen wird es Ihnen klar sein, daß wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.“41
Das menschliche Ende Roths datiert auf den Juli 1936, als der schwere Alkoholiker Roth auf Einladung Zweigs nach Ostende reist, wo er der in der Emigration lebenden Schriftstellerin Irmgard Keun begegnet. Beide berauschen sich an einander wie zwei Ertrinkende. „Da hatte ich das Gefühl, einen Menschen zu sehen, der einfach vor Traurigkeit in den nächsten Stunden stirbt. Seine runden blauen Augen starrten beinahe blicklos vor Verzweiflung, und seine Stimme klang wie verschüttet unter Lasten von Gram. Später verwischte sich der Eindruck, denn Roth war damals nicht nur traurig, sondern auch der beste und lebendigste Hasser.“42 Ausdruck dieser Beziehung liefert Beichte eines Mörders
Zwei literarische Phasen
Frühphase(1916-1929)
Roth wird in eine Zeit der großen Umbrüche und des religiösen Nihilismus Ende des 19. Jahrhunderts hineingeboren. Vierzehn Jahre ist er, als Schnitzlers Der Weg ins Freie erscheint als literarische Antwort auf Turgenjews Väter und Söhne und Resümee einer Entwicklung, die nicht mehr aufzuhalten ist.
In seinem galizischen Heimatort Brody wächst Roth mit Denkern der westeuropäischen Aufklärung Seite an Seite mit orthodoxen Glaubenstraditionen der Ostjuden auf. Skeptischer Rationalismus und gläubiger Traditionalismus; ein kultureller Schmelztiegel prägen seine Biografie. Die Suche nach einem festen Standpunkt bildet ein Lebensthema von Beginn an. Die Forschung differenziert den sozialistisch „roten Joseph" und den katholischen bzw. jüdischen „schwarzen Roth“. Wie der Biotop, in dem er aufwächst, trägt der Autor mehrere widersprüchliche Teile in sich, die koexistieren und sich anfänglich befruchten. Sozialismus ist Religion für das Diesseits, Traum vom irdischen Paradies, der zunehmend mit Gewalt eingefordert wird. Glaube ist die Wissenschaft vom Jenseits, der sich zunehmend aus der Wirklichkeit zurückzieht. Die Folge, jedenfalls bei Roth, ist der Anspruch auf eine wahre Legende.
Der Widerspruch zwischen sozialen und religiösen Bekenntnissen veranlasst diverse Literaturkritiker zu der Vermutung, Roth habe um 1930 mit Hiob eine radikale und unwiederbringliche Wandlung vom Sozialisten zum konservativen Denken vollzogen. Obwohl sich gerade am Romanwerk Indizien für einen Schwerpunktverlagerung aufzeigen lassen, muss die Diagnose des großen Bruchs in Roths Leben nicht stimmen.
Vielmehr gewinnt Roth für den aufmerksamen Leser Konturen, in der Zweifel und Hoffnung, Empörung und Resignation alternieren. Es gibt keine Sicherheit, weshalb sollte ein intelligenter Mensch darum an einem Versprechen, gleich welcher Art, festhalten? Er führt das Leben eines Entwurzelten von Anfang an. Seine letzte Erzählung Die Legende vom Heiligen Trinker manifestiert neben biografischen Bezügen, dass selbst innerer Wandel und sichtbar äußeres Verhalten nicht kongruent verlaufen müssen. Andreas ändert sich und bleibt sich dennoch treu; er bewahrt sich seine Menschlichkeit, indem er sich konsequent permanent betrinkt.
Roth ist nicht nur ein präziser Beobachter, der im Detail einen Ausdruck für das Ganze sieht, sondern lebenslang auch ein mitfühlender Moralist und humorvoller Humanist. Ein Anwalt der Menschlichkeit implizit ihrer Verfehlungen, Schwächen und Sünden, diesbezüglich Dostojewski seelenverwandt. Daher kann er auch gleichzeitig ein überzeugter Sozialist, Katholik und Jude sein fern unvereinbarer Ideologien. Auch das ist Zeichen eines Grenzgängers.
Ganz für eine Seite lässt er sich nicht gewinnen, weder den Marxismus bzw. Kommunismus, noch für die Sozialdemokratie. Er heiligt weder die Festtage noch hält er den Sabbat des Talmud, ist strikter Gegner des Zionismus. Sein Herz schlägt milde gegenüber Andersdenkenden und verträgt sich nicht mit Dogmen. Er ist kein Theoretiker, immer geht es um das Konkrete und das rechte Maß, darin erinnert er an Montaigne. Seine Arbeit legt Zeugnis ab für die „sinnlichste Wahrnehmung, die ein deutschsprachiger Dichter jemals hatte."43
Die religiöse Gesinnung auf der Basis eigener Erfahrung und Erlebnisse zwingt ihn notorisch zum Kampf gegen erstarrte orthodoxe Konfessionen, die er im Roman Der stumme Prophet" nachvollziehbar illustriert. Wie schon ansatzweise in Die Flucht ohne Ende stellt Roth hier die Verfehlung des Sozialismus und Russland dar und schafft sich dort Feinde. Beide Schriften gelten in ihrer Kritik an der Linken der Abrechnung mit der nationalsozialistischen Ideologie in Das Spinnennetz oder in Rechts und Links.
Aufgrund seiner Menschenverachtung das kommunistische Regime in Russland an den Pranger. Als Pazifist lehnt er es ab, Menschen für eine Idee zu töten, selbst wenn es die richtige ist und dieses Verbrechen als notwendiges Opfer zu legitimieren. Ob er deshalb nicht die Liquidation des Antichristen gebilligt hätte, ist keinesfalls auszuschließen.
Alle Entwicklungen aus der Revolution heraus enttäuschen Roth; daher rührt sein Misstrauen sie als Alternative zur gestürzten Monarchie anzunehmen. Der Vormarsch des Stalinismus und Faschismus wird in der Demokratie keineswegs aufgehalten, sondern gefördert. Ohne religiöses Surrogat ist es offenbar unmöglich ist, die Basis für ein gesellschaftliches Miteinander zu schaffen, Vorurteile und ökonomische Interessenskonflikte zu überwinden. Aus Pragmatismus vereint er jüdische und katholische Konfessionen in seiner Mystik. Roths soziale Kritik manifestiert sich besonders in den frühen Romanen Das Spinnennetz, Hotel Savoy, Die Rebellion, die allesamt zeitgenössische Romane der Weimarer Republik sind und deren Schwächen, u. a. den Bürokratismus enthüllen. Er steht immer auf der Seite der Opfer Verlierer und der Entwurzelten (meist Kriegsheimkehrer), wie Hermann Hesse pointiert bemerkt. Schon in seinen ersten Jahren als Autor macht Roth deutlich, dass der Verzicht auf Spiritualität vereinsamt. Andreas Pum in Die Rebellion bleibt ohne religiösen Trost haltlos und gerät aus dem Gleichgewicht, weil sein Vertrauen in Recht und Ordnung naiv anmutet. Am Ende erklärt er zornig Gott den Krieg und will lieber in die Hölle, wo er vermutet, dass es gerechter zugehe. Moralisch integre Charaktere wie er zerstören entweder sich selbst oder werden marginalisiert und schikaniert.
Ein klares Glaubensbekenntnis, das über den Humanismus (Rousseaus Mitgefühl) hinausreicht, bleibt der Autor schuldig. Er deckt auf, ohne anzuklagen und er verteidigt Werte ohne Plädoyer. Leitmotiv bis Hiob (1930) bleibt der Menschen in der Fremde ohne Halt und ohne Zukunft. Der Theorie von Isaac Berlin nach, der Künstler in Igel mit einer großen Idee und in Fuchs mit viele kleinen Ideen unterscheidet, ist Roth klar ein Igel des Zusammenbruchs.
Eine tragende Bedeutung nehmen Topografie und Heterotropie in Roths Werk ein. Die in Wien oder Berlin lokalisierten Romane folgen drei Werke, die ihren Schwerpunkt in Russland besitzen. Der Auseinandersetzung mit dem rechten Terror folgt eine Absage an den Linksradikalismus.
Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger gehören zu jenen sozialistisch engagierten Autoren, denen Roth Aufrichtigkeit und Menschlichkeit nicht abspricht. Näher stehen ihn jedoch die Kollegen Werfel, Toller, Weiß oder Schickele, die in ihrer Zeit nicht nur die Mängel diagnostizieren, sondern dem offensichtlichen Werteverlust mit Güte und spiritueller Kraft begegnen.
Spätwerk (1930-1939)
In allen literarischen Werken findet seit seiner Reportage Juden auf Wanderschaft, spätestens aber mit Hiob Roths eine religiöse Reflexion statt, welche die politische etwas in den Hintergrund rückt. Weniger die sozialen Nöte, mehr der Verlust von Heimat bewirken Haltlosigkeit und Krisenbewusstsein. Das Schicksal seiner Figuren erlaubt Rückschlüsse auf den Mensch Roth; Leben und Werk bedingen sich in seinem Fall wechselseitig. Am deutlichsten sind die religiösen Zweifel im Roman Hiob; zugleich vollzieht Roth durch die glaubhaft geschilderte Krise seine eigene Hinwendung an die jüdische Mystik. Immer deutlicher kristallisiert sich Sehnsucht nach Erlösung und Gerechtigkeit heraus, die in der irdischen Immanenz nicht fehlt.
In Hiob und Tarabas entwirft Roth positive Gegenbilder zu den pessimistischen Gesellschaftsanalysen seines Frühwerks. Mendel Singer, insbesondere sein Sohn Menuchim, empfangen den späten Lohn des Gerechten für ein Leben, das Gott länger die Treue hält, als es Gläubigen gewöhnlich gelingt. Auch der raue Soldat Tarabas erfährt am Ende Vergebung und Seelenfrieden. Wenngleich die Melancholie nicht verschwindet, so treten Empörung und Rebellion bzw. Resignation zurück zugunsten einer Sanftmut und Lebensweisheit.
Der biblische Hiob dient Roth als Vorbild für den rechten Umgang mit Leid und lässt den Erzähler trotz offensichtlicher religiöser Skepsis angesichts des Bösen, das auf der Erde geschieht, am Ende zu der Einsicht gelangen, dass es das Göttliche und Gute gibt und ewig geben wird. Nicht zufällig endet Mendels Leben im Aufzug eines Hochhauses irgendwo zwischen Erde und Himmel.
Oberst Tarabas vollzieht eine echte Bekehrung vom gewalttätigen Autokraten zum reuigen Sünder und stirbt friedlich als Mönch, der strenge Beamte Eibschütz gewinnt durch späte Liebe verlorene Menschlichkeit zurück.
Roth verdeutlicht seinen veränderten Standpunkt im Essay Der Antichrist (1934), der eine Schlüsselfunktion besitzt. Moralische Überzeugungen genügen nicht für die härtesten Prüfungen; seine Anklage des Antisemitismus, Migrationsdruck, Assimilationszwang und Duldungspolitik treten in den Hintergrund. Roth sucht liebevoll im Individuum nach Verständnis für das kollektive Scheitern. Geschichte dient als Prüfstein und Anstoß zur Läuterung. Der Antichrist weist humanitären Katastrophen einen klaren biblischen Bezug der Katharsis zu. Roth sucht nach falsch verlaufenen Revolutionen Trost und Hoffnung im religiös irrationalen Bekenntnis zur Monarchie. „Ist das noch Heimat? War ich nicht nur deshalb heimisch in diesem Ort, weil er einem Herrn gehörte, dem ebensoviele unzählige andersartige Örter gehörten, die ich liebte? Kein Zweifel! Die unnatürliche Laune der Weltgeschichte hat auch meine private Freude an dem, was ich Heimat nannte, zerstört. Jetzt sprechen sie ringsum und allerorten vom neuen Vaterland. In ihren Augen bin ich ein sogenannter Vaterlandsloser. Ich bin es immer gewesen. Ach!“ Es gab einmal ein Vaterland, ein echtes, nämlich für die Vaterlandlosen, das einzig mögliche Vaterland. Das war die alte Monarchie. Nun bin ich ein Heimatloser, der die wahre Heimat der ewigen Wanderer verloren hat.“44
Roth glaubt nicht an Gottes Allmacht, seine Gerechtigkeit und eschatologisches Heil. Er hält es jetzt für eine dienliche Notwendigkeit, an das Gute im Menschen und auch in sich selbst zu glauben. Daran, dass es für alle eine Heimat geben muss, wenn nicht auf der Erde, so doch im Herzen, das er einen blinden Spiegel heißt. Was seinen Spätwerk in zunehmenden Maße anhaftet, ist die Aufarbeitung der Habsburger Monarchie durch Fatalismus und Dekadenz. Untrennbar von Roths religiösem Bekenntnis sehen viele Kritiker sein nostalgisches Heimweh zur untergegangenen Dynastie als Flucht in die Mystik.
Über sein berühmtestes Werk sagt der Autor: „Ich habe die merkwürdige Familie der Trottas, von denen ich in meinem Buch Radetzkymarsch berichten will, gekannt und geliebt, die Spartaner unter den Österreichern. An ihrem Aufstieg, an ihrem Untergang glaube ich den Willen jener unheimlichen Macht erkennen zu dürfen, die am Schicksal eines Geschlechts dasjenige einer historischen Gewalt deutet."
Der Roman enthält mystische Momente wie den Duft von Reseda, doch er liefert eine klare Bestandsanalyse und ohne Theorie auch Gründe für den Untergang. Er bewegt sich zwischen Mechanismen einer Chronik und Beteiligung eines Betroffenen. In dem Scheitern Trottas liegt auch Unfähigkeit zu einem neuem Leben außerhalb dem Vielvölkerreich Österreich-Ungarn.
Die folgenden Romane Das falsche Gewicht, Die Kapuzinergruft, Die Geschichte von der 1002. Nacht zeigen unmissverständlich auf, warum die charmante, aber morbide Habsburger Monarchie untergehen musste: Sie war zersetzt von Doppelmoral und Scheinheiligkeit, einer Lähmung und Paralyse, die charakteristisch für jede Form von kultureller Agonie ist.
Roth stilisiert den traditionsbeewussten Chronisten, der retardiv, nostalgisch und restaurierend die Schönheit des Verblassens und den Charme der Dekadenz besingt. Wiener Impressionismus, das sind Sittengemälde durch pointierte Beobachtung, Bonmots und Anekdoten. Das ist Caféhausliteratur, ein wenig Märchen, Rauch und Fantasie, ohne im Klischee zu erstarren. Die Trottas dieser Welt, tragen sie auch andere Namen, stehen wie ausgehöhlt und brüchig vor und an den Gräbern. Das religiöse Fundament der Habsburger Gesellschaft ist mit dem Kaiser, den alle kannten und wertschätzen, erloschen, die Auflösung beschlossene Sache. Auf die Erosion folgt: Nichts.
Folgerichtig lässt Roth seine Anti-Helden Trotta, Eibenschütz und Taittinger sehenden Auges willentlich untergehen wie das System, aus dem sie stammen und von dem sie sich niemals lösen können. Neben der süßlich - morbiden Dekadenz, die tanzend und singend zugrunde gehen muss, bergen die k .u. k. Romane den unerfüllbaren Wunsch, die versunkene Heimat als heile Idealwelt mittels literarischer Erinnerung zurück zu erlangen, wie der eingangs zitierte Satz dokumentiert: „Es war eine kalte Sonne, aber es war (m)eine Sonne.“
Neue Sachlichkeit
Die Werke Roths einer bestimmten Richtung oder Gruppierung der zeitgenössischen Literatur wie dem Existentialismus oder Symbolismus zuzuordnen, fällt schwer. Am ehesten noch verbindet man ihn mit der Richtung Realismus der Neuen Sachlichkeit, und diese Zuordnung mag vor allem für seine frühen Romane auch zutreffend sein. So trägt Flucht ohne Ende nicht nur den Untertitel Ein Bericht, im Vorwort versichert der Autor auch: „Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert.“ Fakten, Auswertung und das Objektive an die Stelle subjektiver Empfindung zu setzen, charakterisieren diesen Stil.
Allerdings auch Schnörkellosigkeit, bewusster Verzicht des Dekorativen und dies kann einem Poeten nur prosaisch anmuten. So distanziert sich Roth 1930 in seinem Essay „Schluß mit der „Neuen Sachlichkeit“ (erstmals publiziert in der Literarischen Welt); unmissverständlich erteilt er dieser kühlen literarischen Richtung eine Absage. Kalt an sich muss nicht literarisch sein, wie Flaubert paradigmatisch exemplifiziert. Auch schließt Beobachtung Sentimentalität nicht aus.
Roth kritisiert von einem journalistischen Standpunkt aus die Unförmigkeit einer Literatur, die sich auf nackte Tatsachen beschränken will, indem er der Zeugenaussage den (geformten) Bericht gegenüberstellt: „Das Faktum und das Detail sind der Inhalt der Zeugenaussage. Sie sind das Rohmaterial des Berichts. Das Ereignis „wiederzugeben“, vermag erst der geformte, also künstlerische Ausdruck, in dem das Rohmaterial enthalten ist wie Erz im Stahl, wie Quecksilber im Spiegel.“45
Roth wirft den Autoren der Neuen Sachlichkeit vor, die Erwartung des naiven Lesers zu ignorieren: „Der primitive Leser will entweder ganz in der Wirklichkeit bleiben oder ganz aus ihr fliehen“. Damit rechtfertigt er seine Vorliebe für das subjektiv Authentische des Augenzeugen. Nackte Zahlen lernt man aus dem Geschichtsbuch, Mitgefühl nur aus dem Erleben. Der Journalist weiß um die Problematik der Objektivität, die Arbeit, aus Einzelaussagen einen neutralen Bericht zu formen: „Erst das „Kunstwerk ist echt wie das Leben … Der Erzähler ist ein Beobachter und ein Sachverständiger. Sein Werk ist niemals von der Realität gelöst, sondern in Wahrheit (durch das Mittel der Sprache) umgewandelte Realität.“