Читать книгу Immer im Rampenlicht - Bernd R. Hock - Страница 10
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MEIN ERSTER BLICK INS LICHT
Es gibt Geburtstage, an die kann man sich ein Leben lang erinnern. Der Fünfzigste zum Beispiel, der groß gefeiert wurde. Oder der Achtzehnte. Endlich volljährig! Oder meinetwegen auch der Dreiundvierzigste, weil man etwas ganz Unpassendes geschenkt bekommen hat, Tante Rosi sich ein Glas Rotwein über ihr nagelneues Satinkleid gekippt hat oder Onkel Harald und Onkel Franz sich am späten Abend ziemlich betrunken fürchterlich über Politik gestritten haben.
Wie ist es mit dem echten Geburts-Tag? Die persönliche Stunde null! Der Tag, an dem man das Licht der Welt erblickt hat!
Daran hat man keine bewussten Erinnerungen, man kennt ihn nur aus Erzählungen. Ich natürlich auch. Trotzdem glaube ich, ziemlich genau zu wissen, wie meine Geburt abgelaufen und was unmittelbar danach geschehen ist. Diese Sicherheit gründet sich auf intensive Gespräche mit meiner Mutter und ihre Erinnerungen an den 15. März 1968 und auf meine nicht logisch erklärbare Herzens-Überzeugung: »Genau so muss es gewesen sein damals, als Gott wollte, dass ich lebe!«
Ich bin splitternackt und es geht mir gut. Sehr gut! Ich habe alles, was ich brauche: Nahrung, Wärme und irgendwie rundherum gute Gefühle.
Obwohl? So ganz stimmt das nicht. Heute nicht. Heute fühlt es sich anders an, irgendwie unruhiger. Zumindest seit ein paar Stunden. Es rumpelt und gluckert um mich herum. Mehr als sonst. Gedämpft nehme ich aufgeregte Menschen da draußen wahr, die irgendetwas vorbereiten, was mit mir zu tun hat.
Der Herzschlag meiner Mutter, dem ich stets so nah bin, ist schneller als sonst. Schneller, wuchtiger, unregelmäßiger. Okay! Es ist etwas enger hier drinnen geworden in den letzten Wochen, aber das ist noch lange kein Grund umzuziehen! Warum denn auf einmal so ein Stress? Hoffentlich beruhigt sich die Lage gleich wieder!
»Herr Doktor, ich glaube Sie können sich schon einmal bereit machen. Bei der Frau Hock geht das jetzt langsam los«, höre ich dem Treiben zu und spüre, dass Veränderungen mit großer Tragweite wohl nicht mehr abwendbar sind. Auch mein Herz pocht jetzt heftiger als sonst.
Irgendetwas drückt massiv. Dann wieder diese Stimme: »Oh! Steißlage!« Mit heftigem Druck werde ich aus meiner wunderbaren Behausung, in der es mir die letzten neun Monate so gut ging, in einen viel zu engen Kanal gepresst.
Sag mal, packt mich da jemand am Hintern?! Wieder Druck. Panik! Was soll denn das alles? Kann es nicht einfach für immer so bleiben, wie es ist?
Danach geht es verhältnismäßig schnell und ziemlich brutal weiter. Ich bin nicht sicher, ob ich das alles überleben werde, was mir da gerade passiert: Stöhnen vor Schmerzen, Kommandos, Druckwellen, Herzrasen, Enge, heftiges Schaukeln, Schwindel, Panik, Atemnot, wieder Druck und plötzlich wird es verdammt hell. Hell und richtig kalt.
»Es ist ein Junge!«
Ich bin jetzt vollkommen schutzlos! Blut und andere glibberige Massen kleben überall, auch in meinem Mund und meinen Nasenlöchern. Ich will schreien. Es geht nicht.
Dass hinter mir meine total erschöpfte Mutter liegt, merke ich nicht. Dass vor mir eine Frau und ein Mann total erschrocken sind, nehme ich irgendwie wahr. Auch dass der Mann im weißen Kittel sehr schnell dafür sorgt, dass ich auf einen Untersuchungstisch gebracht werde, entgeht mir nicht.
»Was isch donn do los? Der kreischt jo gar net, der Bu!«, ruft meine Mutter sorgenvoll im Pfälzer Dialekt.
Der Gynäkologe, der ihr immer noch den Rücken zudreht, mich verdeckt und untersucht, antwortet: »Der kreischt glei, awwer er hot ebbes on de Ärm!« (»Der schreit gleich, aber etwas mit seinen Armen stimmt nicht.«)
Meine Mutter fragt zunächst nicht weiter nach, sie ist zu erschöpft. Fühlt sich kraftlos und hilflos. Die Untersuchungen mit dem Hörrohr während der Schwangerschaft meiner Mutter sind alle unauffällig gewesen. Niemand hat etwas Außergewöhnliches bemerkt – bis jetzt.
Ich bin immer noch unter Schock und immer noch so still wie später mein ganzes Leben nicht mehr. Ich werde sauber gewischt und es wird weiter an mir herumgedoktert. Ich bemerke eine gedrückte und traurige Stimmung im Kreißsaal und spüre, dass ich wohl der Grund dafür bin.
Endlich kann ich schreien und tue dies auch. Vielleicht aus Wut. Die Hebamme bringt mich frisch gesäubert und eingewickelt zu meiner Mutter und legt mich auf ihren Bauch. Meine allererste, kleine Bühne!
»Da bin ich, Mama! Wahrscheinlich nicht ganz so, wie du dir das vorgestellt hast, tut mir leid. Entschuldigt alle hier im Kreißsaal! Ich wollte euch bestimmt nicht erschrecken!«
Irgendwann am Abend sind meine Mutter und ich endlich ganz allein in einem Klinikzimmer. Nicht, weil meine Eltern sich den Luxus eines Einzelzimmers leisten können, sondern vielmehr deshalb, weil man andere Wöchnerinnen durch meine Anwesenheit nicht beunruhigen will.
Es ist so aber auch genau richtig für Mama und mich. Schön, dass wir beide jetzt endlich einmal allein sind! Sie legt mich an ihre Brust und ich beruhige mich. Angeschmiegt an warme weiche Haut ist es zwar nicht ganz so angenehm wie in der Gebärmutter, aber doch durchaus akzeptabel.
Ich glaube, meine liebe Mutter ist noch ziemlich aufgewühlt. Sie schaut mich an. Was sie wohl denkt? »Wie soll des donn alles werre? Wie solle ma donn des alles schaffe? Ma wääß jo noch gar net, was der Bu noch fer Behinnerunge hot?« (»Wie soll das bloß alles werden? Wie sollen wir das alles schaffen? Wer weiß, was der Junge vielleicht noch für Behinderungen hat?«)
Ich verfolge mit meinen glänzenden Augen wachsam ein flackerndes Deckenlicht. Kein Rampenlicht, wie es mich später in Koblenz und anderswo erwarten wird, einfach eine stinknormale, defekte Neonröhre. Mal flackert sie auf der einen, mal auf der anderen Seite. Da flackert plötzlich wohl auch etwas im Herzen von Mama auf, die mich beobachtet. Eine wohltuende Wärme breitet sich aus. Freude bricht sich Bahn. Endlich etwas Mutterglück. Sie bleibt mit ihren Gedanken im Heute, im Hier, im Jetzt. Dies ist spürbar für mich, denn Mama wird ruhiger. Ihre Ruhe überträgt sich über die Muttermilch auch auf mich. Die Nabelschnur wurde gekappt, eine neue Leitung ist gelegt.
Dankbar beobachtet meine Mutter meine interessierten Augen und weiß ganz plötzlich: »Also am Kopp hot der Bu nix!« (»Also eine geistige Behinderung hat der Junge nicht!«)
Das scheint Trost und Ermutigung genug. Genug für jetzt. Genug für diesen Moment. Genug für uns beide.
Mama streichelt meinen Kopf und gibt mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Die Deckenleuchte verliert an Bedeutung und ich schaue in das Gesicht meiner Mutter. Ich fühle mich geborgen. Sie schaut mich an. Sie nimmt mich an. Sie lächelt. Fürs Erste bin ich in Sicherheit. Vielleicht lässt es sich hier draußen doch leben?!
Hier, auf dieser großen Weltbühne!