Читать книгу Immer im Rampenlicht - Bernd R. Hock - Страница 9
1 BÜHNE FREI FÜR MEIN ERSTES MAL
Оглавление»Ist es dein erstes Mal?«, fragt sie mich und holt ihre Maske aus der Plastiktüte. Sie wartet keine Antwort ab: »Das muss klappen hier, hörst du?! Du darfst nicht versagen, darfst dir keine Fehler erlauben. Die da draußen sind gnadenlos!«
Ich nicke – ungewohnt schüchtern.
»Ist das deine komplette Verkleidung oder ziehst du dich noch um?«, fragt sie weiter und mustert mich dabei von oben bis unten. Verunsichert betrachte ich mich im Spiegel. Ich trage das, was ich immer trage, weil es bequem und trotz meiner Körperbehinderung – meinen kurzen Armen, krummen Händen und den wenigen kleinen, deformierten Fingern – selbstständig für mich handelbar ist: Schuhe, Socken, eine dunkelblaue Jogginghose und ein rotes Sweatshirt. Ganz wichtig: ein Sweatshirt ohne Bündchen am unteren Ende. Bündchen sind etwas ganz Schreckliches für Menschen mit kurzen Armen! Sie verhindern nämlich, dass das Kleidungsstück von alleine, also nur von der Erdanziehungskraft geleitet, am Körper hinuntergleitet. Pullover mit Bündchen müssen heruntergezogen werden. Dazu braucht man eigene lange Arme oder freundliche Helfer. Mit meinem roten bündchen-freien Sweatshirt kann ich beides entbehren. Das ist Freiheit!
Corinna zieht ihre Latex-Maske über den Kopf. Ihre Stimme klingt nun gedämpft: »Mit so einer Maske auf dem Kopf bist du ganz weit vorne, musst aber auch echt Profi sein. Du musst ganz konzentriert atmen, sonst kippst du aus den Latschen, weil dir die Luft ausgeht!«
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich habe Corinna vor circa einer Stunde kennengelernt. Wir teilen uns eine Garderobe im Backstage-Bereich, denn wir haben beide heute Abend im Rahmen einer großen Faschingsveranstaltung einen Auftritt.
»Jetzt sieht sie saudämlich aus in diesem Hühnchen-Kostüm«, denke ich. Auch die Hühnerkopf-Latexmaske reißt es nicht raus. Wie »Bibo« aus der Sesamstraße in billig! Ich finde es gar nicht witzig, sondern einfach nur peinlich.
»Na? Wie findest du mich in dem Kostüm!«, fragt sie, tänzelt mit riesigen Hühnerfüßen aus Gummi um mich herum und wackelt mit ihrem auffälligen Kunstfeder-Hintern.
»Richtig gut! Total lustig! Das wird bestimmt der Brüller, wenn du gleich auf die Bühne gehst!«, lüge ich.
»Als verrücktes Huhn trete ich schon seit fünf Jahren auf. Hier in der Rhein-Mosel-Halle in Koblenz bin ich allerdings zum ersten Mal. Das ist die beliebteste Faschingsveranstaltung in der ganzen Gegend. Wenn du hier auftrittst, wird über dich geredet. Richtig fette Promo. Die nehme ich natürlich gerne mit.«
Tausendfünfhundert Menschen! Wo ist das nächste Tier-Kostüm?! Ich will hinein, um mich darin zu verstecken.
Die Garderobentür wird geöffnet und Bettina, die zierliche, selbstbewusst wirkende Regieassistentin, steckt ihren Wuschelkopf herein: »Corinna! Du bist gleich dran. Bist du so weit?«
Corinna präsentiert sich mit einer Bewegung wie ein »Nummern-Girl« aus dem Varieté, entlockt Bettina allerdings überhaupt keine Regung. Stattdessen wendet sie sich an mich: »Bernd, nach Corinnas Hühnchen-Darbietung wird das Motto-Lied mit dem Publikum gesungen und danach bist du dran! Du kannst dich also auch gleich auf den Weg zur Bühne machen.«
Corinna hat sich schon an uns vorbeigeschoben und ist weg. Bevor auch Bettina wieder verschwindet, schaut sie mich etwas gedankenversunken an. Wie oft in solchen Augenblicken glaube ich, ihre Gedanken lesen zu können: »Ob das richtig war, den zu engagieren? Der hat keine Bühnenerfahrung, ist offensichtlich behindert – und dann hier in so einer bedeutenden Sitzung. Das geht nicht gut.«
Doch Bettina verschwindet ohne ein weiteres Wort. Ich schaue mich noch einmal im Spiegel an: platte Frisur, viel zu große Brille und viel zu großer Bauch. Mit einem Achselzucken und einem leichten Kopfschütteln verlasse ich meine Garderobe und gehe durch einen schmalen Flur. Je näher ich der Bühne komme, desto lauter wird die Musik – und ein lautes Gackern vom Band. »Okay, Corinna zieht gnadenlos durch!«, schießt es mir durch den Kopf.
Ich gelange an den Bühnenrand, von wo aus ich im Schutz des Seitenvorhangs das Geschehen genau verfolgen kann. Die Halle ist ausverkauft. Über 1 500 Menschen in Feierlaune warten, nein, nicht speziell auf mich, aber anscheinend mehr auf gute Satire als auf flache Gags.
Ich treffe erneut auf die Regieassistentin, die mir letzte Anweisungen gibt: »So, Bernd, nach dem Lied werden wir deinen Tisch in die Mitte der Bühne tragen und du wirst angesagt. Dann gehst du bitte direkt auf deine Position und lieferst den Beitrag ab!«
Mein Lampenfieber schießt in schwindelerregende Höhen. Ich bin der einzige Neuling in der Szene an diesem Abend und werde nächsten Monat gerade mal zwanzig Jahre alt. Okay, ich parodiere hobbymäßig Promis aus Politik, Sport und Showbusiness, für meine Begriffe aber mehr schlecht als recht. Alles bisher nur für den Hausgebrauch. Auf Geburtstagsfeiern – »Mensch, Bernd, mach doch mal den Helmut Kohl!« –, auf Schul- oder Studentenfesten und immer vor Publikum, welches mich kennt und mir wohlgesonnen ist. Niemals vor Fremden und niemals vor so einer großen Masse. Warum habe ich mich nur in dieses Engagement hineinquatschen lassen?
Corinna ist gerade dabei, sich unter verhaltenem Applaus zu verbeugen. Für meine Begriffe ist sie immer noch nicht unterhaltsam in ihrem Kostüm, nur peinlich. Jetzt verlässt sie die Bühne und kommt direkt auf mich zu: »Ein Scheiß-Publikum! Kein bisschen locker. Voll bescheuert! Bin froh, dass ich es hinter mir habe. Zieh einfach professionell durch. Hörst du? Abhaken. Toi, toi, toi!«
Ich hoffe spontan auf Feueralarm oder Stromausfall oder etwas anderes, das den sofortigen Veranstaltungsabbruch nach sich ziehen würde. Noch befinde ich mich im Schutz des Seitenvorhangs.
Der letzte Refrain des geselligen Stimmungsliedes reißt mich aus meinen Gedanken. Ich beobachte, wie zwei Bühnenarbeiter für meine Darbietung einen Tisch in die Mitte der Bühne tragen, einen Stuhl dahinterstellen, ein Mikrofon aufbauen und mein Skript bereitlegen.
Im Saal wird das Licht wieder dunkler, auf der Bühne auch. Tisch und Stuhl werden mit einem Spot ausgeleuchtet.
Irgendwie kriege ich jetzt Bock! Ganz plötzlich. Ich kann es nicht erklären, aber von der einen auf die andere Sekunde sinkt mein Lampenfieber, als hätte man mir riesige, eiskalte Wadenwickel gemacht. Ich bin bereit. Ich habe Lust. Ich will raus!
Nun sagt mich doch endlich an!
Endlich höre ich meine Stichworte: »Begrüßen Sie jetzt mit einem donnernden Applaus …«, der Sitzungspräsident muss noch einmal auf seinen Notizzettel schauen, ich laufe schon los. »… Bernd Hock!«
Ich gehe direkt zu meinem Tisch. Nicht schüchtern, nein, ich schreite festen Schrittes. Ich gehe nicht wie ein Anfänger in Trainingshose, ich trete auf!
Der Begrüßungsapplaus ist ganz und gar nicht donnernd. Kein Vorschuss, einfach Geklatsche halt. Wahrscheinlich hat das Publikum nicht mit einem »Behinderten« gerechnet.
Als ich am Tisch sitze, schaue ich ins Publikum, obwohl ich es aufgrund des Scheinwerfers gar nicht richtig sehen kann. Ich mache nichts, schaue nur. Mit mir zusammen haben an diesem Samstag, den 13. Februar 1988, 14 prominente Personen aus den Bereichen Politik, Sport, Show-Business, Kirche und Journalismus Platz genommen, die ich nun gleich in Mimik, Gestik und vor allem in ihrer Stimmlage parodieren und in meiner Satire agieren lassen werde, unter ihnen Ronald Reagan, Willy Brandt, Boris Becker und der Papst.
Die Aufregung, die ich jetzt spüre, ist gut, sie macht mich high. Gleichzeitig habe ich aber auch noch etwas Angst vor einem Texthänger oder davor, dass mir eine Parodie nicht so gut gelingen wird.
Ich beginne mit meiner Parodie der Journalisten-Legende aus dem WDR, Ernst-Dieter Lueg, und stelle alle Promis am Tisch einmal kurz vor. Die Stars parodiere ich jeweils, kurz nachdem Lueg sie vorgestellt hat, lediglich pantomimisch. Das kommt schon recht gut an und ich freue mich, dass das Publikum reagiert.
Als Ernst-Dieter Lueg stelle ich nun Helmut Kohl eine Frage. Für die Antwort ziehe ich mir eine entsprechende »Kohl-Brille« auf, modelliere mimisch das Kanzler-Doppelkinn, Zunge raus, Zunge rein und Ton zum Bild: »Also in aller Enchiedenheit, Herr Lueg …« Ich werde direkt von Applaus unterbrochen und das Orchester spielt drei Tuschs! Ich empfinde ein Glücksgefühl, welches ich in meinem späteren Leben immer nur auf der Bühne oder beim Sex empfunden habe.
»Ich krieg sie!«, denke ich. Ich bin dort, wo ich mich wohlfühle: im Mittelpunkt des Geschehens. Ich genieße die volle Konzentration des Publikums. Dass man diese Gabe professionell »Bühnenpräsenz« oder etwas deftiger ausgedrückt das »Rampensau-Gen« nennt, wusste ich damals noch nicht.
Jetzt komme ich in den sogenannten Flow, den jeder Künstler kennt. Ich koste die von mir deutlich überzeichneten Charakteristika der Promis bis ins Letzte aus, lasse mir Zeit und genieße es, dass meine Pointen und Wortspiele zünden.
Die Promis streiten miteinander und meine Überzeichnungen sorgen immer wieder für spontanen Zwischenapplaus und Tuschs. Mein Publikum geht total ab, ich fliege durch meine Nummer. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung und Freude im Saal, dass ich es kaum fassen kann.
Ich bin ein Star! Bitte hol mich niemals jemand hier raus! Kein Defizit steht im Mittelpunkt. Man nimmt mich so wahr, wie ich gerne bin. Ich genieße es, dass ich angeguckt und beobachtet werde, weil so viel Positives rüberkommt. Ich fühle mich angenommen!
Das Schaumbad der Bewunderung ist eingelassen und ich tauche ganz tief ein und genieße. Nicht still, das bin ich nicht. Ich genieße laut. Ich gebe alles, verausgabe mich total. Schwitze wie ein Schwein und presse die verschiedenen Stimmen am Kehlkopfdeckel vorbei, bis ich im Verlauf der Nummer etwas heiser werde.
Das ist perfekt für meine abschließenden Parodien von Willy Brandt und Ronald Reagan, dem vierzigsten Präsidenten der USA. Danach mache ich den Sack zu und wünsche allen als Ernst-Dieter Lueg »eine gute Nacht!«.
Ich stehe auf und verbeuge mich. Setze mich wieder hin, denn ich muss mehrere Zugaben geben. Eine habe ich vorbereitet, dann folgen noch weitere vier, alle spontan. Als ich wieder aufstehe, um mich endgültig zu verabschieden, bleibt mein bündchen-freies rotes Sweatshirt nicht in der Position hängen, in die es durch meine gedrungene Sitzhaltung geschoben wurde, sondern fällt nach unten und verdeckt meinen untersten Rettungsring aus Fett. Perfekt! Ich trete ganz nach vorne an den Bühnenrand, die »Sau« tritt an die Rampe. Heraus aus dem grellen Licht des Scheinwerfers, der mir den Schweiß literweise aus den Poren treibt. Ich will dieses großartige Publikum sehen, mich bedanken bei den Menschen, die mich angenommen haben. Will mich suhlen im warmen Matsch der schnellen Anerkennung.
Ich kann es kaum fassen. Alle stehen auf! Standing Ovations! Die Menge jubelt mir zu. Publikum und Festkomitee feiern mich in einer Art und Weise, wie ich mir dies nicht hätte träumen lassen. Eine Applaus-Rakete nach der anderen wird gezündet.
Ich könnte weinen vor Glück. Vielleicht tue ich es auch ein wenig. Wie ein Staubsauger, an dessen Saugschlauch man bei vollem Betrieb das Rohr entfernt und der dann wild durch den Raum fliegt, versuche ich, den ganzen Zuspruch einzusaugen.
Nachdem ich mindestens eine Viertelstunde überzogen habe, gehe ich ab und trete zurück in den Schutz des Seitenvorhangs, der nun für mich kein Schutz mehr sein muss. Jeder darf mich sehen! Jeder!
Am Bühnenrand empfängt mich Corinna. Anscheinend hat sie meinen gesamten Auftritt von dort verfolgt, denn sie hat immer noch ihr Hühnchen-Kostüm an und hält die Latexmaske in der Hand. »Die sind bei dir ja richtig abgegangen!«, meint sie anerkennend, aber auch mit einer Portion Neid in der Stimme.
Von links kommt Bettina, die Regieassistentin, auf mich zu, umarmt mich und küsst mich. Ja, sie küsst mich! »Alter, das war ganz großes Kino! Richtig klasse! Du warst grandios! So war das Publikum noch nie dabei! – Machen wir nachher noch was zusammen?«
Ich spüre, wie Glückshormone tonnenweise in mir ausgeschüttet werden, und bin überzeugt, dass die Menge an Serotonin mich ab jetzt bestimmt jahrelang durch den Alltag tragen wird. Dass solche durch Beifall freigesetzten Hochgefühle nur eine Halbwertszeit bis zum nächsten Frühstück haben, werde ich erst am nächsten Morgen erfahren.
»Wie war ich?«, schießt es wie automatisiert aus mir heraus und ich registriere überhaupt nicht, welch selten dämliche Frage ich da gerade gestellt habe. Bettina wirkt für einen kurzen Augenblick völlig entgeistert. Kurz, sehr kurz friert ihr Gesicht ein, aber rasch entspannt sich ihre Mimik wieder und sie sagt, wohl in der festen Überzeugung, dass ich sie gerade hochgenommen habe: »Du bist echt ne coole Sau! Also nicht abhauen, hörst du. Ich will nachher noch mit dir feiern.«
Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie ein Bühnenarbeiter auf Hühnchen-Corinna zugeht. »Corinna! Du warst wieder sensationell!«, sagt er. Die beiden umarmen sich und beginnen zu tuscheln. Der Arbeiter blickt in meine Richtung und guckt unfreundlich. Er tuschelt weiter und ich habe das Gefühl, dass er sich abfällig über mich äußert. Während ich die beiden mit meinem Blick fixiere, laufen immer wieder Menschen an mir vorbei, die mich anlächeln, mir auf die Schulter klopfen oder mir mit wenigen Worten ihre Anerkennung ausdrücken. Ich bedanke mich beiläufig, meine komplette Aufmerksamkeit richtet sich jedoch auf den Dialog zwischen Corinna und ihrem Fan. Zu gerne würde ich mitkriegen, was die beiden jetzt über mich reden.
Plötzlich zerdrückt die eiskalte dunkle Hand der Angst meinen Magen und mein Herz kurzzeitig zu Brei. Ich meine, das Wort Behinderten-Bonus gehört zu haben. Ich will mich auf die beiden zubewegen, doch da wird der Bühnenarbeiter von hinten gerufen und Corinna marschiert Richtung Garderobe.
Hilfe suchend schaue ich mich um. Eine Dame mit Fotoapparat kommt auf mich zu, stellt sich als Redakteurin der hiesigen Lokalzeitung vor und meint: »Sie waren wundervoll! Hätten Sie gleich noch etwas Zeit für ein paar Fragen und ein Foto?«
»Natürlich!«, antworte ich und merke, wie ich wieder festen Boden in Form von Bühnen-Brettern unter die Füße bekomme. Bretter, die nur die Welt bedeuten! Aber in genau dieser Welt muss ich ein ganzes Leben lang zurechtkommen! Alleine!
Ich ahne nicht, dass Gott persönlich mich ziemlich genau drei Jahre später im Herzen ansprechen und beginnen wird, im »Rampen-Saustall meiner Gefühlsabhängigkeiten« aufzuräumen. Noch viel weniger ahne ich, dass dieses Aufräumen ziemlich lange dauern wird.
Gut gelaunt sehe ich noch einmal hoch zum Bühnenscheinwerfer, der gerade eine Gruppe junger Musiker anstrahlt. Ich schaue in dieses Scheinwerferlicht, in dessen Kegel ich mich getraut habe. Dick, mit kurzen Armen, in Trainingshose und mit Sweatshirt ohne Bündchen.
Der Spot bewegt sich, verfolgt das Bühnengeschehen. Ich blicke ihm versonnen nach. Das hat zwanzig Jahre früher schon einmal viel bewirkt, in einem Kreißsaal in Landau in der Pfalz.