Читать книгу Immer im Rampenlicht - Bernd R. Hock - Страница 14

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ARMER KERL – ICH?

Ich mag diese überdimensionalen Fahrstühle in Krankenhäusern, in die sogar ein ganzes Bett geschoben werden kann. Auf Knopfdruck setzen sie sich in Bewegung und bringen einen nach oben oder unten. Als Kind war ich unheimlich fasziniert davon, dass diese riesige Maschine sich genau dann in Bewegung setzte, wenn ich mit meinem kleinen Finger den entsprechenden Knopf drückte – eine schöne Metapher für mein Leben. Am liebsten habe ich es, wenn ich nur einen Knopf drücken muss und damit viel in Bewegung setze, mit wenig Aufwand hoch hinaus.

Einmal standen meine Mutter und ich in einem solchen Fahrstuhl. Ich war sechs, hatte gerade eine Blinddarmoperation überstanden und es ging mir gut, aber ich musste noch im Krankenhaus bleiben. Diesmal war ich nicht allein, meine Mutter schlief bei mir im Zimmer. Plötzlich öffnete sich die Fahrstuhltür und eine sympathisch wirkende Frau im weißen Kittel trat ein. Sie trug die gleiche Hornbrille wie vor Jahren die Pflegerin mit der Schlüsselgewalt über die Besuchertür in der Klinik.

Die Frau freute sich sichtlich, meine Mutter und mich zu treffen, und brachte dies lebhaft zum Ausdruck: »Ach Gott, Fra Hock, wie schä, dass ich Sie treff. Isch des de Biewel?! Ach Gott, bischt du en sauwrer Bu.« (»Ach Gott, Frau Hock, wie schön, dass ich Sie treffe. Ist das Ihr Sohn?! Was für ein hübscher Junge.«)

Es war die Hebamme, die mich »geholt« hatte. Ihre Freude war echt und sie griff auch nicht in irgendeine Tasche, um eine Schokoladentafel hervorzuzaubern. So wie die Hebamme aussah, aß sie die lieber selbst.

Wie schön, dass Gott mir in meinem Leben immer wieder Begegnungen geschenkt hat, die vorangegangene unangenehme Zusammentreffen ein wenig ausglichen. Frauen mit Hornbrillen in weißen Kitteln blieben in meinem Herzen nicht ausschließlich negativ besetzt.

Vom Tag meiner Geburt an hatte ich Menschen an meiner Seite, die mich liebten, die sich ein ganzes Stück für mich aufopferten und mir Mut machten. Bis heute war und bin ich durch solch wunderbare Menschen beschenkt. Es sind meine ganz persönlichen Helden! An erster Stelle stehen hier natürlich meine Eltern!

Nicht nur mein Vater, sondern auch meine Mutter hatte sich einem Facharzt widersetzt und damit eine Heldentat für mich vollbracht. Ungefähr sechs Monate war ich alt, als der Mediziner meinte, dass es fraglich sei, ob ich richtig laufen lernen könne. Daher riet er meinen Eltern dringend an, mich nachts in ein sogenanntes Gipsbett zu legen, um meine Wirbelsäule zu stabilisieren. Dieses Gipsbett war eine Schale, die exakt an meinen Körper und meine Gliedmaßen angepasst war. Dort wurde ich rücklings hineingezwängt und mit kleinen Lederriemchen an den Ärmchen und den Beinen festgeschnallt. Es gab keinen Bewegungsspielraum.

Nicht mal eine ganze Nacht habe ich in diesem Konstrukt verbracht. Ich habe so geschrien und geweint, dass es meine Mutter nicht übers Herz brachte, mich weiter dieser Fixierung auszusetzen. Sie entschied ganz eigenmächtig, einfach ihrem liebenden Mutterherz folgend, das Gipsbett in die hinterste Ecke zu stellen und mich ab sofort wieder in meinem ganz normalen Kinderbettchen schlafen zu lassen. Nach vier Wochen wurde mein Knochenbau erneut begutachtet. Meine Mutter traute sich nicht, dem Mediziner zu erzählen, dass sie sich seinen Anordnungen komplett widersetzt und das Gipsbett den Hausstaubmilben zum Fraß vorgeworfen hatte. Vermutlich war ihr ein wenig bang zumute.

Der Arzt betrachtete nachdenklich die Röntgenbilder und stellte schließlich stolz fest: »Sehen Sie, Frau Hock, wie gut, dass ich Ihnen das Gipsbett für Ihren Sohn verordnet habe. Seine Wirbelsäule hat sich vollkommen normalisiert!« Meine Mutter bedankte sich und wir drei verließen die Sprechstunde: Mama, ich und unser Geheimnis!

Dies ist kein Plädoyer dafür, sich medizinischen Ratschlägen zu widersetzen. Vielmehr will ich Eltern dazu ermutigen, bei allen Ratschlägen immer auch das eigene Mutter- oder Vaterherz zu befragen und Entscheidungen stets auf der Grundlage der tiefen inneren Überzeugung zu treffen, was jetzt gut ist und was nicht.

Ich wünsche jedem Kind auf dieser Welt Eltern, die aus einem solchen Holze sind! Eltern und auch Großeltern, wie ich sie hatte!

Besonders von Omi muss ich berichten. Omi war die Allerbeste! Sie war Gottes Ausgleich für die zahlreichen Halloween-Damen, die mir begegneten. Sie machte die schönsten Ausflüge mit mir und ich war sehr gerne mit ihr zusammen. Sie hat alles mitgemacht. In ihrer Wohnung durfte ich die Fransen ihres Teppichs kämmen, ich spielte an ihrer Tretnähmaschine Straßenbahn und als Zahnarzt durfte ich sogar mit ihrer Häkelnadel an ihrem Backenzahn rumfummeln, Behandlungsstuhl war der Fernsehsessel.

In Landau gibt es einen Tiergarten, den meine Mutter mit uns Kindern viele Jahre mehrmals die Woche besuchte. Seither gibt es kaum einen Ort, an dem ich mich besser entspannen kann als in einem Zoo. Betrete ich einen solchen, rieche den Mist und höre das Trompeten von Elefanten und das Schreien von Pfauen, dann geht es mir sofort richtig gut. Der Zoo ist eine Bühne, auf der ich mich gerne und sicher bewege. Eine echte Heimspielstätte. Die Tiere und ich, wir sind ein Ensemble. Angestarrt werden gehört im Zoo zur Normalität, und Kamele, Löwen und Affen machen mir noch heute vor, wie man sich in einer solchen Situation entspannen kann.

Ein ganz besonderes Erlebnis war es für mich jedoch immer, wenn ich mit meiner Omi mit dem Zug nach Karlsruhe fahren konnte, um dort in den Zoologischen Garten zu gehen.

Im Vergleich zu Landau war Karlsruhe die große, weite Welt. Karlsruhe hatte Kaufhäuser, Karlsruhe hatte eine Straßenbahn, Karlsruhe hatte in der Vorweihnachtszeit viel mehr bunte Lichter und der Karlsruher Zoo hatte richtig große Tiere: Nilpferde, Elefanten und Giraffen.

An Omis Seite war ich mutig, manchmal sogar ein wenig übermütig. Als wir einmal etwas länger die Giraffen betrachteten, ich muss so um die fünf Jahre alt gewesen sein, blieb eine alte Frau – wie könnte es anders sein – neben uns stehen, betrachtete mich ganz genau und bedauerte mich: »Ach Goood, isch sella do jezed en armer Bu!« (Badisch für: »Ach Gott, ist das da jetzt ein armes Büblein.«)

Dieses Mal ließ ich mich nicht verunsichern. Ich war gerade überglücklich, war mit meiner allerliebsten Omi im Zoo und wir schauten uns Giraffen an. Arm? Ich? Nein! Noch bevor die alte Dame ihre Handtasche nach Süßigkeiten absuchen konnte, stellte ich mich ganz nah vor sie, versuchte, ihr in die Augen zu sehen, und entgegnete ziemlich laut und selbstbewusst: »Ich bin doch kä arm Biewel, Sie bleedi Kuh!«

Der Satz hallte durchs Giraffenhaus, die Frau schaute uns total perplex an, doch die beste Omi von allen sah keinen Grund zur Korrektur ihres Enkels und meinte nur: »Kumm, Berndl, ma gehn jetzt weider zu de Affe!«

Aus dem Berndl, wie meine Familie mich stets liebevoll nannte, wurde der Bernd. Meine enorme Schlagfertigkeit ist jedoch bis heute geblieben und ich bin dankbar dafür. Ich kann wirklich sagen, dass mir nahezu in jeder Situation etwas Passendes und Originelles einfällt. Mal sorge ich mit dieser verbalen Schlagkraft für allgemeine Erheiterung und Fröhlichkeit, mal trägt sie zur Problemlösung bei, doch manchmal verschärft sie das Problem und verursacht Verletzungen bei meinem Gegenüber. Letzteres bedaure ich sehr. Zum Glück habe ich gelernt, mich zu entschuldigen. Meist bewirkt meine Schlagfertigkeit einen Befreiungsschlag. So wie in einem Linienbus in Mainz, Ende der Achtzigerjahre, Haltestelle Stadttheater.

Vorweihnachtszeit. Ein ungemütlicher, nasskalter Tag. Der Schnee, der morgens gefallen war, war zu Matsch geworden. Gefühlt zweihundert Menschen stiegen aus dem ankommenden Bus aus und mindestens achthundert Menschen stiegen ein. Darunter auch ich. Dennoch ergatterte ich einen Sitzplatz am Fenster. Eine junge Frau setzte sich neben mich, stand aber gleich wieder auf, um einer kleinen, alten Dame Platz zu machen.

Die Stimmung war angespannt, nahezu explosiv. Für jeden war dieses öffentliche Verkehrsmittel in diesem Moment ein unausweichliches Übel. Keiner wollte hier sein, jeder musste. Die Menschen standen und saßen dicht gedrängt, eingewickelt in Jacken, Schals und Mützen und beladen mit prall gefüllten Einkaufstüten. Fenster und Brillen beschlugen und keiner wusste, wo er hingucken sollte. Mobiltelefone zur Ablenkung gab es noch nicht. War es draußen viel zu kalt gewesen, war es im Bus viel zu warm. Es roch nach Schweiß, Parfum und nassem Hund. Mit einem Ruck fuhr der Bus an und jeder versuchte, Berührungen mit dem Nachbarn oder der Nachbarin zu vermeiden. Unmöglich.

Meine Sitznachbarin drehte sich mehr oder weniger zufällig zu mir, entdeckte meine kurzen Arme, erschrak und tat ihren Schrecken laut kund: »Oh Gott, wie furchtbar!« Ich starrte aus dem Fenster, um jeglichen Blickkontakt zu vermeiden.

Nun geschah etwas Unglaubliches. Die Frau begann zu weinen. Nicht zu schluchzen oder leise zu wimmern, nein, sie heulte unfassbar laut, so wie man sich ein Klageweib vorstellt. Ich mochte mich irren, aber das Heulen wirkte nicht echt. Nahezu alle Augenpaare im Linienbus waren auf uns, besonders auf mich, gerichtet. Auch die Augen des Busfahrers, wie ich in dessen Rückspiegel erkennen konnte. Die alte Dame wandte sich in einer Lautstärke an mich, als wäre sie auf der Bühne und nicht ich. »Können Sie denn überhaupt irgendetwas machen mit diesen kaputten Händen?«, fragte sie und erzeugte damit eine noch unangenehmere Atmosphäre.

Ich blieb konsequent von der Frau abgewandt und schaute nach links oben zu dem kleinen roten Hämmerchen, mit dem man im Notfall die Scheibe einschlagen soll. Dies hier war ein Notfall! Da gab es keine zwei Meinungen! Eindeutig! Ich war in Not und die anderen Passagiere auch, so unangenehm war die Situation.

In Gedanken spielte ich durch, ob es mir gelingen könnte, aufzuspringen und mit meinen drei Fingern das Hämmerchen aus der Halterung zu lösen. Würde meine Kraft ausreichen, um die Fensterscheibe zu zerschlagen? Wäre ich gelenkig genug, um zügig aus dem Bus zu klettern und zu fliehen? Spätestens beim letzten Punkt war der Plan zum Scheitern verurteilt und ich verwarf ihn wieder.

»Ich weiß ganz genau, wie Sie sich fühlen. Ich war im Krieg Rote-Kreuz-Schwester und habe ständig mit solchen Opfern, wie Sie eines sind, zu tun gehabt! Das ist so fürchterlich! Sie sind so ein jämmerlicher Mensch!«, schrie mich die Rentnerin weiter an. Der Linienbus steckte im Verkehrschaos fest. Normalerweise hätten wir schon längst an der nächsten Haltestelle sein müssen, die sich viele bestimmt herbeisehnten.

Jetzt wurde die angespannte Stimmung noch weiter angeheizt, indem die Krankenschwester außer Dienst ihre Frage noch einmal sehr laut wiederholte. Dabei schaute sie mich diesmal nicht direkt an, sondern wanderte mit ihrem Blick durch den ganzen Bus: »Können Sie mit diesen kleinen, komischen Händen auch irgendetwas machen?«

Jetzt konnte ich nicht weiter versuchen, die Eskalation um jeden Preis zu vermeiden. Nun musste ich meine verunsicherten Mitmenschen hier im Bus retten, und zwar sofort. Der Bühnenvorhang war bereits weit aufgerissen und ich trat an die Rampe. Sinnbildlich löste ich mein ganz persönliches Notfall-Hämmerchen aus der Halterung: meine unverwechselbare, wuchtige Schlagfertigkeit! Ruckartig drehte ich mich zu der Frau, schaute ihr direkt in die Augen und näherte mich mit meinem Gesicht dem ihren so sehr, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Die kurze Schrecksekunde hielt meine Sitznachbarin nicht davon ab, mir ihre rhetorische Frage ein drittes Mal ins Gesicht zu brüllen: »Können Sie mit diesen kleinen, verkrüppelten Händen auch irgendetwas machen?«

»Ja!«, skandierte ich messerscharf und für alle hörbar. »Alte Frauen würgen!«

Wie bei einem Menschen mit einem Asthmaanfall, bei dem sich die Atemwege wieder weiten, nachdem ihm ein Notfallmedikament verabreicht wurde, entspannte sich die Atmosphäre im Linienbus. Manch einer kicherte, andere kamen miteinander ins Gespräch und selbst der Busfahrer lächelte. Die Rot-Kreuz-Schwester war sichtlich beleidigt. Nicht traurig, eher in ihrem Stolz gekränkt. Sofort hörte sie auf zu weinen und murmelte »Unverschämtheit«.

Schillerplatz! Die Türen öffneten sich. Ich zwängte mich an der alten Frau vorbei, verbeugte mich innerlich vor meinem Publikum, verließ das »Linienbus-Theater« und beschloss, den Rest zu Fuß zu gehen.

Immer im Rampenlicht

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