Читать книгу Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt: Reclam Lektüreschlüssel XL - Bernd Völkl - Страница 9
Claire Zachanassian
ОглавлениеDie reiche Milliardärin ist in Güllen geboren und aufgewachsen. Ihr Geburtsname »Kläri Wäscher« (S. 17) betont das Kleinbürgerliche ihrer Klaras FamilieHerkunft. Ihr Vater wird am Anfang des Dramas als Baumeister bezeichnet (S. 19). Er war aber keineswegs beruflich erfolgreich. Nur die Bedürfnisanstalt am Bahnhof ist noch vorhanden. Nachdem ihn seine Frau verlassen hat, verfiel er dem Alkohol und starb im Irrenhaus. Klara war eine schlechte Schülerin, auch ihr Verhalten gab immer wieder Anlass zu Klagen (S. 18 f.).
Ill beschreibt sie als besonders Klara – eine attraktive junge Frauattraktiv: »ich sehe sie immer noch, wie sie mir durchs Dunkel der Peterschen Scheune entgegenleuchtete oder mit nackten Füßen im Konradsweilerwald durch Moos und Laub ging, mit wehenden roten Haaren, biegsam, gertenschlank, zart, eine verteufelt schöne Hexe.« (S. 18)
Für Claire war Ill die Liebe ihres Lebens. Einerseits erinnert sie sich gern daran, sie lässt Ill noch einmal die Kosenamen wiederholen, mit denen er ihr damals geschmeichelt hat. Aber andererseits hat man ihr in Güllen ihr Recht verweigert. Ill hat bestritten, der Vater ihres Kindes zu sein, und hat dank falscher Zeugen recht bekommen. Zutiefst gedemütigt und ohne Lebensperspektive musste Klara Güllen verlassen: »Es war Winter, einst, als ich dieses Städtchen verließ, im Matrosenanzug, mit roten Zöpfen, hochschwanger, Einwohner grinsten mir nach.« (S. 90)
Nachdem sie Güllen verlassen hat, wird Klara zur Von der Hure zur MilliardärinDirne. Im Bordell lernt sie den Milliardär Zachanassian kennen, der sie heiratet. Sie wird zur reichsten Frau der Welt. Was ihr in Güllen angetan wurde, hat sie aber tief verletzt und hart gemacht. Sie will Rache: »Frierend saß ich im D-Zug nach Hamburg, doch wie hinter den Eisblumen die Umrisse der Peterschen Scheune versanken, beschloß ich zurückzukommen, einmal. Nun bin ich da. Nun stelle ich die Bedingung, diktiere das Geschäft.« (S. 90) Sie ist skrupellos und erwähnt einmal, dass sie sich alle Teufeleien von Zachanassian, ihrem ersten Ehemann, abgeguckt hat (S. 54), dessen Name an mehrere schwerreiche Unternehmer der Nachkriegszeit erinnert: Zachanoff, Onassis und Gulbenkian.
Deswegen ist sie auch für jede sentimentale Erinnerung vollkommen unempfänglich und hat einen nüchternen Schonungsloser Blick auf die WirklichkeitBlick für die hässliche Realität. Als Ill behauptet, dass er immer noch der schwarze Panther von früher sei, erklärt sie: »Du bist fett geworden. Und grau und versoffen.« (S. 26) Auch sich selbst betrachtet sie schonungslos: »Auch ich bin alt geworden und fett. Dazu ist mein linkes Bein hin.« (S. 26) Die verlogene Begrüßungsrede des Bürgermeisters durchschaut sie und stellt ihr die Wirklichkeit entgegen. Güllen bezeichnet sie bei ihrer Ankunft als trauriges Nest, doch die genaue Kenntnis des Ortes und der Umgebung zeigt, dass die Erinnerung in ihr lebendig ist. Sie hat wirklich nichts von früher vergessen. Auch nach 45 Jahren erkennt sie ihre Altersgenossen noch: »Annettchen Dummermuth, unsere Klassenerste.« (S. 41)
Als sie das erste Mal die Szene betritt, lassen ihr großes Gefolge, ihr übertriebener Schmuck, aber auch ihre als seltsam beschriebene Grazie die »Dame von Welt« (S. 22) erkennen. Sie tritt bestimmend auf und geht davon aus, dass es ihr Glaube an die Macht des GeldesReichtum ihr erlaubt, gültige Regeln einfach zu ignorieren. Als der Zugführer dagegen protestiert, dass sie die Notbremse gezogen hat, bringt sie ihn mit einer Summe zum Schweigen, die für ihn viel Geld, für sie aber nicht der Rede wert ist, weil sie so reich ist, dass ihr die Welt gehört. Ganz offen erklärt sie, dass sie sich die Gerechtigkeit kaufen wird, denn sie kann sie sich leisten. Die beiden falschen Zeugen werden die ersten Opfer ihrer Rache. Sie lässt sie weltweit suchen und dann blenden und entmannen.
Im Gespräch mit Ill beschreibt sie ganz offen, wie sie zu ihrem Reichtum kam. Sie hat in einem Hamburger Bordell gearbeitet, wo sie den alten Zachanassian mit ihren roten Haaren beeindruckt hat. Sie hat in all den Jahren seitdem nie vergessen, was ihr von Ill und den Güllenern angetan wurde. Vor ihrer Ankunft in Güllen hat sie alles von langer Hand Gut vorbereiteter Racheplanvorbereitet und will nun unerbittlich abrechnen. Ihre Persönlichkeitsentwicklung ist abgeschlossen. Sie ist die einzige Figur, die sich im Laufe des Dramas nicht verändert, sondern all das durchsetzt, was sie sich vorgenommen hat.
Ihre Gatten sind für sie keine Partner auf Augenhöhe. Das wird vor allem deutlich, als der siebte Austauschbare GattenGatte auf Befehl nachdenkt. Gleich als sie in Güllen ankommt, gibt sie ihm Anweisungen, wo er zum Fischen gehen kann. Sie nennt ihn nicht bei seinem richtigen Namen, sondern passt den Namen an den des Butlers an, weil man den Butler und nicht den Gatten ein Leben lang als Begleiter hat. Auch gegenüber dem Butler gebraucht sie durchgehend den Befehlston.
Bei den Szenen mit den Gatten spielt Dürrenmatt mit Kontrasten. Claires neunter Gatte, ein Nobelpreisträger, wird aufgefordert, einmal nicht zu denken, ganz im Gegensatz zu ihrem siebten Gatten. Ihn schickt sie während des Gesprächs mit Ill zum Forschen. Dass er ihr Vermögen verwalten will, verursacht bei ihr Unbehagen: »Einen Mann hält man sich zu Ausstellungszwecken, nicht als Nutzobjekt.« (S. 114)
Von dem Gatten, der mit in Güllen angekommen ist, lässt sie sich scheiden, weil sie einen Verwirklichung eines JugendtraumsJugendtraum verwirklichen will. Sie will im Güllener Münster getraut werden. Eigentlich wollte sie Ill heiraten. Als Ersatz muss nun ein deutscher Filmschauspieler dienen. Nach der Hochzeit sitzt sie dann allein im Brautkleid in der Peterschen Scheune und erinnert sich an ihre Jugendzeit. Ganz im Gegensatz zu Ill bedeutet ihr der Schauspieler nichts, gleich nach der Hochzeit wird die Scheidung eingereicht. Dürrenmatt weist ausdrücklich darauf hin, dass alle Gatten vom gleichen Schauspieler dargestellt werden können (S. 113). Das macht auch dem Publikum sichtbar, wie austauschbar sie sind.
Claire Zachanassian geht sehr Zielstrebiges Vorgehenzielstrebig vor. Bewusst lässt sie die Pressevertreter, die von der Hochzeit mit dem Gatten VII berichten wollen, weiterfahren, als sie in Güllen aussteigt, denn bei den ersten Gesprächen mit den Güllenern kann sie keine Presse brauchen. So ist auch bei dem Empfang im Rathaus kein Fremder dabei, als sie eine Milliarde für den Tod Ills bietet. Die Presseleute kommen erst wieder, als die Hochzeit mit dem Gatten VIII gefeiert wird.
In ihrem Wunsch nach Rache, sie nennt es Gerechtigkeit, ist sie unerbittlich. Das versprochene Geld gibt es nur beim Tod von Ill. Sie hat keinen Zweifel, dass sie ihren Willen durchsetzen wird, denn die Welt wird von ihr als käuflich bezeichnet. Sie hat alles genau vorbereitet und den Ort Güllen bewusst ruiniert, damit die Güllener ihr Angebot annehmen müssen. Indem sie Ill vernichtet, will sie die Vergangenheit ändern. Sie will ihn als Toten für sich haben. Als sie ihr Ziel erreicht hat, überreicht sie den versprochenen Scheck und reist mit dem Sarg nach Capri, wo sie für ihn ein Mausoleum errichtet hat.