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2.2. Interdependenz kultureller Erzählungen
ОглавлениеMuthesius 1902, 12
Für das von mir gewählte und dieser Arbeit zugrundeliegende Vorgehen gibt es eine zentrale Voraussetzung: Jede Beschreibung einer Kultur-, Ideen- oder Philosophiegeschichte lebt (jedenfalls verstehe ich das so) aus der Rekonstruktion von kulturellen Erzählungen, von Entfaltung, Entwicklung, Veränderung und Wirkung solcher Erzählungen und der damit verbundenen Ideen. Dabei steht man nicht vielen isolierten Erzählungen gegenüber, sondern einem Zusammenspiel verschiedener Genres der menschlichen Kultur. Die Grundlage dafür ist, dass es einen Austausch zwischen beispielsweise Philosophie, Architektur, Kunst, Ökonomie und Wissenschaft in irgendeiner Form auch gibt. Zu einer solchen Art einer kulturellen Interdependenz, die natürlich nicht kausal verstanden werden darf, bekenne ich mich ausdrücklich, ähnlich wie das Hermann Muthesius vor hundert Jahren formulierte, für den alles in einer Kulturperiode, »[V]on der Tabakdose des einfachen Bürgers bis zum vollendetsten Kunstmöbel der fürstlichen Zimmerausstattung, von der kleinstädtischen Bürgerhausfaçade bis zur prunkenden Jesuitenkirche […] denselben Geist«, atmet.
Veyne 2009a, 161
Ich stehe mit dieser Sicht in völligem Widerspruch zu Meinungen, wie sie ebenso kompromisslos wie plakativ von Paul Veyne vertreten werden (auf dessen vielfältige spannende Forschungsergebnisse ich an anderer Stelle öfters verweisen werde), der eine solche Beziehung strikt leugnet: »Der Impressionismus ist zwangsläufig mit der Zeit um 1870 verbunden, ebenso wie die Pariser Börse und die Reifröcke. Daran, dass hier ein notwendiger Zusammenhang besteht, werde ich allerdings erst glauben, wenn jemand die Verbindung zwischen dem Impressionismus und dem Börsenkapitalismus überzeugend nachgewiesen hat.«
Wölfflin 1915, 9
Die Frage solcher Interdependenzen war immer umstritten. In aller wünschbaren Ausgewogenheit hat Heinrich Wölfflin bereits 1888 das Thema angesprochen: »Man findet recht viel Lächerliches in den sogenannten kulturhistorischen Einleitungen, die jeweilen einem Stil in den Handbüchern vorausgeschickt zu werden pflegen. Sie fassen den Inhalt großer Zeiträume unter sehr allgemeinen Begriffen zusammen, die dann ein Bild der öffentlichen und privaten Zustände […] geben sollen. Gewinnt das Ganze dadurch schon einen blassen Charakter, so fühlt man sich vollends verlassen, wenn man nach den vermittelnden Fäden sucht, die diese allgemeinen Thatsachen mit der fraglichen Stilform verbinden sollen.« Trotz solcher Vorbehalte steht die Existenz von etwas, was er Zeitgeist nannte, für Wölfflin außer Frage, sodass »die Technik niemals einen Stil schafft, sondern wo man von Kunst spricht, ein bestimmtes Formgefühl immer das Primäre ist.« Ein neuer Stil basiert auf einem veränderten Zeitgeist: »Der Stilwandel von der Renaissance zum Barock ist ein rechtes Schulbeispiel, wie ein neuer Zeitgeist sich eine neue Form erzwingt.«
Wölfflin 1888, 84f
Und als Antwort sei Veynes pointierter Ablehnung solcher Zusammenhänge ein ähnlich pointiertes Zitat Wölfflins entgegengestellt: »Man vergleiche etwa einen Schuh der Gothik mit dem der Renaissance. Es ist ein ganz anderes Gefühl des Auftretens: dort schmal, spitz, in langem Schnabel auslaufend, hier breit, bequem, mit ruhiger Sicherheit am Boden haftend u.s.w.«
Jean Paul 1806, 65f
Es geht hier keineswegs um irgendeine Form von Widerspiegelungstheorie oder um eine marxistisch angehauchte Basis-Überbau-Lehre, es geht auch nicht um den Optimismus Hegels, den Geist der Zeit wahrhaftig auf den einen Begriff zu bringen. Das haben kluge Köpfe immer zu bedenken gegeben: »Leicht und kühn zitiert ihr den Geist der Zeit […] Da die Zeit in Zeiten zerspringt, wie der Regenbogen in fallende Tropfen: so gebt die Grösse der Zeit an, von deren inwohnendem Geist ihr sprecht! […] da dieselbe Zeit einen andern Geist heute entwickelt […] so frag’ ich, wo erscheint euch denn der zitierte Zeitgeist deutlich, in Deutschland, Frankreich, oder wo?«
Wyss 1993a, 8
Es geht vielmehr um die schlichte Tatsache, dass Kunst und Architektur keine blickdichten Blasen in der Welt bilden und dass die im 20. Jh. aufgekommene Vorstellung einer radikalen Selbstreferentialität der Kunst eine idealisierte Vorstellung ist, die sich so in der Realität kaum je findet. Das Anliegen der meisten Künstlerinnen trifft eher der Architekt Jean Nouvel, wenn er die Aufgabe der Architektur in der Erzeugung von Orten der Geschichte sieht. Dies könne indes nur gelingen, wenn sie kontextuell arbeitet. Aufgrund solcher Ambitionen kann Beat Wyss feststellen: »Texte, welche die Künstler interessieren, haben in der Regel nicht mit Kunst zu tun: sondern mit Mystik, Naturwissenschaft oder Philosophie; darin wird die Verankerung ästhetischer Konzepte gesucht und nicht etwa in Geschichte.«
In dieser Frage weiß ich mich also in einen weit gespannten Konsens in Theorie und Praxis eingebunden und es gibt für viele Abschnitte der Kulturgeschichte schöne Belege für eine solche Interdependenz. Eine solche Interdependenz nicht nur gleichsam horizontal als Zusammenklang einer bestimmten Periode, sondern auch vertikal über die europäische Kulturgeschichte hinweg zu rekonstruieren und ein Stück weit kommentierend fruchtbar zu machen, ist das Anliegen dieses Werks und das eigentliche Faszinosum für den an der Ideengeschichte interessierten Philosophen. Der »rote Faden«, von dem oben die Rede war, spannt sich erst dann durch diese Bücher, wenn die Leserin und der Leser ein Sensorium für einen solchen genius temporum entwickelt und sich eine Neugierde für den Austausch solcher kultureller Erzählungen bewahrt.
Schlegel 1797, 148
Adorno 1970, 532
Bei der langen Arbeit an diesem Projekt war ich immer wieder aufs Neue von kniffligen Fragen umzingelt. Die meisten dieser Fragen mache ich mit mir selbst aus. Einige wenige tangieren jedoch die Leserin und den Leser. Eine besonders heikle war jene nach dem Kurshalten zwischen der Skylla einer reinen Philosophiegeschichte und der Charybdis der Kunstgeschichte. Friedrich Schlegel hat das im Lyceums-Fragment 12 prägnant auf den Punkt gebracht: »In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden: entweder die Philosophie oder die Kunst.« Auch Adorno, der die Schlegel-Stelle zitierte, hat angemahnt, die Geschichtlichkeit der Ästhetik nicht zu übersehen. »Geschichte ist der ästhetischen Theorie inhärent. Ihre Kategorien sind radikal geschichtlich; […].«
Es war für mich von Anfang an klar, dass eine Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik nicht anders als im Gespräch mit der Kunstgeschichte durchgeführt werden kann. Ein solches Vorgehen scheint einleuchtend. In jedem Fall ergibt es sich schon aus folgender Sachlage: Wenn man die Aufgabe angeht, einen Überblick über theoretische Positionen zur Kunst zu rekonstruieren, stößt man naturgemäß sehr schnell auf das Problem, dass über viele Jahrhunderte dafür die Textgrundlage fehlt. Kunstphilosophie, will sie darauf nicht einfach mit Schweigen reagieren, darf sich daher schon zwangsläufig nicht der Betrachtung der Werke der Kunst selbst verschließen.
Zur Kunstphilosophie gehören nicht nur ästhetische Theorien und Explikationen von Künstlern und Architekten, sondern auch die Kunst- und Baupraxis selbst. Zeitweise bevorzugte die Kulturwissenschaft, namentlich die Völkerkunde, die materielle Kultur, weil sie sie für objektiver hielt als die in Texten niedergelegten Reflexionen. Das mag heute nicht mehr so gesehen werden, aber dass eine Beachtung materieller kultureller Produkte einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der jeweiligen kulturellen Erzählungen leistet, sollte außer Frage stehen. Selbstredend muss man sich stets der Fallstricke der Verführung von Projektionen und nötigen spekulativen Anmutungen bei solchen Rekonstruktionen aus (womöglich nur fragmentarisch erhaltenen) Artefakten bewusst bleiben.
Hansen 2011, 138
Zugleich ist es ein Faktum, dass solche Rekonstruktionen aus materiellen Werken nicht nur für theorielose oder gar schriftlose Zeiten notwendig sind, sondern auch für Epochen, die beides anbieten – bis zur Gegenwart. Dabei tauchen noch ganz andere, gegenläufige Aspekte auf. Es begegnen sich in jedem einzelnen Werk kulturelle Standardisierungen und individuelle Eigenheiten, also Kollektiv und Individuum. »Ein Riemenschneider Altar ist zwar Dokument einer bestimmten mittelalterlichen Kultur, aber auch ein Riemenschneider, der sich von anderen Altären derselben Epoche durch individuelle Besonderheiten unterscheidet.« Dabei gilt es stets, den Spielraum des Individuums gegenüber kollektiven Standardisierungen im Auge zu behalten.
Theoretische Reflexionen erhalten ihr »Fleisch« (mit Kants Worten: ihre Anschauung) einzig und allein aus der Praxis des Kunsttreibens selbst. Philosophische Ästhetiken, wo im Namensverzeichnis nicht eine einzige Künstlerin aufscheint, sind eher Ausdruck eines akademischen Autismus als ein ernsthaftes Anpacken der Sache. Ich sage das, auch wenn ich weiß, dass es Vorbehalte zu beiden Standpunkten gibt: einer zu großen Ferne und einer zu großen Nähe zur Kunstgeschichte bzw. zur Kunst. Bei letzterer befürchtet man, dass über der emotionalen Bindung an einzelne Werke das Ganze der Kunst und der Kunstphilosophie aus dem Blick gerät. Auf solche Fragen wird im Abschnitt über die Systematik zurückzukommen sein. Für den Moment soll nur zum Ausdruck gebracht werden, dass die Abgrenzungsfragen keineswegs trivial waren und auch nicht überall ideal gelungen sein mögen. Die Grenzziehung wurde dabei naturgemäß durch die unterschiedlichen Arten beeinflusst, wie Kunstgeschichte betrieben wird. Dort, wo sich die kunstgeschichtliche Methode auf eine (bisweilen ins Positivistische kippende) isolierte Betrachtung von Kunstwerken erschöpft, ist die Distanz größer. Dort, wo sie kontextorientiert arbeitet, kunsttheoretische und kulturgeschichtliche Aspekte berücksichtigt, ist die Überlappung größer. Eine solche kunstgeschichtliche Methode, wie die von mir als Philosoph sehr geschätzte Ikonologie von Erwin Panofsky, ist konsequenterweise sogar Untersuchungsgegenstand in dieser Arbeit.