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Gerüche als Duftmarken
ОглавлениеDennoch ist der größte Teil der Strecke für mich neu, bis auf ein paar Innenstädte, die ich im Laufe meines Lebens schon einmal besucht habe. Meine Vorfreude gilt der Erwartung, frische Luft und die Düfte von Blumen und Bäumen zu riechen, ohne von lästigen Autoabgasen umgeben zu sein.
Gerüche im Allgemeinen werden zum Leitmotiv meiner Tour. Die unterschiedlichen Gerüche zwischen den Ländern Mitteleuropas und des Mittelmeers, zwischen Frühling und Herbst, die Palette der Jahreszeiten und der unterschiedlichen Flora tragen dazu bei, dass diese Reise im Nachhinein so unvergesslich und wertvoll wurde.
In der Tat macht der Geruchssinn eine erstaunliche Wandlung durch, wenn er es wieder erlernt hat, auf die feinen Unterschiede in der Natur einzugehen, wo er vorher als „Stadtnase“ eigentlich nur zwischen Benzin- und Dieselabgasen der Autos und LKWs oder den besonders stinkenden Abgasen der Mopeds unterscheiden musste.
Sie alle sind zu entdecken: die Düfte der Gräser, Blumen, Blüten oder Sträucher, einzeln auf einer Wiese, in der Steppe oder im Wald, wo durch die Vielfalt der Bäume weitere Gerüche hinzukommen.
Zuerst errieche ich Süddeutschland mit seinen vielen Laubbäumen, Fichten und Tannen. All diese Gerüche haben weitere Facetten, je nach Jahreszeit, im Frühling, wenn alles nach Entfaltung strebt oder im Herbst, wenn alle Bäume noch einmal ihr Bestes geben, in den verschiedensten Farben leuchten und ihre Früchte der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Zu diesem Herbst gehören auch die zahllosen Düfte von reifem Obst, bevor die Pflanzen langsam einen vorrübergehenden Rückzug antreten, um im nächsten Frühling wieder ihre Pracht zu entfalten.
Dann rieche ich die Düfte der Schweiz, ein Land, in dem das Klima bereits einzelne mediterrane Pflanzen zulässt, das aber ansonsten noch voll im Einfluss des Binnenklimas liegt. Spätestens in Südfrankreich errieche ich eine Veränderung der Fauna und Flora, wenn Kiefern, Palmen oder Lavendel immer öfters zu sehen sind. Tannen verschwinden langsam aus der Natur, Wälder aus Pinien oder Eukalyptus nehmen zu, am besten riecht jedoch für mich eine Mischung aus allem.
Am Meer schließlich kommt das salzige Meerwasser zu diesen Gerüchen hinzu, jede Meereswelle wird zum Geruchserlebnis, wenn die Gischt ihre gesammelten Duftnoten, die das Meer zu bieten hat, in die Umwelt verströmt.
Alle Pflanzen bekommen eine neue Duftnote. Wer kennt es nicht, die Dinge riechen plötzlich anders, sie schmecken anders und in der Folge ändert sich auch die persönliche Stimmung.
Kann man die Übergänge der einzelnen Vegetationszonen bewusst verfolgen? Ja, man kann, auch wenn sie schleichend stattfinden. Die Veränderungen sind z.B. an den Vorgärten zu erkennen, in denen bestimmte Strauch- oder Baumsorten immer häufiger vertreten sind, z.B. der Oleander, das Wandelröschen als Kletterpflanze oder der Ginster. Man sieht es auch an der Bepflanzung der Felder, wenn plötzlich Olivenhaine auftauchen, oder gar Korkeichen. Um trotz der schrittweisen Veränderungen eine Art Linie zu ziehen: Für mich persönlich ist dieser Übergang der einzelnen Vegetationszonen besonders deutlich auf der Höhe von Valence an der Rhône, bzw. auf der westliche Seite in der Höhe von Bordeaux zu erfahren gewesen. Nördlich dieser Region überwiegt die Flora Mitteleuropas, südlich die des Mittelmeeres.
Aber die reine Beschreibung der Flora als Geruchsträger reicht nicht aus, um die Bandbreite der Düfte und Gerüche zu erfassen. Ein Wald riecht anders, wenn es trocken ist als wenn es vorher geregnet hat. Ein sauberer Wald, einer, aus dem Bodenholz sofort entfernt wird, erzeugt weniger Gerüche als wenn viel moderndes Holz herumliegt. Gemähte Wiesen riechen anders als die Wiesen, auf denen Blumen ihren Duft abgeben. Angelegte Parkanlagen riechen anders als ein Wald. Man erkennt am Geruch der Umgebung, welche Tiere sich in der Nähe befinden.
Auch ob man an Flüssen oder Kanälen entlangfährt, macht einen Unterschied, weil die Feuchtigkeit der Wasserläufe ein anderes Mikroklima erzeugt. Es vermengen sich die Gerüche, die das Wasser mitbringt, mit den Gerüchen der umgebenden Flora. Ob Brackwasser, ob frisches Wasser, ob stehendes, ob fließendes Wasser, ob mit Kloake oder Industrieabwässern verseuchtes Wasser, all diese Faktoren tragen dazu bei, unterschiedliche Erinnerungen an einen gewissen Geruch zu binden. „Ah, das war da, wo es so gut gerochen hat“ oder „Ah, das war da, wo es gestunken hat“ - das sind mögliche Attribute einer bestimmten Radpassage.
Es macht einen großen (Geruchs-)unterschied, ob sich in einer gewissen Entfernung das Meer befindet oder nicht. Ob Mittelmeer oder Atlantik, ob der Wind vom Landesinneren oder vom Meer kommt, all das beeinflusst den Geruch der Gegend.
Es riecht anders, wenn Felder an Straßen entlangführen oder nur durch Feldwege getrennt sind. Weite Gebiete, die sich durch Monokulturen auszeichnen wie Sonnenblumen, Mais oder Raps, riechen anders als wenn diese gleichen Pflanzen in einem Mischanbau gepflanzt werden.
Tiere tragen zur Geruchsvielfalt bei. Eine Schweinezucht riecht schon aus einer großen Entfernung - und das nicht gut-, Kuhherden oder gedüngte Felder durch Kuhmist, Freilandzüchtungen von Gänsen, Enten, Hühnern, Tiertransporte in überholenden LKWs bis hin zu verwesendem Fleisch durch überfahrene Tiere, all das trägt zur Vielfalt von Gerüchen bei.
Menschen, die mir begegnen, die ich überhole oder die einen selbst auf Fahrrädern überholen, hinterlassen Geruchsfahnen, Frauen andere als Männer und Kinder. Manche Parfüms riechen gut, andere sind nicht zu ertragen. Manche Kleidung sollte mal wieder gewaschen werden. Vielleicht habe auch ich das eine oder andere Mal solch eine Geruchsfahne hinterlassen.
Auch Straßen tragen je nach Verkehr entscheidend zur Geruchslage bei. Es gibt eine kritische Dichte des Verkehrs, ab der verschiedene Gerüche der Natur nicht mehr zu unterscheiden sind. Dafür rieche ich die Unterschiede der verschiedenen Abgase. Ich rieche, ob ein Motor vollständig verbrennt, ob es sich um Diesel oder Benzin handelt, ein Moped stinkt besonders stark.
Industrieanlagen verändern die Geruchslage radikal. Ich kann die verschiedenen Fabriken riechen, bei manchen errate ich sofort, was darin produziert wird. Fabriken, die Lebensmittel produzieren, bergen die Gefahr, dass mir die Lust auf dieses Produkt vergeht. So z.B. fahre ich in einer Vorstadt von Sevilla an einer Raffinerie von Olivenöl vorbei, ich kann den Geruch schon von weitem erfassen, er verdirbt mir den Appetit auf Olivenöl. Grausam. Aber auch sonst bin ich froh, wenn die Industriegebiete nicht allzu groß sind und man sie schnell durchradeln kann.
Städte haben natürlich auch eigene Gerüche. Viele dieser Gerüche in einer Stadt setzen sich zusammen aus einem bestimmten Gemisch von Abgasen - und natürlich - zubereitetem Essen, den Cafés, Restaurants. In Frankreich kann man riechen, wo sich die Boulangerie, der Bäcker oder ein Café in der Nähe befindet. Jede Kanalisation riecht anders, manch Gullydeckel und manche Mauerecke als Pissoir veranlassen die sofortige schnelle Flucht. Reine Schlafviertel, tagsüber verlassen, riechen anders als Viertel, in denen tagsüber sichtbar ein buntes Treiben herrscht. Viertel mit mittelständigen Werkstätten, z.B. Autogaragen, riechen anders als reine Industriegebiete.
Insgesamt kann ich sagen, dass kein Geruch zweimal vorkommt; jeder Umgebung wohnt ein eigenes Gemisch von Duftstoffen inne, die einmalig sind und durch ihre Vielfalt als eine unverwechselbare Duftmarke eines bestimmten Orts zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Wetterlage zu einer bestimmten Tageszeit bezeichnet werden kann.
Radfahren stärkt den Geruchssinn und ermöglicht es, diese Duftmarken zu differenzieren und im Gedächtnis zu bewahren. Bei manchen Gerüchen ist man froh, dass sie nur kurzfristig sind und man sie schnell durchradelt hat, bei manchen bleibt man stehen und genießt sie und stellt dann fest, dass der Geruch sich permanent ändert. Spannend.
Ein interessanter Aspekt ist auch das von der Fahrtrichtung abhängige Farbenspiel. Während des Radelns in die Ost-West Richtung sticht die Sonne spätestens ab Mittag in die Augen. Da ich es vermeide, eine Sonnenbrille zu tragen, die mir alle Farben eintönig verändert, werden die Farben heller, blauer, weißer; es ist wie eine Aufbruchsstimmung, die mich ansteckt. Schließlich befinde ich mich ja tatsächlich im Aufbruch, in Richtung meines Zieles Portugal. Auf der Rückfahrt dagegen steht die Sonne entsprechend im Rücken, die Tage werden kürzer und dadurch steht die die Sonne viel schneller tief, was sich im Leuchten des Laubs der verschiedenen Baumsorten wiederspiegelt. Das warme Licht der rot-gelb-grün Gemische von Baum und Wiese, gepaart mit einem Tiefblau einzelner Seen machen wehmütig und unterstreichen, dass die Fahrt bald zu Ende geht.
Und - entsprechend dem Geruchssinn- es ändert sich auch der Geschmacksinn entsprechend. Darauf gehe ich Laufe der Aufzeichnung immer wieder ein. Nur so viel: Es schmeckt immer. Liegt es daran, dass man Fahrrad fährt und alle Sinne auf Aufnahme geschaltet hat, liegt es daran, dass ein guter Côte du Rhône Wein eben an der Côte du Rhône einfach durch seine Umgebung anders, meist besser schmeckt, liegt es daran, dass eine salzige Umgebungsluft Lebensmittel mit anderen Zusätzen versieht als zu Hause?
Alles das gehört auch zu einer sich verändernden Wahrnehmung, zu einer Reiseerfahrung.