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Durch die Schweiz – eine eigene Welt
ОглавлениеIn Kreuzlingen treffe ich die Tochter der Cousine meiner Frau. Wir machen ein Familientreffen. Die Eltern und Kinder sind dabei, meine Frau ist inzwischen auch angereist. Die Radtour liefert - solange es geht und es nicht zu weit ist - erfreuliche Möglichkeiten, sich zu treffen und auszutauschen. Ich erfahre, dass Kreuzlingen eine schwierige Position gegenüber dem mächtigen Konstanz hat, obwohl es lange Zeit in der Geschichte nicht klar schien, wer die historische Oberherrschaft hier gewinnen würde. Aber die Menschen entwickeln einen eigenen Stolz, als kleiner Juniorpartner am Bodensee dem großen Konstanz zu trotzen. Und so versuchen sie, auch Kreuzlingen liebenswert zu gestalten, auch das Nachtleben zu organisieren.
Doch ich muss weiter. Diesmal nur nach Winterthur. Warum verändern sich Landschaften, wenn man über eine Landesgrenze fährt? Ich sehe andere Baumsorten, andere Obstbäume, die Parzellierung der Böden unterscheidet sich, die Architektur der Dörfer ist anders, Schweizer Häuser sind dominiert von einer Holzschindelverschalung.
Vielleicht gibt es auch andere Verordnungen zum Bewirtschaften der Böden, aber es fällt beim Fahrradfahren auf, wie die Landschaften geprägt sind von der Bewirtschaftung durch den Menschen. Urwald, Urlandschaften, vermute ich mal, gibt es nicht mehr. Jeder Quadratzentimeter ist in den letzten Jahrhunderten bestimmt hunderte Male umgegraben worden. Mir fällt ein, dass das Alpenland noch vor 150 Jahren überwiegend von der Pferdezucht, vom Hopfen und Hanfanbau geprägt war, bevor die Kuhmilch die bäuerliche Wirtschaft dominierte. Heute stehen wieder große Veränderungen bevor. Überall sehe ich vermehrt Pferdekoppeln, die Kuhmilchwirtschaft in den Alpen wird sichtbar zurückgedrängt.
Weitere Veränderungen nach dem Übertritt einer Grenze sind manchmal eine andere Währung, eine andere Sprache, andere Häuser- und Gebäudearchitekturen, Straßenmarkierungen, Straßenschilder, Werbeplakate, andere Gebote und Verbote. Man könnte ganze Quizsendungen mit der Abfrage von Unterschieden der Länder machen, die auf die reine Wahrnehmung dieser Dinge beruhen.
In Winterthur auf dem Campingplatz – die Plätze sind in der Schweiz erstaunlich billig, dafür wird die Mahlzeit umso teuer, wenn man selbst keine Küche dabei hat – verspüre ich die ersten Veränderungen meines Körpers. Die Tour und das Nächtigen im Zelt an der frischen Luft bedeutet eine Herausforderung an den Körper. Meiner jedenfalls reagiert zuerst mit leichtem Durchfall, dann mit Verstopfung, bis sich die Verdauung einpendelt. Eine Woche später spüre ich eine fühlbare Verbesserung in der Vitalität meines Körpers, ein tolles Gefühl.
Wenn ich dann abends vor dem Zelt sitze und meine Notizen mache, stellen sich neue Fragen, Fragen, die kommen, wenn man den Alltag abschütteln kann, z.B. diese: Macht es überhaupt einen Sinn, den unmittelbaren Eindruck aufzuschreiben, oder macht es mehr Sinn, seine Gedanken über die verschiedenen Länder im Nachhinein zu formulieren? Oder anders gesagt, ist es vernünftig, zu warten, bis man den Abstand hat und seine Erfahrungen etwas verallgemeinern kann? Jetzt bei der Niederschrift der Reise merke ich, wie die nachträgliche Betrachtung verklären kann, unmittelbar aufzuschreiben jedoch die Gefahr birgt, nach dem gerade Erlebten ein ungerechtes Urteil zu fällen. Ich denke, letztendlich macht es die Mischung, denn Anekdoten sind halt unmittelbare Erlebnisse, die Beschreibung von Übergängen und Veränderungen dagegen erfordern einen größeren Überblick. Nach einigem Grübeln ist wieder Morgen und ich fahre weiter nach Zürich, genauer nach Dietikon westlich von Zürich zur Familie des Sohnes der Kusine meiner Frau. Sie haben mich eingeladen hier zu übernachten, was ich gerne annehme.
Zürich ist eine sehr quirlige Universitätsstadt am Züricher See. Hier ist die Studentenschaft sehr aktiv, es gibt eine lebendige politische alternative Kultur, und die Unis haben ein sehr gutes internationales Ranking, allen voran die ETH, die Eidgenössische Technische Hochschule. Diese ist weit über die Landesgrenzen bekannt für viele innovative Forschungsprojekte.
Rund um Zürich scheinen erhebliche neue staatliche bauliche Förderprogramme zu existieren. Mir scheint, die Schweiz reißt sich selbst auf, überall entstehen neue Stadtviertel, die Straßen sind aufgerissen, neue Eigenheime werden gebaut, ein richtiger Bauboom. Was ist los? Beim Nachforschen lese ich, dass die Schweiz im Jahr 2018 über 2000 verschiedene Bauprojekte gefördert hat, vor allem um Energie-Sparmaßnahmen umzusetzen. Das ist eine positive Zukunftsinvestition, finde ich. Ich umfahre die Baustellen so gut wie ich kann und freue mich, als ich am nächsten Tag die Aare erreiche, den Fluss, der mich ab sofort bis Biel/Bienne begleiten wird.
Brugg, Aarau, vorbei am Kernkraftwerk Gösgen-Däniken, das direkt an der Aare liegt, dann Olten. In Aarburg übernachte ich auf einem Campingplatz zwischen Autobahn, Schnellbahn und Industriegebiet, während von weitem die Festung Aarburg herüberleuchtet. Eine schöne Altstadt erwartet mich, wenn nur nicht der Lärm auf dem Campingplatz wäre. Am nächsten Tag geht es dann durch Wangen an der Aare, Solothurn, Büren und Biel. Ich befinde mich in der Gemüsekammer der Schweiz. Die Landarbeiter und Bauern pflügen und düngen, pflegen die Felder.
Vor Biel, französisch Bienne, frage ich mich zum ersten Mal, warum ich die Strapazen auf mich nehme bei Gegenwind, 70 Kilometer Strecke, Hügel rauf, Hügel runter. Das geht auf das Gemüt und auch mein Hintern brennt sehr. Aber dann auf dem Campingplatz und mit Blick auf den Bieler See werde ich entschädigt für die Strapazen. Schnell das Zelt aufstellen, duschen, sich erfrischen und im Biergarten am See bei einem kühlen Bier die Aussicht genießen. Das gefällt, es ist ungeheuer entspannend. Hier bleibe ich erst einmal einen Tag und besuche Biel.
Biel/Bienne ist eine bemerkenswerte Stadt mit einer malerischen Innenstadt und einer Hochschule, auch die Uhrenindustrie hat hier ihren Sitz. Die Stadt selbst kokettiert mit der Zweisprachigkeit. Ich entdecke ein Café, das auch am Sonntag geöffnet hat und wirbt: „Ouvert le Sonntag 8h00 – 13h00“. Ich fahre den ganzen Tag hin und her, dann wieder runter zum Kanal, vom Kanal zum See, genieße die Parkanalage. Ein entspannender Ruhetag.
In Biel muss ich auch eine Werkstatt aufsuchen, weil der Fahrradständer abgebrochen ist und es für mich sehr wichtig ist, das Fahrrad auch mal abstellen zu können. Der Mechaniker repariert ihn – die Konstruktion hält danach die ganze Reise - und meint dabei so ganz nebenbei, mein Zahnrad hinten sei schon zu 50 Prozent angegriffen, es kann, muss aber nicht noch 8000 Kilometer halten. Aha, ich werde ab sofort vorsichtiger schalten, während des Schaltvorganges hauptsächlich in die kleineren Gänge das Pedal vorsichtig treten, eher im Freilauf lassen, damit die Kette sich sanft von einem Ritzel zum nächsten übersetzen kann. Wird das Fahrrad halten?
Meine Aufzeichnungen verraten mir: Wow, die ersten 500 Kilometer sind gemacht. Ich kann das. Und dann bekomme ich doch ein wenig Angst vor dem, was noch vor mir liegt.
Ich finde es wichtig, sich auch während einer Fahrt, auf der der Geist und die Sinne mehr oder weniger einfach baumeln, intellektuell zu beschäftigen, den Denkapparat am Laufen zu halten. Ich habe ein Kompendium über moderne Philosophie dabei und setze mich in die Abendsonne auf dem Campingplatz. Heute lese ich über die Definition einer Epoche. Ich lerne, dass jede Philosophie einen begrenzten Gültigkeitsbereich hat, eben begrenzt anzuwenden ist auf die Epoche, in der sie entwickelt wurde. Spannend ist das schon, denn das bedeutet ja im Umkehrschluss, dass die Philosophie eigentlich die aktuelle Epoche beschreiben und Fragen beantworten soll. Auch das Fahrradfahren folgt einer Philosophie, bzw. fördert die Entwicklung einer eigenen Philosophie, da bin ich sicher. Ich denke darüber nach, einer Mischung von Naturphilosophie mit einer der modernen Technik und Zukunftsvision über die ethische Verantwortung, die der Einsatz der modernen Technik mit sich bringt zu folgen.
Ich bin nun an der Schweizer Drei-Seen-Platte. Die Seen werden mich noch den nächsten Tag begleiten bis Yverdon. Zunächst am Bielersee nach Murten, dort den Murtensee entlang, bis ich auf den Neuenburgersee (Lac Neuchâtel) treffe. Die Landschaft blüht, ich fahre auf Fahrradwegen quer über die Felder, dann wieder am See entlang.
Aufzeichnung 27. April:
Ich ärgere mich. Da in der Schweiz kein Roaming Abkommen mit meinem Handyvertrag besteht, bin ich darauf angewiesen, die Strecken vorher zu planen, wenn WLAN vorhanden ist. Aber es ist schwierig, ohne Internet zu navigieren. Bei jedem kleinstem Falschfahren will die App neu planen, das aber geht nur mit Internet. Also: Entweder kein Internet, aber dann keinen Zentimeter vom Weg abweichen - oder Internet über das Mobilfunknetz, dann aber wird es teuer.
In der Schweiz gibt es ein Nord-Süd-Gefälle. Von Winterthur nach Biel ist die Gegend sehr ländlich, die Preise moderat, weiter im Südwesten dagegen nach Yverdon, Lausanne, Genf werden sie Städte immer mondäner und teurer. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Die Gegend wird auch immer voller, immer mehr Menschen wohnen an der Strecke. Doch der Reihe nach.
Die Strecke um Yverdon ist sehr schön zu fahren, relativ flach am Ufer der beiden Seen entlang. Ich fahre auf Feldwegen, durch verschiedene Salatanpflanzungen und Gemüsebeete. Man sieht und hört von weitem Menschen, die augenscheinlich Saisonarbeiter sind und in ihren verschiedenen Sprachen reden. Sie knien oder liegen auf den Pflückmaschinen, unter ihnen die Beete.
Schließlich erreiche ich Lausanne, diese Stadt ist eine kleine Herausforderung für Radfahrer. Der Stadtkern liegt hoch oben auf einem Berg, die Straßen führen mit 15 Grad Gefälle nach unten zum Genfer See, den ich hier zum ersten Mal sehe und an dem sich auch der Campingplatz befindet. Sehr schön, aber wieder schlägt die Preisfalle zu. Ich erschrecke, als am See ein Bier 8 Franken, ca. 7.30 Euro kostet. Am nächsten Tag weckt mich lauter Lärm. Am Campingplatz vorbei findet ein Stadtlauf statt, Kinder laufen mit den Erwachsenen ca. fünf Kilometer und treiben sie an, die Zuschauer applaudieren, um die Läufer anzufeuern. Es ist Sonntag und halb Lausanne hat sich an den See begeben.
Aufzeichnung 29. April:
Vidy bei Lausanne, der Freizeitpark erinnert an das „Paradies“ bei Starnberg. Es fällt wieder auf, dass das Kulturgut Picknicken mehr von den „Migrant*innen“ genutzt wird. Es ertönt Musik aus allen Ländern der Welt. Sehr gemütlich.
Ich kann Döner Kebab nicht mehr sehen, hier in Lausanne. Aber es ist das einzige, was in der Schweiz erschwinglich ist. Trotzdem fällt mir auf, dass kaum türkische Menschen in den türkischen Buden zu sehen sind.
Ich fahre bis Genf entlang des Nord-Ufers des Genfer Sees. Genfer See? Der See heißt in Frankreich Le Lac Léman oder in der Schweiz auch nur Le Léman. Was ich bislang nicht weiß, ist, dass dieser See der größte See sowohl der Schweiz als auch Frankreichs ist. Es ist eine stürmische Zeit, mir weht sehr viel Gegenwind entgegen, das Wasser ist aufgewühlt. Am Nordufer in der Schweiz sind sehr viele Weinberge zu sehen, die Südseite in Frankreich ist weniger besiedelt und geht steil nach oben. Hohe Bergrücken lassen noch Schnee erkennen, jetzt Ende April. Eindrucksvolle Kulisse.
Ich radle in Genf ein, der Stadt, die von den Vereinten Nationen dominiert wird, ich sehe das UNO Hauptgebäude und durch die Gebäude, die in einem riesigen Park am nordöstlichen Stadtrand liegen, sehe ich den MontBlanc.
Genf ist wirklich eine sehr internationale Stadt, ganze Straßenzüge bestehen aus Restaurants mit Spezialitäten aus der ganzen Welt. Auch zum Einkauf kann sich jeder aussuchen, aus welchem Laden welchen Landes heute das Essen zubereitet werden soll. Genf ist aber für mich unwirklich teuer, das Preisniveau liegt noch etwas höher als in Lausanne. Das liegt natürlich zum Teil auch am ungünstigen Wechselkurs von Euro zu SFR.
Die eigentliche Innenstadt liegt auf der süd-östlichen Seite der Rhône, die in der Schweiz auch der Rotten heißt. (Das ist eine linguistische Besonderheit, dass in der Schweiz und in Frankreich der Fluss männlich ist - der Rotten, Le Rhône - nur im Deutschen weiblich, die Rhône. Das hat bestimmt einen historischen Hintergrund, den ich noch ergründen werde). Tief aus dem Wallis kommend, durchquert der Rotten den ganzen Genfer See und tritt in Genf als Le Rhône wieder ans Tageslicht. Dort schließt sich die Innenstadt Genfs an, unten die teuren Einkaufsstraßen, oben auf dem Berg die alte Innenstadt mit herrlichen Plattformen, die eine Aussicht auf Genf und den Genfer See mit seiner riesigen Wasserfontäne zulassen.
Nahe Genf in der Schweizer Stadt Meyrin liegt CERN, diese riesige nukleare Forschungsanlage, wobei der größte Teil davon bereits in Frankreich liegt. Das gesamte Gebiet wurde von der UNESCO als extraterritoriales Gebiet deklariert, geleitet von einem Rat des CERN. Dort gilt weder das Recht der Schweiz oder Frankreichs, was die Immunität des Rats vor jeder Gerichtsbarkeit in diesen Ländern bedeutet. Da das Gebiet aber auch kein eigenes Recht hat, werden alle Schäden über ein eigenes Schiedsgericht und eine Haftpflichtversicherung abgewickelt. Merkwürdige Konstruktion. Der große Teilchenbeschleuniger LHC als Teil von CERN hat einen Umfang von 26 Kilometern (!) – also einem Durchmesser von 8, 7 Kilometern - und enthält 9300 superstarke Magnete. Das ist sehr beeindruckend. Auch beeindruckend ist, dass 23 Staaten Mitglieder des Rates sind und über den (offiziellen) Haushalt von ca. 1 Milliarde Euro pro Jahr verfügen.
Ich fahre südlich der Rhône in die Berge nach Frankreich und finde dort einen Campingplatz. Nur ein Schild mitten in einem Wäldchen mit der Aufschrift, „Grenze, sie dürfen nur passieren, wenn sie gültige Papiere besitzen“ deutet an, dass hier ein anderes Land beginnt, eine sogenannte grüne Grenze, unkontrolliert, ein Feldweg.