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Neugier als Motivation
ОглавлениеDie Motivation entwickelt sich im Laufe der Reise immer wieder neu. Zur Wiederentdeckung der Stätte meiner Kindheit gesellt sich die Neugier auf die Reise selbst. Man kann zwar nicht bei der Planung bereits alle Eventualitäten überblicken, aber die Aussicht auf etwas Neues, Unplanbares macht ja genau den Reiz der Reise aus. Warum ich das mache? Warum ich die Strapazen auf mich nehme? Am Ende bin ich über 5700 Kilometer geradelt, habe 81 Campingplätze aufgesucht, von den 27 Wochen war ich 22 allein unterwegs. Warum? Genau das wurde ich unterwegs 100-mal gefragt. Warum machst du das? Abgesehen davon, dass z.B. in Portugal viele Leute mir erst gar nicht glauben wollten, dass ich mit dem Fahrrad da bin.
Aber für mich ist der entscheidende Punkt: Nicht warum ich diese Reise mache, soll die Frage sein, sondern wie ich meine Neugier stillen kann. Fühle ich mich zufrieden während meiner Reise? Es sind Chancen des Lebens, die ich nutze. Die Fahrradfahrt führt durch die Landschaften West-Europas. Da man natürlich immer nur einen Pfad, einen Weg befährt, stellt sich immer wieder die Frage: Was verpasse ich, weil ich diesen und nicht einen anderen Weg nehme? Nutze ich die Gelegenheit richtig? Am Ende meiner Reise habe ich viele tolle Wege gefunden, aufregende Landschaften entdeckt, gute Luft genossen, aber auch manche Zersiedelung, manchen Kahlschlag, manchen Waldbrand, manche Umweltverschmutzung gesehen, was mich traurig gemacht hat.
Eben weil ich viele der Gegenden von früher kenne, sehe ich auch Veränderungen - positive wie negative. Ich sehe sowohl die Zerstörung, die ungebremste Urbanisierung, die sich in Form von uniformen Neubausiedlungen darstellt, die Industrialisierung als auch manch neuen Naturpark, manche Wiederaufforstung. Das sind Inseln, Inseln für das gute Gewissen. Aber nicht mehr als das. Ein Wald 200 Meter neben einer stinkenden Papierfabrik kann die schlechten Gerüche nicht auffangen. Ein Strand, neben dem ein Industriehafen gebaut wurde, wird immer Müll und Öle enthalten. Ein Dorf, durch das eine vielbefahrene Nationalstraße führt, ist eigentlich tot. Man merkt auf Schritt und Tritt, dass es scheinbar keinen Plan gibt, wie Natur und Industrialisierung in Einklang zu bringen sind. Insellösungen, einzelne Initiativen und lokale Vorstöße prägen das Bild. Natürlich ist es spannend zu beobachten, wie der vermehrte Druck auf die Politik zum Erhalt der Umwelt und zur Renaturierung die Landschaften verändern, aber die meisten Lösungen enden momentan dort, wo die Touristenhochburgen aufhören. Dort gibt es schöne, ausgeglichene Parkanlagen, bewusste Ökobereiche, die jedem Touristen klarmachen sollen, dass die Politik bereits alles Mögliche unternehme. Ein paar Kilometer weiter aber ist nichts mehr von diesen Lösungen zu sehen. Das ist eine traurige Erkenntnis dieser Reise.
Aber zurück zur Neugier. Natürlich mache ich mir Gedanken, welche Neugier auf welche Dinge nun meine Fahrt prägen wird. Sie wird sich nicht nur auf den Wechsel der Landschaften mit ihren verschiedenen Gerüchen erstrecken, sondern auch darauf, unter welchen Lebensumständen die Menschen leben. Wo sind die sozialen Zentren und wie werden sie gelebt? Was macht eigentlich das Stadt-Land-Gefälle in einer bestimmten Region aus? Interessant ist, dass lokale Zentren in Westeuropa maximal 50 Kilometer auseinanderliegen. Wieviel Felder, Wälder und einsame Gegenden ich auch abfahre, nach spätestens 50 Kilometern treffe ich mindestens auf eine mittelgroße Stadt. Da die meisten dieser Knotenpunkte eine lange Geschichte hinter sich haben, vermute ich, dass die 50 Kilometer auch früher schon eine gewisse Größe war, mit der die Menschen sich vernetzen konnten, als es noch keine Autos gegeben hat.
Für mich als einen Menschen, der relativ oft vereist, ist es ein Türöffner, um die Menschen zu erreichen, eine Sprache soweit zu beherrschen, dass ich mich in einem normalen Small Talk unterhalten kann. Ich versuche während meiner Reise konsequent, meine rudimentären Kenntnisse in Französisch und Spanisch zu nutzen, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und weigere mich, auf Englisch weiterzureden, wenn mein Gegenüber auf Englisch antwortet. Gerade auf den etwas abseits gelegenen Strecken ist es ungemein hilfreich, nicht zu erwarten, dass jeder Englisch oder Deutsch beherrscht. Ich hatte mehr als einmal sehr nette Gespräche dadurch. In Portugal war es aufgrund meiner Geschichte natürlich ein Heimspiel für mich.
Beim Durchfahren einer Landschaft, einer Kleinstadt, einer Großstadt spiele ich die Optionen durch: Wie wäre es, wenn ich hier leben würde? Geht das so einfach, aus dem Kontext einer Großstadt auf das Land zu ziehen? Und umgekehrt? Auf dieser Reise erlebe ich hautnah alle Facetten einer Stadt, eines Dorfes oder des Landlebens. Da ich nicht alleine lebe, beziehe ich meine Familie mit ein. Würde meine Frau da mitspielen? Dazu muss ich sagen, dass ich passionierter Großstädter bin und in meinem ganzen Leben nur einmal aufs Land gezogen bin. Das war beim Umzug von Lissabon nach Bayern. Mein Großvater hatte uns eine Wohnung gesucht, in dem gutem Glauben, uns damit Gutes zu tun, mitten in der Landschaft Oberbayerns, eine Wohnung mit Blick in die Berge, aber weit weg von jeder Disco, jedem Kommunikationszentrum. Es war das, was man allgemein unter Kulturschock versteht. Ich war 17 und meinen etwas jüngeren Brüdern erging es nicht viel anders als mir. Wir blieben nicht lange, aber diese Erfahrung hat mich geprägt. Jetzt, 49 Jahre später, sehe ich die Dinge anders und die Bedürfnisse haben sich geändert. Ähnlich wie mein Großvater, der eigentlich nur aus seiner Perspektive handelte. Damals war der Kontakt mit anderen Jugendlichen wichtiger, heute erfreue mich dagegen mehr an schönen Landschaften. Und dennoch: Ist der Mann, der weit von jeder Metropole an seinem Vorgarten bastelt, ist die Frau, die die Wäsche in diesem Vorgarten auf den Wäscheständer aufhängt, sind diese Menschen glücklich in einer Siedlung neben einem ehemaligen, inzwischen verlassenem Dorfkern und vor allem, könnte ich ihren Lebensstil nachahmen? Mit einem Märchen will ich an dieser Stelle auch aufräumen: das Märchen von der guten Luft auf dem Land. Es gibt sie, die gute Luft, aber abseits von einer großflächig betriebenen Landwirtschaft. In diesen Gebieten, in denen Monokulturen vorherrschen, ist die Luft an mehreren Wochen im Jahr geschwängert mit irgendwelchen Chemikalien, die über die Felder versprüht werden und die dann auch über die Siedlungen hinwegziehen, von Wind getragen. Meine Antwort daher vorweg. Ich bin immer noch Großstadtmensch (und meine Frau auch). Mir liegt an einer lebendigen Stadt mehr als an der Einsamkeit auf dem Land.