Читать книгу Vom Lieben und vom Sterben - Bertram Dickerhof - Страница 10
Оглавление2. Nachfolge – ein Abenteuer voll Ambivalenz und Spannung
Wir verlassen mit dieser Thematik den Bereich der historisch sicheren Fakten und wenden uns den Erfahrungen von Menschen mit Jesus zu, die die Evangelien berichten. Wie gesagt, sind diese nicht frei erfunden, doch ist ihre Darstellung eingefärbt von der Deutung des Geschehens aus dem Glauben heraus und von der Absicht, diesen Glauben den jeweiligen Adressaten zu verkünden.
Etliche junge Männer verließen damals ihre Familien aufgrund der materiell aussichtslosen Lage: Manche gingen in die Berge Galiläas, um gegen die Unterdrückung durch die Römer und die Ausbeutung der Landbevölkerung durch reiche Städter zu kämpfen; andere gingen ins Ausland, wo sie sich ein besseres Leben erhofften. Die Männer und Frauen, die Jesus folgen, spricht seine Botschaft an, dass eine große Wende bevorsteht, die Gott bewirkt: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium (Mk 1,15). Sie nehmen in Kauf, ihre Familien einer Arbeitskraft zu berauben und sie in Trauer, Schmerz und manchmal auch Zorn zurückzulassen. Sie erleben, wie durch Jesus Kranke gesund werden, Blinde wieder sehen und Lahme gehen; Aussätzige rein werden und Taube hören; Tote aufstehen und den Armen das Evangelium verkündet wird (Mt 11,5). Das Wirken Jesu erfüllt nicht nur diese Verheißungen des Propheten Jesaja (Jes 42,6f; 61,1); es lässt das Reich Gottes, das Jesus verkündigt, hier und jetzt Wirklichkeit werden. In Jesu respektvoller, mitfühlender und annehmender Zuwendung können Arme sich aufrichten, innerlich freier werden, Hoffnung und Selbstvertrauen schöpfen und zu Selbstachtung und neuem Lebensmut finden. Die Begegnung mit Jesus befreit Menschen von ihren Dämonen, von Zwängen und Obsessionen (Mt 12,28). Seine Predigten vermitteln den Zuhörern Größe und Würde, wenn er ihnen z. B. das erhabene Ethos von Edlen zutraut: Immer wieder vergeben! Frauen als Personen achten! Auf Vergeltung verzichten! Selbst Feinde lieben! Sich keine Sorgen um Essen, Trinken und Kleidung machen! … (Mt 5–6). Jesus vermag das Herz der Menschen zu erreichen und ihre tiefste Sehnsucht zu berühren, wenn er etwa die Armen, die Hungernden und die Weinenden seligpreist oder Gott mit einem Vater vergleicht, der seinem gescheiterten Sohn entgegengeht und ihn annimmt, ohne ihm seine Verfehlungen vorzuhalten. Er vertraut darauf, dass die große Wende nicht durch Macht und Gewalt, sondern durch Gott herbeigeführt wird, der den Samen des Reiches Gottes in den Menschen wachsen, reifen und Frucht bringen lässt (Mk 4,26). So kommen seine Jünger zur Überzeugung, dass Jesus der von vielen Zeitgenossen herbeigesehnte Messias ist, der Israel erlösen werde (Lk 24,21).
MESSIAS
Was sich die Jünger unter diesem Titel vorstellen, ist nicht leicht zu sagen, da die alttestamentlichen Messiasvorstellungen keine eindeutige Gestalt umreißen und im Frühjudentum noch stärker auseinanderdriften. In der Zeit ab etwa 150 v. Chr. wuchs unter den Frommen die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Theokratie mit einer Doppelspitze: ein Hoherpriester aus priesterlichem Geschlecht und ein König aus dem Haus Davids. Beide haben sie die Aufgabe, die Sünder im eigenen Volk zu züchtigen und Jerusalem von den Heidenvölkern zu reinigen. In den Qumrantexten, Zeugnissen des antiken Juden- und frühen Christentums aus den Jahren 250 v. Chr. bis 40 n. Chr., sind dagegen geistliche Würde und weltliche Kriegsführung auf die beiden Führer aufgeteilt: Während der priesterliche Gesalbte Sühne für das Volk schafft und es belehrt, richtet der als Spross Davids bezeichnete königliche Messias die Königsherrschaft Israels wieder auf. Auf diesen bezieht sich die Weissagung Bileams, eines auch außerbiblisch bezeugten heidnischen Propheten zur Zeit des Mose (Num 24,17): Ich sehe ihn, aber nicht jetzt; ich schaue ihn, aber nicht von nahem. Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen und wird zerschmettern die Schläfen der Moabiter und den Scheitel aller Söhne Sets. Der königliche Messias ist zwar dem priesterlichen Gesalbten nachgeordnet, doch ist zur Zeit Jesu angesichts der realen Verhältnisse, d. h. der Herrschaft des fremdstämmigen Herodes und der römischen Vormacht, der kriegerische Messias aus dem Hause David in den Vordergrund getreten. Es liegt nahe, dass die Jünger Jesu im Großen und Ganzen im Mainstream der Erwartung eines politischen Messias lagen, der die Römer vertreibt, für Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum sorgt, alles zum Guten wendet und das Volk sammelt und heiligt. Damit ein aus den Menschen geborener Messiaskönig diese Mission erfüllen kann, geht die Apokalyptik (siehe S. 32) noch einen Schritt weiter: Sie verschmilzt den politischen Messias mit der himmlischen Gestalt des Menschensohnes (Dan 7), der nach dem Sieg, den Gott herbeiführt, ewige Herrschaft über alle Völker bekommt.
AMBIVALENZ
Bei diesen Perspektiven liegt es nahe, dass die Jünger die Frage beschäftigt, was es ihnen persönlich „bringt“, dem Messias nachzufolgen: Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israel richten. Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen (Mt 19,28f). Bei dieser Perspektive ist es kein Wunder, dass die Zwölf über ihren Rang in der Gruppe der Apostel nachdenken, Konkurrenten von „außen“, die sich nicht den Mühen und Spannungen der Nachfolge unterziehen, ausschließen wollen (Mk 9) und sich wünschen, zur Rechten und Linken des Messias zu herrschen, wenn dieser die Macht in Israel übernimmt (Mk 10).
Großartige Horizonte also auf der einen Seite. Auf der anderen Seite aber war der Weg mit Jesus immer wieder verunsichernd, eine Infragestellung der Vorstellungen der Jünger und alles andere als bequem. Er ist ein Stück Passion, in der ein Jünger Jesu grundsätzlich lebt: das Ertragen einer grundsätzlichen Ambivalenz. Eigentlich ist Ambivalenz ein Grundprinzip des Menschseins schlechthin. Es zu bejahen bedeutet, Spannung auszuhalten. Das vermeiden wir Menschen gerne. Die Jünger müssen es bei Jesus jedoch lernen: Sie folgen einem Mann nach, der selber nichts hat, der auf Mildtätigkeit und Gastfreundschaft angewiesen ist. Wie er haben auch sie keinen Ort, wo sie ihr Haupt hinlegen können. Tun, wozu man Lust hat, und das Leben genießen sieht anders aus. Also heißt es, sich in den Rahmen zu fügen und das „Sowohl … alsauch …“ auszuhalten. Jesu Klarheit und Wahrheit fordern sie heraus: Immer wieder schilt er sie wegen ihres kleinen Glaubens, wenn sie sich z. B. Sorgen ums Essen oder ums Übernachten (Lk 9,56) machen. Oder er deckt ihren Wunsch nach Ansehen und Position auf (Mk 9,33), dem er entgegenhält: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein (Mk 9,35), statt andere zu unterdrücken oder seine Macht zu missbrauchen, wie es bei denen üblich ist, die Macht und Ansehen besitzen (Mk 10,42f). Und dann stellt er ihnen auch noch ein Kind, ein nutzloses, Kinderkrankheiten ausgesetztes und deshalb dem Tode nahes, damals gering geschätztes Kind vor Augen: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen (Mt 18,3). Schluss damit, sich selbst dadurch aufzubauen, dass man auf andere herabblickt und den Splitter in ihrem Auge findet oder sie für seine Zwecke gebraucht: für seine Lust, seinen Profit, seine Bequemlichkeit.
Jesu Verkündigung konnte manchmal hart sein: Dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als ein Reicher ins Reich Gottes gelangt (Mk 10,25), jagt den Jüngern Schrecken ein: Streben nicht alle nach Sicherheit und nach dem Besitz der dazu nötigen Mittel? Da müssen sie auch um sich selbst fürchten, auch wenn sie alles verlassen haben, um Jesus nachzufolgen. Oder folgendes Wort aus der sogenannten Brotrede (Joh 6,53f): Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Viele konnten dieses Wort nicht verstehen – sollte das eine Anleitung zum Kannibalismus sein? – und wenn sie es verstanden, konnten sie nicht akzeptieren, dass das ewige Leben, das sie suchten, nur über Gleichwerden mit Jesu Tod zu finden sein sollte. Um den Tod zu finden, waren sie doch nicht mit Jesus gegangen: Sie wollten Leben in Fülle! So verließen ihn viele, die bisher mit ihm gewandert waren. Die Zwölf blieben, aber kaum unbeschwerten Herzens.
Oft verstanden sie ihn nicht: Wieso wehrte er ab, als Messias bezeichnet zu werden? Seine Gleichnisse musste er ihnen ebenso privat erklären wie sein Verständnis der damals von den Pharisäern gepushten kultischen Reinheit: Die wirkliche Unreinheit vor Gott kommt von den bösen Regungen des Herzens. Nicht der Dreck an Händen und Schüsseln trennt den Menschen von Gott, sondern Taten aus inneren Impulsen, in denen einer das Seine auf Kosten anderer sucht. Sie verstanden nicht, wieso Jesus die Gefährlichkeit der Lehren der Pharisäer und des Herodes mehr beschäftigte als die unmittelbar bedrängende Frage nach dem täglichen Brot für sie selbst (Mk 8,15). Nicht nur die synoptischen Evangelien, auch das Johannesevangelium lässt immer wieder durchblicken, dass die Jünger mit ihrem Verständnis Jesus hinterherhinken: Philippus möchte den Vater gezeigt bekommen und Jesus reagiert mit einer Spitze: Schon so lange bin ich bei euch und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater (Joh 14,9). In den sogenannten Abschiedsreden im Johannesevangelium (Joh 14–16), dem letzten Zusammensein mit Jesus, wollen die Jünger die letzte Gelegenheit nutzen, ihre offenen Fragen zu klären (Joh 14,5.8.22; 16,5.17), und glauben schließlich, Jesus nun endgültig zu verstehen. Doch erweist sich auch diesmal ihr Verstehen als vorläufig, und es hat auch nicht die Kraft in sich, dass sie in der Versuchung bei ihm bleiben können (Joh 16, 31f). Denn der Jünger muss immer weiter wachsen, um die Botschaft Jesu immer mehr tragen zu können (Joh 16,12). Ist das nicht merkwürdig, ja paradox, wenn eine frohe Botschaft getragen, ja ertragen werden muss? Das zu oberflächliche Erfassen oder gar Missverstehen von Wort und Person Jesu hat dann wohl eine Funktion, einen geheimen Zweck, der darin bestehen dürfte, keine Verunsicherung oder Angst ertragen zu müssen. Denn gründliches Verstehen setzt voraus, sich selber in Frage stellen zu lassen, dabei zu entdecken, dass manche eigenen Vorstellungen von der Welt einfach nicht stimmen, dass diesen entsprechende Bestrebungen Verfehlungen sind: Das kann das eigene Selbstverständnis schon sehr erschüttern, vielleicht es sogar sterben lassen.
Als Jesus den Weg nach Jerusalem einschlägt, spitzen sich Verunsicherung und Spannung der Jünger zu. Ja, eine gewisse Entfremdung tritt ein. Doch die Jünger bleiben dennoch bei ihm. Der Zwiespalt beginnt damit, dass Jesus ihnen offen mitteilt, der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen (Mk 8,31). Spricht so ein Messias, der die Römer vertreiben und soziale Gerechtigkeit herstellen will? Das Wort vom „Auferstehen“ beschäftigt sie, und sie fragten einander, was das sei: von den Toten auferstehen (Mk 9,10). Sie verstehen es nicht, können es nicht in sich verankern. „Auferstehen“ muss ihnen deswegen aus dem Blick geraten und kann in ihrem Denken keine Rolle mehr spielen. Ihr Verständnis endet bei der Ankündigung des schmählichen Untergangs ihres Messias in Jerusalem. Das wäre der Zusammenbruch aller Hoffnungen der Jünger, der Zusammenbruch ihrer Vorstellung vom Messias.
AUFERSTEHUNG
Israel kannte vor dem Exil (587 bis 538 v. Chr.) in Babel keine Auferweckung der Toten. Die Verstorbenen waren in der Scheol in völliger Bewusstlosigkeit. Sie waren kraftlose, von Gott vergessene Schatten. Diese Auffassung änderte sich zunächst durch Exilspropheten wie Jesaja – Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erde liegt, wird erwachen und jubeln (Jes 26,19) – und Ezechiel – So spricht Gott, der Herr: Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf. Ich bringe euch zurück in das Land Israel (Ez 37,12): Die Rückführung Israels aus dem Exil wird hier als seine Auferweckung begriffen. Die Weisheitsliteratur5 wird sie ab dem 2. Jh. v. Chr. als leibliche Auferstehung Israels deuten. Die frühjüdische Apokalyptik, die wesentlich mit dem um etwa 165 v. Chr. geschriebenen Danielbuch verbunden ist, kommt in ihrer Konzeption zu einer individuellen Auferstehung der Toten: Auf Grund der aggressiven Hellenisierung, die alles Jüdische unter Todesstrafe stellte, zerbrach die Gewissheit, dass Jahwe sein Volk immer beschützt. Da die schreckliche Gegenwart nicht zukunftsfähig sei, so der Prophet Daniel, kann die Zukunft nicht in Kontinuität zur Vergangenheit stehen. Gott, der allein die Zukunft bewirkt, werde daher die gegenwärtige Geschichte beenden und einen neuen Äon der himmlischen Vollendung heraufführen, in den hinein Lebende und Verstorbene des Gottesvolkes gerettet würden. Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten. Du aber geh nun dem Ende zu! Du wirst ruhen und am Ende der Tage wirst du auferstehen, um dein Erbteil zu empfangen (Dan 12, 2f.13). An dieser Stelle begegnet erstmals der Gedanke einer individuellen Auferweckung der Toten durch Gott am Jüngsten Tag. Nur die eindeutig Bösen werden für immer Tote bleiben, alle anderen werden auferstehen, um individuell, je nach ihren Taten, gerichtet zu werden.
Im Hellenismus gab es keine begründete Hoffnung auf ein persönliches Weiterleben nach dem Tod, außer im Gedächtnis der Angehörigen. Er schrieb den Lebensgenuss deswegen groß: „Bäder und Liebe und Wein, sie richten uns freilich zugrunde, aber Bäder und Liebe und Wein sind das Leben“, war ein geflügeltes Wort. Jedoch kannte die griechische Mythologie Konzepte von Auferstehung in den Mysterienkulten und im Schicksal der Halbgötter Herakles, Asklepios, Dionysos, die nach ihrem Tod in den Himmel erhoben, unsterblich und vergöttlicht wurden, nachdem sie sich auf Erden verdient gemacht hatten. Die Sadduzäer, die Partei der Oberschicht und der Priester, lehnte den Gedanken sowohl eines neuen Äons als auch einer Auferstehung der Toten ab. Anders die Pharisäer: Sie waren eher die Partei der kleinen Leute und erhofften eine Auferstehung aller Toten zum Jüngsten Gericht.
SPANNUNG UND ENTFREMDUNG STEIGEN
Zurück zu Jesus und seinen Jüngern: Wenn Jesus von Auferstehung sprach, mussten die Jünger also annehmen, dass er die Auferstehung am Jüngsten Tag meinte. Damit gerieten sie in ein Dilemma: Stand der Weltuntergang unmittelbar bevor und damit auch ihr eigener Tod? War das aber nicht der Fall, was sollte dann Auferstehung bedeuten und was erbrachte sie für die Erwartung eines politischen Messias Jesus? Die Rede Jesu von seinem Ende und seiner Auferstehung musste die Jünger verwirren und verunsichern. Lieber wollten sie davon nichts wissen.
Insgesamt drei Versuche unternimmt Jesus nach den Synoptikern, um mit den Jüngern über sein Ende in Jerusalem und damit auch über den Konflikt mit Petrus ins Gespräch zu kommen: Petrus hatte auf Jesu erste Ankündigung seines Leidens und Todes in Jerusalem mit einer Zurechtweisung reagiert: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen! (Mt 16,22). Da fährt Jesus ihn an: Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen (Mt 16,23). Ja, natürlich, wir Menschen wollen Leiden für uns selbst und unsere Lieben auf alle Fälle vermeiden. Gott etwa nicht auch? Für Petrus und die anderen Jünger muss sich hier ein erschreckender Abgrund auftun, in dem ihre und unsere Vorstellung eines „lieben Gottes“ schlicht untergeht. Kein Wunder, dass die Jünger sich auf dieses Thema nicht einlassen. Sie blocken ab. Ob die „Drei“-Zahl hier tatsächlich die konkrete Anzahl der Leidensankündigungen Jesu bedeutet, ist fraglich. Eher könnte gemeint sein: Immer wieder macht Jesus Anläufe, bis er die Aussichtslosigkeit einsieht, mit den Jüngern über sein Ende sprechen zu können, und seine Versuche dann aufgibt. Wer aber das Gespräch verhindert, sorgt für Spannung in der Beziehung. Er bekommt an dem, was den anderen bewegt, keinen Anteil mehr und entfremdet sich ihm.
Allerdings gibt es auf der anderen Seite immer wieder Ereignisse, die die Jünger als Bestärkung ihres Glaubens an den politischen Messias auffassen: Hatten doch drei von ihnen Jesus in göttliches Licht getaucht im Dialog mit Mose und Elija auf dem Berg der Verklärung gesehen und die Stimme aus der Wolke gehört, die ihn ihren geliebten Sohn nennt, auf den die Jünger hören sollen (Mk 9,2–10). Oder als Jesus als messianischer Friedenskönig in Jerusalem einzieht und die Leute rufen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn! Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe! (Mk 11,9). Das war doch Wasser auf die Mühle ihres Messiasverständnisses. Gleichgesinnte und Gegner teilten ihre Vorstellung vom Messias Jesus, und seine Ankläger werden diesen Einzug nutzen, um Jesus vor Pilatus als politischen Aufrührer hinzustellen. Als Jesus Händler und Käufer aus dem Tempel warf und die Stände der Geldwechsler und Taubenverkäufer umstieß mit den Worten: Heißt es nicht in der Schrift: mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden? Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht (Mk 11,17) – war das nicht die Kampfansage des Messias an die Adresse der Hohenpriester und der Schriftgelehrten? Diese verstanden es jedenfalls so und suchten nach einer Möglichkeit ihn umzubringen. Denn sie fürchteten ihn, weil alle Leute von seiner Lehre sehr beeindruckt waren (Mk 11,15–19).
Schwankend zwischen Angst und Zuversicht, ob der „Menschensohn“ – dieses Wort gebraucht Jesus für sich selbst – tatsächlich am Ende untergehen und sterben wird und sie als seine Jünger womöglich mit ihm (Joh 11,16) oder ob er als Messias und König von Israel mit ihnen zu seiner Rechten und Linken (Mk 10,37) die Herrschaft übernimmt, gingen sie mit ihm nach Jerusalem hinauf, ahnend, dass dort eine Entscheidung fallen wird zwischen leidendem Menschensohn und politischem Messias.
Alles in allem sind die Tage des galiläischen Frühlings und des ungebrochenen Vorschussvertrauens der Jünger in Jesus vorbei. Als eine Frau ihn mit kostbarem Öl salbt, fahren die Jünger6 diese harsch an: Wozu diese Verschwendung? Man hätte das Öl um mehr als dreihundert Denare verkaufen und das Geld den Armen geben können. Indirekt treffen sie damit auch Jesus, der diese Verschwendung nicht nur zulässt, sondern auch verteidigt (Mk 14,4f). Tatsächlich entspricht die Summe von dreihundert Denaren dem, was ein Tagelöhner damals in einem Jahr verdienen konnte, heute etwa 24.000 Euro, wenn man einen Lohn von 10 Euro pro Stunde zu Grunde legt. Doch handelt es sich wirklich um eine Verschwendung? Oder ahnt die Frau, dass Jesu Tod am Kreuz als Hingabe seines Leibes für euch (1 Kor 11,24) derart verschwenderisch ist, jedes menschliche Maß so maßlos übersteigt, dass sie durch ihre „verschwenderische“ Tat die Einzigartigkeit dieser Hingabe und dieser Person würdigen will? So scheint Jesus sie zu verstehen, wenn er sagt: Die Armen habt ihr immer bei euch und ihr könnt ihnen Gutes tun, sooft ihr wollt; mich aber habt ihr nicht immer. Sie hat getan, was sie konnte. Sie hat im Voraus meinen Leib für das Begräbnis gesalbt (Mk 14,7–8).
Wie weit die innere Entfremdung gediehen ist, zeigt folgende Begebenheit beim letzten Abendmahl: Als Jesus davon spricht, dass ihn einer der Zwölf verraten wird, da wurden sie sehr traurig und einer nach dem andern fragte ihn: Bin ich es etwa, Herr? (Mt 26,21). Sie zweifeln nicht nur an Jesus, sondern tragen ihm gegenüber auch Ablehnung und vielleicht sogar Hass in ihrem Herzen, so dass sich keiner sicher ist, ob nicht er selbst es sein wird, der Jesus verrät. Jeder hat Anteil an Judas, der den Behörden den Aufenthaltsort Jesu anzeigt. Als Jesus seinen Jüngern nur ein paar Stunden später ohne jeden Vorwurf voraussagt, dass sie Anstoß an ihm nehmen werden, was sie doch de facto schon seit längerem tun, reagieren sie darauf wie bei den Leidensankündigungen Jesu: Sie blocken ab – umso mehr, als sie sich ertappt gefühlt haben werden: Was als unangenehm und unpassend erscheint, was dem Anschein nach nicht sein darf oder peinlich ist, was stört oder gar Angst macht, wird unter den Tisch gekehrt. Es scheint dann weg zu sein. Petrus kann mit voller Überzeugung behaupten: Auch wenn alle Anstoß nehmen – ich nicht! Jesus sagte ihm: Amen, ich sage dir: Heute, in dieser Nacht, ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Petrus aber beteuerte: Und wenn ich mit dir sterben müsste – ich werde dich nie verleugnen. Das Gleiche sagten auch alle anderen (Mk 14,27–31). Sie möchten zu ihm stehen, gleich was kommt. Da ihr guter Wille aber mit ihren Zweifeln an Jesus, ihrem Unverständnis, ihrer Kritik an ihm, ja Ablehnung und ihrer Angst vor den Juden nicht verbunden ist, steht dieser Wille auf tönernen Füßen: Sie werden ihr Versprechen nicht halten können.
Und in der Tat ist es schon aus, als Jesus Petrus, Johannes und Jakobus bittet, ihm in seiner Todesangst beizustehen und mit ihm zu wachen. Wer würde das nicht für seinen Freund tun, wenn dieser in seiner Not so klar darum bittet? Dies wollen auch die drei Jünger im Garten Getsemani. Sie hatten eben erst versprochen, bei ihm zu bleiben. Sie wollen es, aber sie können es nicht. Sie vermögen einfach nicht mehr, sich wach zu halten. Zu groß ist die Spannung. Die Augen waren ihnen zugefallen (Mk 14,40; Mt 26,43), vor Kummer erschöpft (Lk 22,45). Sie sind am Ende. Aufgebraucht ist ihre Kraft, die vermiedenen und ungelösten Spannungen zu ertragen. Die Dämme, durch die sie sich selbst und ihre Liebe zu Jesus schützen wollten, brechen vollends ein, als die Häscher kommen. Sie kapitulieren und fliehen. Außer Petrus. Er reißt sich zusammen, überwindet seine Angst und setzt sich der feindlichen Umgebung des hohepriesterlichen Hofes aus, um bei Jesus zu sein. Doch seine verdrängten Gefühle und Bedürfnisse unterminieren die Mauer aus Willen und Vorstellung: Petrus verleugnet Jesus dreimal mit wachsender Aggression gegenüber denen, die ihn in Frage stellen (Mk 14,71). Als er merkt, was geschehen ist, was er getan hat, bricht er zusammen und kapituliert ebenfalls.
Wir wissen nicht, was mit den Zwölfen – das war der Name für den Kreis der zwölf Apostel auch nach dem Weggang des Judas – geschieht. Es sind die Jüngerinnen Jesu, die Frauen, die unter seinem Kreuz stehen oder aus der Ferne Anteil an seinen Leiden nehmen und den Verstorbenen zu seinem Grab begleiten. Bei alledem sind die Zwölf nicht dabei!7 Ihr Fehlen mag Zeichen ihres mangelnden Mutes sein und Ausdruck des Anstoßes, den sie an Jesus nehmen. Doch geht die Bedeutung ihres Fernbleibens weit darüber hinaus: Denn bei Markus und Matthäus verschwinden die Zwölf als Handlungssubjekte komplett aus der Geschichte. Am radikalsten bei Markus: Kein einziger ihrer Namen taucht in seinem Evangelium noch einmal auf. Bei Matthäus finden wir sie erst Tage oder Wochen später wieder auf einem Berg in Galiläa, auf dem ihnen der Auferstandene erscheint, ein Widerfahrnis, das sich ohne ihr Zutun ereignet. Das Verschwinden der Zwölf als Akteure aus dem Evangelium erinnert an die Sterndeutergeschichte und das Verschwinden der Magier aus ihr in Jerusalem. Die Magier wie die Zwölf – sie sind wie aus der Geschichte gefallen, wie vom Erdboden verschluckt, wie gestorben und begraben mit dem, den sie suchten bzw. dem sie folgten. Und in der Tat wird dieses Ende Jesu den Zwölfen den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Nicht nur ihre menschlichallzumenschlichen Hoffnungen auf gutes Auskommen, Einfluss und Ansehen zur Rechten und Linken des regierenden Messias sind in den Abgrund des Nichts gefallen. Nicht nur erleiden sie den Verlust eines Menschen, der ihnen nahe war, den sie geliebt haben. Vielmehr ist alles in Frage gestellt, was sie in allen Zweifeln und Prüfungen bei Jesus bleiben ließ: die Verheißung ewigen Lebens, ihr Glaube, dass durch ihn das Reich Gottes kommt. Denn kein Gott tritt hervor und wendet das Blatt der Geschichte, vertreibt die Heiden und die Sünder, stellt das Reich Davids wieder her. Im Gegenteil: Römer und Herodes behaupten sich. Und das Rad der Geschichte dreht sich weiter, wie es sich immer gedreht hat, die Welt wird nicht gerichtet und anscheinend beginnt auch kein neuer Äon. Gott hat geschwiegen, hat Unrecht und Böses geschehen lassen. Wieder einmal, wie so oft. Oder hatte er gar Jesus verlassen (Mk 15,34)? Konnte es denn sein, dass „ihr“ Jesus von Gott verflucht war, wie es in der Torah geschrieben steht: ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter (Dtn 21,23c)? Sollte es denn möglich sein, dass Jesus, der doch Worte ewigen Lebens hatte, wie ihnen schien, sie nicht zu Gott, dem Ziel der menschlichen Sehnsucht, sondern in die Gottferne führte, in der sie ja nun tatsächlich saßen? War Jesus doch der Gotteslästerer, der sich zum Sohn Gottes gemacht hatte, als den der Hohe Rat ihn verurteilt hatte? Verwirrung, Angst, Ohnmacht, Sinn- und Perspektivlosigkeit … Passion und Tod Jesu befördern sie unversehens aus dem Raum des Außen und der historischen Ereignisse in den Raum des Innen, der Bewusstheit von Gedanken und Gefühlen, Empfindungen, inneren Bewegungen, geistigen Gegebenheiten, den sie bis dahin kaum kannten und so oft vermieden hatten. In der Tat hatten sie ja nichts wissen wollen vom Ende des Menschensohns in Jerusalem, von ihrer Entfremdung gegenüber Jesus, ihrer inneren Verwandtschaft mit Judas. Das Johannesevangelium berichtet anschaulich, dass die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren (Joh 20,19). Damit schützen sie sich vor den Juden, liefern sich aber all den Empfindungen und Gefühlen aus, die die Ereignisse der letzten Stunden, Tage, Wochen in ihr Bewusstsein spülen. In deren Untergrund brodelt die Schlüsselfrage: Wer ist Jesus aus Nazareth in Bezug auf Gott wirklich und wie ist Gottes Reich zu verstehen?
WACHSTUM UND SÜNDE
Halten wir ein wenig inne, um das Geschehene nachwirken zu lassen. Wer meint, Nachfolge Christi sei nur ein leichtes und unbeschwertes Dahingleiten, wird angesichts des Weges der Jünger mit Jesus eines anderen belehrt: Ambivalenz von Glauben und Unglauben, Spannungen von Verstehen und Nichtverstehen, von Zeiten des Trostes und Durststrecken, von Verlust, Leid und Tod, von Vertrauen einerseits und Enttäuschung, Vorwürfen und Zweifeln andererseits. Ambivalenzen und Polaritäten gehören zu einem Glauben, der auf Wachstum angelegt ist: Man denke an Jesu Gleichnisse vom Senfkorn, das das kleinste von allen Samenkörnern [ist]; sobald es aber hochgewachsen ist, ist es größer als die anderen Gewächse und wird zu einem Baum (Mk 13,32), oder vom Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Sea Mehl8 verbarg, bis das Ganze durchsäuert war (Mt 13,33). Wachstum geht aber vonstatten nur in Spannungen und durch Krisen hindurch: Was bislang Sinn stiftete, plausibel erschien, Fundament des eigenen Lebens war, beginnt zu verblassen oder gar durch ein Ereignis auf einen Schlag zusammenzubrechen.
Die Hinrichtung Jesu war für die Jünger ein solches Ereignis. Unglück, Verlust und Leid bleiben ihnen nicht erspart. Ein Teil der dadurch ausgelösten Krise besteht darin, dass selbstverständliche Grundannahmen über das Leben, da sie nun nicht mehr funktionieren, zu Bewusstsein kommen können – wie z. B. die Vorstellungen der Jünger vom politischen Messias, vom Reich Gottes als einem Wohlfahrtsstaat, von einem Gott, der in die Geschichte eingreift wie eine innerweltliche Ursache. Es gilt, sich die Wahrheit einzugestehen und seine gewohnten, aber falschen Vorstellungen loszulassen und zu kapitulieren.
Der Kern dessen, was eine Krise aufdeckt, ist die Wahrheit der Sünde. Das zeigt uns das Beispiel des „verlorenen Sohnes“ (Lk 15) im Gleichnis vom barmherzigen Vater, durch das wir versuchen wollen, diesen für die Schrift wichtigen, aber schwierigen und unmodernen Begriff „Sünde“ zu verstehen. Der jüngere Sohn hat sein Vermögen durchgebracht und beneidet hungernd die Schweine um ihr Futter. Ähnlich wie die Jünger ist auch er eingeschlossen in einer ausweglosen Situation. Und so wird der Weg frei für das Entscheidende: Da ging er in sich … (Lk 15,17). Er wird seiner unbewussten Vorstellungen vom Leben und seines diesen entsprechenden Strebens inne. Er erkennt sie als Verfehlung, als Sünde: Ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich, Vater, versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein (Lk 15,18f). Das Wort „Sünde“ ist weitgehend aus unserem Sprachgebrauch verschwunden, keineswegs aber das damit Gemeinte aus der Realität, wie wir gleich sehen werden, wenn wir den „verlorenen Sohn“ weiter begleiten. Worin mag er seine Sünde sehen? Sein Erbteil zu fordern, wie er es tat, war rechtlich möglich, entsprach jedoch nicht den Gepflogenheiten in Israel und bürdete zudem der Familie einen finanziellen Aderlass auf. Vielleicht erkennt er Schuld darin, möglicherweise auch in dem zügellosen Leben, das er dann führte und bei dem er sein Vermögen verschleuderte (Lk 15,13). Sünde führt zu schuldhaften Taten, für die der Täter verantwortlich ist – aber Schuld macht das Phänomen Sünde nicht aus. Das Wesentliche der Sünde liegt verborgen hinter der Schuld. Sünde ist zuerst eine existenzielle Kategorie, nicht eine moralische.
Dem jüngeren Sohn muss es so erschienen sein, dass er sein Glück nur finden kann, wenn er restlos alles, was ihm zusteht, fordert – nicht etwa nur einen Teil, um so seiner Familie entgegenzukommen. Er begibt sich in die Fremde und schneidet damit alle bestehenden Beziehungen zu seiner Familie, seinen Freunden und zu seiner Heimat ab. Sein zügelloses Leben mag ihm Kumpane und Gespielinnen schaffen, es verhindert jedoch echte Begegnungen und personale Beziehungen. Der drohende finanzielle Ruin kann ihn nicht davon abhalten, sein Vermögen restlos durchzubringen. Wir können in diesem Verhalten des jüngeren Sohnes eine Fixiertheit auf die eigenen Vorstellungen und Bestrebungen sehen, die sich gegenüber berechtigten Anliegen anderer ebenso verschließt wie überhaupt gegenüber Beziehungen: Der jüngere Sohn will sich nicht stören und nicht in Frage stellen lassen. Er wirkt wie gefangen in einer Eigenwelt, die blind für die Wirklichkeit ist: Wie kann er glücklich sein, wenn ihm das Geld, das er für sein Glück braucht, zwischen den Fingern zerrinnt? Diese Eigenwelt hat zerstörerische Wirkungen auf andere, z. B. die Familie, und auch auf ihn selbst: Am Ende steht er völlig verarmt und von allen verlassen da. Diese Zerstörung bewirkt allerdings auch, dass seine Eigenwelt aufgedeckt und als Sünde erkannt werden kann, wie der Fortgang der Geschichte zeigt: Sünde ist die geistige Macht, die den Menschen verschließt und in eine starre, beziehungsfeindliche, eigentümliche Welt einsperrt, deren Boden Angst ist – denn Angst ist es, die Verschlossenheit und Starre bewirkt. Erfüllung, die im Menschen angelegt ist und sich durch Beziehungen entfaltet, wie an den lebendig machenden Begegnungen mit Jesus zu sehen ist, wird durch die Sünde verhindert. Durch die Sünde wird das Leben verfehlt, der Schöpfer dieses Lebens und auch der Mitmensch.
Dem „verlorenen Sohn“ geht all das nun an diesem Karfreitag seines Lebens auf, als er die Schweine um ihr Fressen beneiden muss. Er kann in sich gehen und seine Sünde erkennen. Die Weise, wie er als Mensch bisher unterwegs war, stirbt dadurch. Er kann nicht mehr derselbe Sohn sein, der er war: Mach mich zu einem deiner Tagelöhner! (Lk 15,19). Das ist die Kapitulation: das Loslassen-Können des bisherigen naiv gewissen Lebensfundamentes, des bisher Plausiblen und Sinnstiftenden, um die Wirklichkeit, an der nicht mehr vorbeizusehen ist, annehmen zu können. Auch die Jünger werden sich ihre Sünde eingestehen müssen, die durch das Abblocken eines klärenden Gesprächs sie die Begegnung mit Jesus verfehlen, sich ihm entfremden und ihn verlassen ließ, so dass er ohne seine Freunde leiden und sterben musste. Die Sünde und ihre Macht sind jedoch nicht das Ende: Der „verlorene Sohn“ gewinnt sich selbst als Person. Der barmherzige Vater nimmt den Sünder an. Er verleiht ihm eine neue Sohnschaft und Herrschaft. Das werden auch die Jünger erleben.
Die entscheidende Voraussetzung dabei ist Vertrauen. Der „verlorene Sohn“ vertraut darauf, dass sein Vater ihn als Tagelöhner aufnehmen wird. Auch die Jünger können sich einen Rest an Offenheit bewahren durch ihre Erfahrungen mit Jesus und ihre Liebe zu ihm. In dem Maß allerdings, wie wir nicht vertrauen können, dass das Sterben in einer solchen kreuzigenden Lebenssituation in Auferstehung gewandelt wird, bleibt uns nur die Devise „lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot“ (1 Kor 15,32; Jes 22,13).
5 Zur Weisheitsliteratur zählen die Bücher Ijob, Sprichwörter, Kohelet, Jesus Sirach und Weisheit; für sie ist wahrer Humanismus ohne Gottesfurcht undenkbar.
6 Nach Joh 12,4 ist es Judas allein.
7 Außer im Johannesevangelium der Lieblingsjünger Jesu, bei dem es sich um Johannes selbst handelt.
8 Das sind ungefähr 24 kg: Geduld ist also nötig, bis der Sauerteig diese Menge Mehl durchsäuert hat.