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3. Auferstehung

Auferstehung ist das Herzstück des christlichen Glaubens. Das hat schon Paulus klar erkannt: Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos (1 Kor 15,14). Auferstehung durchzieht der Sache nach das gesamte Neue Testament, in 18 von 27 Schriften kommt sogar das Wort selbst vor. Versuchen wir zu verstehen, was die Schrift damit sagen will, damit dadurch auch uns diese Wirklichkeit erschlossen wird.

3.1 Der biblische Befund

Das älteste schriftliche Zeugnis der Auferstehung Jesu, etwa 50 n. Chr., findet sich in 1 Thess 1,10: … Jesus, den er [Gott] von den Toten auferweckt hat … Solche eingliedrigen Auferweckungsformeln9 müssen bereits vorher als mündliche Bekenntnisformeln in Gebrauch gewesen und damit deutlich älter sein. Sie besagen, dass Gott Jesus nicht in der Scheol, dem Totenreich, gelassen, sondern an ihm gehandelt, ihn erweckt hat. Darüber, wie es zu dieser Überzeugung kommt, besagen sie nichts.

Diese Lücke schließt 1 Kor 15,3–8. Dieser Text verknüpft die Auferstehungsbekenntnisse mit Erscheinungen des Auferstandenen, die damit zur Quelle des Wissens von der Auferweckung Jesu werden. 1 Kor 15,3–8 ist eine gebündelte Zusammenfassung von Traditionen und Inhalten der Auferweckungspredigt und reicht weit in die mündliche Überlieferung zurück: Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen. Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln. Als Letztem von allen erschien er auch mir, dem Unerwarteten, der Missgeburt.

Paulus sieht seine eigene Bekehrung als Erscheinung des Auferstandenen an. „Ohne die Erscheinungen hätte es keine Zeugen und keine Zeugnisse für die Auferstehung des Herrn gegeben. Sie sind unersetzlich“ (Scheffczyk). Wie diese Erscheinungen zu verstehen sind, wird uns später beschäftigen.

Zwanzig und mehr Jahre später, also ab etwa 70 n. Chr., sind die Ostererzählungen der Evangelien verschriftlicht worden. Diese sind keine historischen Berichte, sondern „Geschichten um Geschichte“, d. h., sie enthalten Historisches, sind aber vor allem Verkündigung. Diese muss die Adressaten, Menschen des letzten Viertels des ersten Jahrhunderts, Juden- und Heidenchristen in unterschiedlichen Gemeinden an verschiedenen Orten der Welt, mit jeweils ihrem Vorwissen, ihrem Denkhorizont und ihren Fragen dort abholen, wo sie stehen. Auch das Verständnis der Verkündiger der Osterbotschaft hat sich entwickelt, vertieft und akzentuiert. So lassen sich ansatzweise die Unterschiede in den Osterevangelien verstehen. Gemessen an der fundamentalen Bedeutung der Osterbotschaft, sind die Texte der Osterevangelien spärlich; so spärlich, dass sie sich hier im Überblick präsentieren lassen:

• Das älteste Osterevangelium ist Mk 16,1–8, das um etwa 70 n. Chr. entstanden sein dürfte. Es schildert lediglich, wie ein weiß gekleideter junger Mann den Frauen, die auch bei Kreuzigung und Grablegung Jesu zugegen waren, im leeren Grab die Auferstehung Jesu mitteilt und ihnen den Auftrag gibt, seine Jünger nach Galiläa zu schicken, wo sie den Auferstandenen sehen werden. Die von Schrecken und Entsetzen gepackten Frauen fliehen vom Grab und sagen niemandem etwas. Dieses Ende des Evangeliums wurde als so unbefriedigend empfunden, dass es nach 100 n. Chr. durch eine Zusammenfassung aus den beiden anderen synoptischen Evangelien ergänzt wurde.

• Lk 24,1–53 ist in den frühen 80er Jahren geschrieben worden. Lukas benutzt Markus als Vorlage, aber bei ihm führen die Frauen den Auftrag der beiden Engel aus. Allerdings werden die Jünger nicht nach Galiläa geschickt, vielmehr sollen sie in Jerusalem bleiben. Darüber hinaus erzählt Lukas die Geschichte von den Emmausjüngern, in der sich die Gegenwart des Auferstandenen durch Schrift und Brotbrechen im Aufgehen der Augen und Brennen der Herzen vermittelt. Außerdem setzt Lukas sich besonders mit der Art der Leiblichkeit des Auferstandenen auseinander.

• Etwas später als Lukas ist Mt 28,1–20 entstanden, etwa 80–90 n. Chr. Auch Matthäus verarbeitet die Markusvorlage: Bei ihm eilen die Frauen nicht nur voll Furcht, sondern auch in großer Freude vom Grab davon, um den Jüngern die Auferstehung Jesu mitzuteilen und sie gemäß dem Auftrag des Engels nach Galiläa zu schicken. Auf dem Weg kommt Jesus selbst ihnen entgegen, grüßt sie und bestätigt den Auftrag seinerseits. Diesem am meisten jüdisch geprägten Evangelium liegt ferner die Universalität der Sendung der Jünger zu allen Völkern am Herzen und die Zusicherung des Auferstandenen, bis zum Ende der Welt bei ihnen zu bleiben. Ein weiteres Thema ist die Entstehung des Gerüchts, die Jünger hätten den Leichnam Jesu gestohlen, um dann angesichts des leeren Grabes seine Auferstehung zu behaupten.

• Eine eigene, von den Synoptikern unabhängige Tradition liegt im gegen Ende des 1. Jahrhunderts geschriebenen Kapitel 20 des Johannesevangeliums vor. Maria aus Magdala, die in allen Evangelien beim Kreuz Jesu steht, entdeckt das leere Grab und holt Petrus und den „anderen Jünger“. Als sie dann schließlich selbst ins Grab hineingeht, erscheint ihr Jesus, den sie zunächst nicht erkennt (Joh 20,11–18). Am Abend erscheint der Auferstandene den Jüngern, die sich aus Furcht vor den Juden eingeschlossen hatten. Später wurde dem Johannesevangelium noch ein weiteres Kapitel als zweiter Schluss angefügt. Damit nehmen seine Erscheinungserzählungen mehr Raum ein als in den synoptischen Evangelien, und mehr als dort werden Begegnungen und Dialoge des Auferstandenen mit Einzelpersonen – mit Maria Magdalena, Thomas, Petrus, dem Lieblingsjünger – berichtet.

Die Unterschiede zwischen den Osterevangelien und den Auferstehungszeugnissen der Bekenntnistradition sind auffällig: In allen Osterevangelien kommt das leere Grab vor, die ersten Adressaten sowohl der Osterbotschaft als auch der Erscheinungen des Auferstandenen sind Frauen.10 Von einer Erscheinung vor Frauen im Sinne der Osterevangelien und von einem leeren Grab weiß Paulus nichts. Allerdings mag er, wo er in 1 Kor 15,3–8 von „allen Aposteln“ spricht, auch an Junia (Röm 16,7) und Priska (Röm 16,3; 1 Kor 16,19; 2 Tim 4,19) gedacht haben. Und unter den 500 „Brüdern“ könnten sich auch Frauen befunden haben, da das Maskulin für Männer und Frauen stehen dürfte. Ebenso fehlt bei Paulus die Emmauserzählung (Lk 24,13–35). Auf der anderen Seite kennen die Evangelien weder die Erscheinung vor 500 Brüdern noch vor Jakobus noch vor „allen Aposteln“, womit Paulus nicht nur die Zwölf, sondern alle Verkünder des Evangeliums im Blick hat.

3.2 Die Entstehung des Konzepts „Auferstehung“

Wieso taucht in den Evangelien das leere Grab auf, von dem in der Bekenntnistradition nie die Rede war? Um die Zeit der Abfassung der Evangelien, also 70 bis 100 n. Chr., starben die letzten Zeitzeugen Jesu, die dann etwa auch in diesem Alter gewesen sein müssen. Deswegen könnte ein vertieftes Interesse an der Frage entstanden sein, wie jene zu ihrem Glauben an die Auferstehung Jesu gekommen waren. Den Aposteln stand, als Jesus starb, das Konzept „Auferstehung“ nicht aktiv zur Verfügung, denn sie hatten Jesus nicht verstanden, als er davon sprach, und auch nichts Genaueres wissen wollen. Es kommt ihnen auch nicht zu Bewusstsein, als die Frauen sie zum leeren Grab rufen. Tja! Es ist halt leer. Kein Licht geht ihnen auf: Der lukanische Petrus geht voll Verwunderung wieder nach Hause; das Johannesevangelium fügt erklärend hinzu, dass Petrus und Johannes noch nicht die Schrift verstanden [hatten], dass er [Jesus] von den Toten auferstehen müsse (Joh 20,9f). Die beiden werden sich wohl der naheliegenden Vermutung von Maria Magdalena anschließen, dass jemand den Leichnam Jesu aus dem Grab weggeschafft haben muss. Tatsächlich folgt aus der historischen Tatsache eines leeren Grabes nichts für die Auferstehung des darin beigesetzten Toten. Wie sollte nämlich jemand zur Erklärung des leeren Grabes auf die Idee kommen, der Tote sei deshalb nicht da, weil er auferweckt wurde und nun zur Rechten Gottes sitzt? Eine noch abstrusere Erklärung ist kaum denkbar. Das Faktum des leeren Grabes legt weder die Idee einer Auferstehung nahe noch ist es ein Beweis dafür, dass Jesus in einer vollkommen neuen Weise bei Gott lebt und von ihm zum Herrn und Messias gemacht wurde.

Im Kontext von „Auferstehung Jesu“ ist das leere Grab nicht erforderlich. Denn es stimmt ja auch nicht, dass der tote Körper Jesu für dessen Auferstehung gebraucht würde: Weder ist Auferstehung eine Wiederbelebung des Körpers und seine Rückkehr in die irdische Geschichte, um dann am Ende des Lebens ein zweites Mal zu sterben, noch bedarf der Auferstehungsleib der Materie des Leichnams, um entstehen zu können. Paulus widmet der Frage Wie werden die Toten auferweckt, was für einen Leib werden sie haben? eine lange Antwort in 1 Kor 15,35ff: Irdischer und auferweckter Leib gehören zwei ganz verschiedenen Ordnungen an. Der Blumensamen, den wir in unseren Balkonkasten säen, hat in seiner Gestalt eines Korns nichts gemein mit der Gestalt der Blume. Same und Blume gehören unterschiedlichen Welten an, die lediglich im Tod des Samens einander berühren. Ohne diesen Tod keine Blume. So ist es auch mit der Auferstehung der Toten. Was gesät wird, ist verweslich, was auferweckt wird, unverweslich.

Gesät wird ein irdischer Leib, auferweckt ein überirdischer Leib.

So steht es auch in der Schrift: Adam, der Erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der Letzte Adam wurde lebendig machender Geist.

Der Erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde; der Zweite Mensch stammt vom Himmel.

Wie wir nach dem Bild des Irdischen gestaltet wurden, so werden wir auch nach dem Bild des Himmlischen gestaltet werden.

Damit will ich sagen, Brüder: Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben; das Vergängliche erbt nicht das Unvergängliche.

Die notwendige Voraussetzung für Auferstehung ist der Tod. Jedoch hat der überirdische, himmlische, unverwesliche Auferstehungs„leib“ – er ist Geist – mit dem irdischen, verweslichen Leichnam nichts zu tun.

Die Aussageabsicht der Texte Mk 16,1–8 und seiner Parallelen bei Lukas und Matthäus kann also nicht die Mitteilung der historischen Tatsache des leeren Grabes sein, weil aus ihr für eine Auferstehung nichts folgt. Doch was ist sie dann? Ich meine, dass es um die Einführung der Idee „Auferstehung“ geht, sowohl als Konzept für den Tod Jesu, der in seine Auferstehung hineinstirbt, als auch als Beschreibung der Disposition, in der Menschen, Frauen, eine solche göttliche Idee einfallen und in ihnen aufgehen kann.

Gehen wir dieser Vermutung nach, indem wir uns zunächst die Lektüre des ältesten Osterevangeliums zu Gemüte führen: Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um damit zum Grab zu gehen und Jesus zu salben. Am ersten Tag der Woche kamen sie in aller Frühe zum Grab, als eben die Sonne aufging. Sie sagten zueinander: Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? Doch als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war; er war sehr groß. Sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einem weißen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr. Er aber sagte zu ihnen: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wohin man ihn gelegt hat. Nun aber geht und sagt seinen Jüngern und dem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat. Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich (Mk 16,1–8).

Auf den ersten Blick scheint unser Text wie ein Tatsachenbericht daherzukommen. Doch können bereits seine ersten Zeilen Zweifel daran wecken, ob er das wirklich ist: Die Salbung eines bereits in Tücher eingewickelten und beigesetzten Toten, also das, was die drei Frauen beabsichtigen, kam bei den Juden ganz und gar nicht vor.11 Ihre Absicht ist jedenfalls als Ausdruck ihrer großen Sehnsucht und Liebe zu werten, Jesus nochmals zu berühren, intensiv einzutauchen in ihre Beziehung zu ihm. Zwar waren sie bei seinem Sterben und seiner Beisetzung zugegen. Doch diese musste ganz schnell erfolgen wegen des herandrängenden Sabbats. Zeit zum Abschiednehmen hatte es nicht wirklich gegeben. Das wollen sie nun nachholen. Möglicherweise spielt auch das Motiv mit, ihre Beziehung zu Jesus auf dem bisherigen Stand zu konservieren; immerhin wollen sie „etwas zur Erhaltung des Leichnams tun“12. Wie dem auch sei: Den sie berühren werden, ist ein Toter, kalt und starr. Er ist nicht mehr „ihr“ Jesus. Wie immer ihre Motive sein mögen, ihre Aktion wird zu einem wichtigen Schritt dahin, das Gewesene los- und sich verwandeln zu lassen.

Um ihren Plan ausführen zu können, treffen sie Vorsorge: Am Abend des Sabbats kaufen sie die wohlriechenden Öle, die sie brauchen. Merkwürdig ist jedoch, dass ihre Vorsorge sich nicht auch auf den Stein erstreckt, mit dem das Grab Jesu verschlossen ist. Mit der Öffnung des Grabes steht und fällt doch ihr ganzes Vorhaben! Wieso beziehen die Frauen ihn nicht in ihre Vorkehrungen ein?

Als mein Bruder in der Ferne gestorben war, wollte ich den Toten unbedingt vor seiner Beisetzung sehen und Abschied nehmen. Ein leichter Gang war das dennoch nicht. Neben der Liebe war da auch tiefer Schmerz. Der Verlust tat so weh! Die Aussicht war schlimm, nun alleine weitergehen zu müssen, ohne seine Begleitung und sein Verständnis. Ich fühlte mich einsam und leer. So in etwa wird auch den Frauen das Wiedersehen mit dem Leichnam Jesu nicht leichtfallen, und der Verschlussstein steht für ihren Widerstand dagegen und die Kraft, die seine Überwindung kostet: vielleicht mehr, als sie aufbringen können. Diesen Widerstand schieben die Frauen gerade nicht weg, er ist ihnen bewusst, sie sprechen davon und halten ihn aus. Sie gehen ihren Weg, doch gehen sie ihn mit der Frage, wer ihnen hilft, ins Grab hineinzukommen, d. h., sie gehen ihn im Bewusstsein ihres Widerstandes.

Doch dann, am Grab, ist alles anders als gedacht: Die Sonne geht gerade auf und ein frischer Tag bricht an. Der Verschlussstein und damit die Last, die auf ihnen lag, ist weg. In ihnen breitet sich eine gewisse Leichtigkeit aus, durch die sie sich öffnen. Das aufgegangene Grab wirkt nun geradezu wie eine Einladung, hineinzugehen. Drinnen erblicken sie als Erstes einen jungen Mann in weißem Gewand und erschrecken. „Hier ist Göttliches am Werk“, will die Geschichte uns vermitteln: Alles atmet Neubeginn, Reinheit, Zukunft, ist faszinierend und gleichzeitig erschreckend, das typische Erleben, wenn Menschen dem Göttlichen begegnen:13 Rudolf Otto hat in seinem Klassiker14 das Heilige als „Fascinosum et Tremendum“, als faszinierend und erschreckend beschrieben. Einladung, Anziehung und Erschrecken charakterisieren das Erleben der Frauen, und ihnen geht auf: Jesus ist auferstanden; er ist nicht hier. Das ist keine Fantasie, keine Einbildung, kein Ergebnis eines schlussfolgernden Denkens. „Auferstehung“ wird ihnen mitgeteilt in einem göttlichen Einfall, den sie empfangen können, weil sie offen sind. Die aufgehende Sonne, der Tag, der neu anbricht, der junge Mann im weißen Gewand – all das beschreibt das innere Milieu der Frauen, in dem sie fasziniert und ins Tiefste getroffen die Botschaft von der Auferstehung Jesu erhalten. Eine Erfahrung dieser Art ist Menschen nicht unbekannt. Zum Beispiel beschreibt Ignatius von Loyola sie in seinen Geistlichen Übungen als beste Möglichkeit einer „heilen und guten Wahl“. Diese ist dann gegeben, „wenn Gott, unser Herr, den Willen so bewegt und an sich zieht, dass eine Ihm ergebene Seele, ohne zu zweifeln oder auch nur zweifeln zu können, dem folgt, was ihr gezeigt worden ist.“15 Der „Seele“, die offen und empfänglich ist, widerfährt etwas. Sie wird „bewegt“ und „gezogen“, und zwar zu Gott, d. h. ist erfüllt von dem Glück, das sie ersehnt. Ihr wird etwas „gezeigt“, und dem folgt sie. Sie hat verstanden. Sie zweifelt nicht daran, ja, sie kann es gar nicht. Sie ist pure Einsicht und Zustimmung. Etwas in der Art werden auch die markinischen Frauen erleben. Durch die Art und Weise, wie die Idee der Auferstehung sich ihnen vermittelt, ist ihnen unmittelbar klar: Jesus gehört zur Sphäre des Himmels, er lebt bei Gott, er ist in das Göttliche eingegangen.

Doch damit ist der innere Weg der Frauen noch nicht zu Ende. Die Idee der Auferstehung, die zunächst in Spannung steht zu ihrer Alltagswirklichkeit, trachtet danach, integriert und damit in der Welt fruchtbar zu werden. Als Erstes können sie nun sehen, dass das Grab leer ist, dass der Leichnam Jesu nicht dort ist, wo er sein sollte. Das ist mehr als irritierend: Wie kann der Leichnam des Menschen Jesus plötzlich weg sein? Natürlich, weil er auferstanden ist. Es passt alles zusammen. Doch diese Ungeheuerlichkeit der Auferstehung drängt die Frage auf: Wer war der Jesus, mit dem nun derart Unerhörtes geschieht, wirklich? Kann das Bild denn stimmen, das die Jüngerinnen und Jünger sich aus ihren Erlebnissen mit ihm gemacht hatten? Oder waren ihre Deutungen zu kurz gegriffen, Werk ihrer eingeschränkten Sicht? Sollte Gott, der Jesus am Ende aus dem Tod in seine Herrlichkeit auferweckt, schon in Jesu irdischem Leben in einer bisher unvorstellbaren Weise „da“ gewesen sein? Ihrem bisherigen Verständnis von Jesus, vom Ende der Toten im Schattenreich der Scheol, von Gott, den keiner geschaut hat und den sie doch in Jesus hätten sehen können, wenn sie nicht so blind gewesen wären …, wird der Boden weggezogen. Sie hatten die Welt, wie sie sie zu sehen gewohnt waren, selbstverständlich für die Wirklichkeit gehalten und merken nun, dass sie ihre Welt ist, ein Bild der Wirklichkeit, das sie sich gemacht haben. Der mittelalterliche Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225–1274) sieht in diesem Aufwachen eine Erkenntnis unseres Erkennens: „Was auch immer wahrgenommen wird, es wird auf die Weise des Wahrnehmenden wahrgenommen.“16 In der Tat werden Sinneseindrücke vielfach be- und verarbeitet – physiologisch, unbewusst, bewusst –, bis sie Baustein der Welt eines Menschen werden. Was ihm zu fremd ist, dafür hat er gar keinen Sensus, was ihn nicht interessiert, fällt raus, was ihm zu bedrohlich erscheint, verdrängt er; in Beziehungen überträgt er alte Beziehungserfahrungen und verkennt dabei die Person, mit der er hier und jetzt zu tun hat. Die Lücken seiner Welt schließt er durch Assoziationen und Verallgemeinerungen.17 Unpassendes versucht er an seine gewohnte Welt anzupassen – die sich dabei verändert in dem Maße, wie er sich durch das Unpassende stören lässt.

Dass also die Jüngerinnen und Jünger Jesus in ihrem Bild von ihm verkannt haben, stellt nun sie selbst in Frage. Kein Wunder also, dass die Frauen von Schrecken und Entsetzen gepackt vom Grab fliehen. Doch nehmen sie als Aufgabe mit, nach Galiläa zu gehen, wo sie neu auf ihre Erlebnisse mit Jesus zurückblicken können in der Hoffnung, dass sie ihn dort sehen werden, wie er es gesagt hat. Dies alles den Aposteln mitzuteilen, fürchten sie sich. Durch die Infragestellung ihres Welt- und Selbstverständnisses drohen sie, wie in einen Abgrund zu stürzen. Sie können nicht sprechen. Doch in Galiläa sollen sie ein neues, bleibendes Lebensfundament erhalten. Galiläa, wo alles angefangen hat. Galiläa, wo viele Orte mit Erinnerungen an das Wirken Jesu verbunden sind. Dorthin zu gehen ist die Chance, ihre damaligen Begegnungen mit Jesus nun im Licht der Auferstehungsbotschaft neu zu verstehen, eine Aufgabe, die sich allen Zeitgenossen Jesu stellt: Auch wenn wir früher Christus dem Fleische nach gekannt haben, jetzt kennen wir ihn nicht mehr so. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden (2 Kor 5,16f). Die Perspektive ist wahrhaft ungeheuerlich. Sie ist das Ende der Welt, in der sie bisher so selbstverständlich gelebt haben, in der Gott und Mensch, Gerechter und Sünder, Tod und Leben fein auseinandersortiert waren. In der neuen Welt wohnt Gott, der geheimnisvolle Grund aller Wirklichkeit, allem inne und ist damit allem näher und innerlicher, als es je sich selbst sein kann. Allen Gegensätzen widerfährt Gerechtigkeit, sie werden gewürdigt und doch in Barmherzigkeit miteinander versöhnt. Das Leben lernt schon jetzt eine Erfüllung kennen, die bleibt und zunimmt.

Halten wir einen Moment inne, um ein erstes Fazit aus unserem markinischen Osterevangelium zu ziehen: Die Idee „Auferstehung“ ist nichts, was der menschliche Verstand logisch erschließen oder sich in irgendeiner Weise ausdenken könnte. „Auferstehung“ ist eine vollkommen neue Möglichkeit, die mitgeteilt und empfangen werden muss. Das leere Grab Jesu wird zu einem dreifachen Symbol: Als Grab bezeichnet es zum einen die Grenze, die die Wirklichkeit dem Leben setzt: dem leiblichen Leben und immer wieder auch dem Leben, wie wir es uns vorstellen und wünschen. Wir stoßen an diese Grenze am Ende in unserem Sterben und während unseres Lebens in Enttäuschungen und Verlusten aller Art, in der Konkretheit einer geschichtlichen Situation, in der wir uns vorfinden, ob sie uns gefällt oder nicht. Aber gerade im Hineingehen in die Grenzsituation, im Annehmen der mit ihr verbundenen Gefühle, wie die Frauen das tun, wird das Grab Jesu, zweitens, zum Ort des Aufgehens göttlichen Lebens und göttlicher Wirklichkeit und zum Symbol einer beginnenden Verwandlung: Diese lässt das bisherige Selbst- und Weltverständnis zusammenbrechen. Das leere Grab wird so, drittens, auch zur Chiffre für das Sterben der eigenen Welt- und Selbstkonstruktionen.

Werfen wir noch einen Blick darauf, wie Matthäus und Lukas, die beide das markinische Osterevangelium verarbeiten, mit ihrer Vorlage umgehen: Matthäus macht aus dem jungen Mann im weißen Gewand gleich einen Engel. Seine Frauen sind nicht nur voll Furcht, sondern auch voll großer Freude. Anders als die markinischen Frauen eilen [sie] zu seinen Jüngern, um ihnen die Botschaft auszurichten. Auf dem Weg kommt ihnen Jesus entgegen. Sie gingen auf ihn zu, warfen sich vor ihm nieder und umfassten seine Füße (Mt 28,9). Der Auferstandene selbst erscheint ihnen, sie machen eine Erfahrung, es bleibt nicht bei der bloßen Idee und Möglichkeit von Auferstehung. Doch scheint der Prozess des Durchsäuert-Werdens des bisherigen Lebens durch den Sauerteig der neuen Wirklichkeit unverzichtbar. Denn der Auferstandene bestätigt die Aufforderung des Engels und schickt seine Jünger und Jüngerinnen nach Galiläa.

Lukas nimmt größere Veränderungen vor: Nicht Galiläa. Die Jünger sollen in Jerusalem bleiben (Lk 24,49), wo der Auferstandene ihnen durch viele Beweise zeigt, dass er lebt; vierzig Tage hindurch ist er ihnen erschienen und hat vom Reich Gottes gesprochen (Apg 1,3). Auf diese Weise findet in Jerusalem der Prozess statt, zu dem Markus und Matthäus die Jünger nach Galiläa schicken: die Integration der Auferstehung ins eigene Welt- und Selbstverständnis. In der Auferstehungsbotschaft durch zwei Männer in leuchtenden Gewändern wiederholt Lukas die Leidensankündigung Jesu auf dem Weg nach Jerusalem: Der Menschensohn muss in die Hände sündiger Menschen ausgeliefert und gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen (Lk 24,7).

Dieses Wort hatten die Jünger bisher ganz und gar nicht verstanden. Um dieses Wort dreht sich nun die Geschichte von den beiden Jüngern, die am Ostertag nach Emmaus unterwegs sind (Lk 24,13–35). Unerkannt begleitet der auferstandene Jesus den Weg der beiden, so wie der irdische Jesus – unerkannt letztlich auch er – seine Jünger nach Jerusalem begleitet hatte. Der Unterschied ist, dass für die Emmausjünger inzwischen Wirklichkeit und damit besprechbar geworden ist, was für die Zwölf auf dem Weg nach Jerusalem unter keinen Umständen geschehen durfte und worüber nicht gesprochen werden konnte: der Tod Jesu. Dieser Tod erscheint nun, nachdem er eingetreten ist und die Jünger ihre Passion durchleben, in der Gegenwart des Auferstandenen nicht mehr nur als Verhängnis, sondern als göttliche Notwendigkeit: Musste nicht der Christus all das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen? (24,26). Obwohl dieser Satz den Emmausjüngern Hoffnung und Perspektive eröffnet, braucht es den Gang durch die ganze Schrift, durch Mose und alle Propheten, damit sein Inhalt sie erreicht. Den beiden brennt das Herz. Doch erst am Abend, beim Brechen des Brotes, als im Zeichen vollzogen wird, was Jesus am Kreuz in Liebe und Barmherzigkeit ausgelitten hat, gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn (24,31). Jetzt erst werden sie der Präsenz inne, die „da war“ auf ihrem ganzen Weg. Sie hatte sie Worte für das Selbstverständliche, das sie so sehr bewegt hatte, finden und aussprechen lassen. Sie hatte sie einander begegnen und ihre Herzen brennen lassen.

Was bedeutet nun dieser Satz: Musste nicht der Christus all das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen?

Er besagt, dass nicht Vermeiden und Abwehren, sondern Hineingehen in die Grenzsituation und sie durchleben der Weg zu Erfüllung und Vollendung ist. Über Grenzsituationen verfügt man nicht, man kann sie nicht herstellen, sie kommen auf einen zu. In sie hineinzugehen und sie zu durchleben heißt, Enttäuschung oder Verlust zu erleiden, da die Grenze ja darin besteht, dass die eigene Wunschvorstellung von einer Situation sich nicht erfüllt. Dass darin der Weg zur Erfüllung liegen soll, ist dem „gesunden Menschenverstand“ völlig entgegengesetzt. Es durchkreuzt das Prinzip, das Gefällige zu erstreben und das Missfällige zu vermeiden oder abzuwehren. Unabhängig von Gesellschaftsschicht, Bildungsgrad, moralischem oder sozialem Status erschallt vor dem Kreuz Jesu unisono die Überzeugung, dass ein „echter“ Messias vom Kreuz heruntersteigen könne und würde, d. h. die Macht habe, das Missfällige abzuwehren und das Gefällige herzustellen: Die Leute, die [vor dem Kreuz Jesu] vorbeikamen, verhöhnten ihn, schüttelten den Kopf und riefen: Ach, du willst den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen? Rette dich selbst und steig herab vom Kreuz! Ebenso verhöhnten ihn auch die Hohepriester und die Schriftgelehrten und sagten untereinander: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Der Christus, der König von Israel! Er soll jetzt vom Kreuz herabsteigen, damit wir sehen und glauben. Auch die beiden Männer, die mit ihm zusammen gekreuzigt wurden, beschimpften ihn (Mk 15,29–32 par). Wer irgendeine Machtressource hat – dem Messias, dem König von Israel, dem Christus, müssten sie in Hülle und Fülle zur Verfügung stehen –, der nutzt sie, um Ohnmacht, Leiden, Schmerz, Tod zu entgehen; der steigt herab vom Kreuz; der lässt nicht geschehen, was geschieht, wenn es unangenehm oder gar leidvoll wird; der wehrt sich mit allen Kräften dagegen.

Nicht aber so Jesus Christus, der in das Missfällige – seine Passion – hineingeht und so – und nur so – seine Herrlichkeit erlangt, die jedes Gefällige über-erfüllt.

Das heißt nun nicht, dass das Evangelium uns ganz generell zum Leiden auffordert. Es geht ihm nicht um eine süßliche Leidenssüchtigkeit; eine solche ist schräg! Es geht auch nicht um die Anpreisung von Opfern, die man suchen und bringen soll. Sondern, und darin besteht das zweite Fazit aus unserem Osterevangelium, es geht um die Entmachtung des Prinzips, das Gefällige zu erstreben und das Missfällige zu vermeiden oder abzuwehren. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu waren vor Ostern selbstverständlich in diesem Prinzip gefangen. Auferstehung kann jedoch nur vernehmen und erfahren, wem die Fesseln dieses Prinzips gelockert worden sind. Insofern geht es dem Evangelium um die Entkoppelung einer gegebenen, irgendwie unangenehm anmutenden Situation von einem spontanen, quasi automatischen Verhalten, das darauf zielt, die von der Situation ausgelösten Empfindungen nicht spüren und erleben zu müssen. Durchbrochen werden soll die Automatik. An ihre Stelle sollen Bewusstheit und Freiheit treten. Die Bergpredigt (Mt 5) ist voll von Beispielen solcher Automatismen, die im nächsten Kapitel ausführlicher untersucht werden: Da ist ein Feind – und sofort wird er gehasst und bekämpft; da kränkt mich einer – und spontan schimpfe ich auf ihn; da ist meine Partnerschaft unbefriedigend – und schon will ich ihn oder sie loswerden. Bei alledem ist die Aufmerksamkeit dessen, der in der missfälligen Situation ist, draußen: beim andern, bei den zu ergreifenden Maßnahmen … überall, nur nicht bei sich selbst und den eigenen Empfindungen. Die Entkoppelung besteht daher gerade darin, innezuhalten, d. h. sich nach innen zu wenden und seiner inneren Bewegungen, also seiner Gedanken, Gefühle, Impulse, Wünsche innezuwerden, die mit der unangenehm anmutenden Situation verbunden sind. In den Beispielen: die Wirkung der Feindschaft oder der Kränkung in seinen Gefühlen und Impulsen zu merken und dabei auszuhalten; den Ärger zu durchleben, statt ihn abzureagieren; sich die Frustration über die unbefriedigende Partnerschaft eingestehen, um zur Frage nach dem eigenen Beitrag gelangen zu können. Unsere Frauen aus den Osterevangelien sind ein Vorbild, was diese Entkoppelung angeht. Sie gehen in ihre Passion hinein. Sie setzen sich dem Kreuzestod Jesu aus; sie sind bei seiner Beisetzung dabei; ja, sie gehen in sein Grab hinein und erleiden dort ungeschützt alles, was die Endgültigkeit ihres Verlustes in ihrem Inneren auslöst. Sieht Markus in diesem entkoppelten Verhalten, das in das Unangenehme des Lebens aus Liebe und Sehnsucht hineingeht, die entscheidende Disposition für das Entstehen des Osterglaubens? Jedenfalls scheint es so, denn er lässt sein Evangelium mit dem Hineingehen ins Grab enden. Dennoch bedeutet Entkoppelung nun nicht, für immer in seinen negativen Gefühlen festzusitzen und auf jedes Handeln zu verzichten. Im Spüren, Fühlen, Erleben, Wahrnehmen seiner inneren Bewegungen bewusst zu verweilen verwandelt den Menschen. Der zweite Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9–20) zeigt dies: Die Verwandlung der Hineingehenden befähigt sie zur Begegnung, in der sich die Erscheinung des Auferstandenen im Alltag realisiert und letztlich das Tun vollzieht, das der Auferstandene ihnen aufträgt: Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung! (Mk 16,15).

Und schließlich ist noch ein drittes Fazit aus dem markinischen Osterevangelium zu ziehen: In das Missfällige hineingehen wie die Frauen, indem sie beim Kreuz Jesu stehen, bei seiner Grablegung dabei sind und schließlich sogar in das Grab selbst eintreten, kann nur, wer sich genügend sicher fühlt. Bei den Frauen ist eine „Stimmung“ da, die überzeugt ist, dass ihnen letztlich nichts passieren kann, was immer auch geschieht. Sie fühlen sich angenommen und bejaht. Sie reden sich das nicht ein oder reißen sich zusammen. Es geschieht mit ihnen. Unser Text drückt dies aus durch diese kleinen Fügungen: Der Stein, der Sorge bereitet hatte, ist weg; die ganze Szenerie atmet Neubeginn, Frische, Energie: Alles Dunkel ist vertrieben; im Grab werden sie geleitet von dem jungen Mann bzw. Engel, der sich ihnen verständnisvoll zuwendet. Durch all das teilt sich den Frauen ein Gefühl unbedingten Gehalten- und Angenommenseins mit, göttliche Liebe, die Basis des ganzen Prozesses. Damit stellt sich die Frage, wieweit die Sehnsucht nach der Erfüllung über alles hinaus letztlich Sehnsucht nach dieser unbedingten Liebe ist.

Exkurs: War das leere Grab tatsächlich leer?

Diese Frage konnte bisher offenbleiben, weil der Osterglaube sich nicht aus dem Faktum eines leeren Grabes ableiten lässt. In der Tat spielt das leere Grab weder in den Osterzeugnissen vor Paulus noch bei Paulus selbst eine Rolle. Röm 6,4 und 1 Kor 15,4 sind die beiden einzigen paulinischen Stellen, die überhaupt das Begraben-Sein Jesu erwähnen. Die Frage, ob das Grab am Ostermorgen leer war oder nicht, kommt in den neutestamentlichen Texten erst nach 70 n. Chr. auf. Für uns heute ist sie nicht eindeutig zu beantworten. Der Sachverhalt ist nicht mehr zu überprüfen. Aber die Argumente zu den möglichen Positionen sollen vorgestellt werden, so dass Leserin und Leser sich selbst ein Bild machen können.

Für die moderne Wissenschaft wird das Grab Jesu am Ostermorgen schwerlich leer gewesen sein. Aber auch die Wissenschaft kennt Irregularitäten. Ob das Licht als Welle oder als Teilchenstrom gedeutet wird, in jedem Fall gibt es Phänomene, die gegenüber der jeweiligen Deutung irregulär sind. Quanten, kleinen Materieteilchen, ist keine genaue Raum-Zeit-Stelle zuzuordnen. Der Urknall selbst ist eine Irregularität, nur seine Auswirkungen sind wissenschaftlicher Forschung zugänglich, nicht aber er selbst. Hinzu kommt, dass Wissenschaft nur allgemeine Aussagen machen kann: Der Einzelfall kann von der allgemeinen Gesetzmäßigkeit abweichen.

In seiner Pfingstpredigt (Apg 2,29–32) insinuiert Petrus die Leerheit des Grabes Jesu: David habe prophezeit, dass einer seiner Nachkommen, im Gegensatz zu ihm selbst, nicht der Unterwelt preisgegeben und sein Leib die Verwesung nicht schauen werde (Ps 16,10). Dieser Nachkomme sei Jesus, und sie, die Apostel, seien Zeugen dafür. Daraus folgt, dass Jesu Leib die Verwesung nicht schaut, sein Grab also leer ist, auch wenn das ausdrücklich nicht gesagt wird.

Wäre das Grab nicht leer gewesen, hätte es mit der Verkündigung der Auferstehung schwer werden können. Denn der Hebräer unterscheidet traditionell nicht zwischen Leib und Seele. Eine Auferstehung von den Toten ist für ihn mit der Belebung seines irdischen Leibes verbunden. Noch im nach 160 v. Chr. geschriebenen 2. Buch der Makkabäer (2 Makk 7) finden wir einen Niederschlag dieser Überzeugung. Ein Gefolterter hofft, zu ewigem Leben auferweckt zu werden, und zwar mit unversehrtem irdischem Leib. Wäre Gegnern der Auferstehungsverkündigung der Nachweis gelungen, dass der Leichnam Jesu im Grab liegt, hätte die Botschaft dann Glauben finden können? Von den daraus sich ergebenden Kontroversen findet sich jedoch in der Überlieferung keine Spur.

Andererseits hat natürlich auch in Israel hellenistisches Gedankengut Einzug gehalten, das Auferstehung ohne Wiederherstellung des irdischen Leibes denken konnte. So erhofft Ijob bereits im spätestens 200 v. Chr. vorliegenden gleichnamigen Buch (19,25–27) die Schau Gottes außerhalb eines irdischen Leibes: Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen. Und im zwischen 80 und 30 v. Chr. erschienenen Buch der Weisheit wird von den Seelen der Gerechten gesprochen, die in Gottes Hand sind und [die] keine Qualberühren [kann]. Sie sind in Friedenihre Hoffnung ist voll Unsterblichkeit (Weish 3,1–4). Diese Texte können ein Leben nach dem Tod ohne den irdischen Leib denken. Und auch Jesus geht unter Zustimmung eines pharisäischen Schriftgelehrten (Mk 12,28) davon aus, dass die von den Toten Auferstandenen wie Engel im Himmel sind (Mk 12,25) und nicht mehr benötigen, was einmal ihr irdischer Leib war. Darf man nach über 300 Jahren hellenistischer Beeinflussung annehmen, dass für die meisten Zeitgenossen Jesu die Frage des leeren Grabes nicht mehr relevant war? Schon gar nicht angesichts der Verkündigung einer Auferstehung, deren Ton ja nicht auf dem persönlichen Fortleben Jesu liegt, sondern darauf, dass dieser Jesus aus Nazareth der Herr und Messias (Apg 2,36) ist, [den ihr] durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht (Apg 2,23) habt, dass er der Sohn Gottes ist, der Kunde gebracht hat vom „Vater“, der Gottheit, deren Namen kein Zeitgenosse Jesu wagte auszusprechen.

Das ist ungefähr der Stand der Diskussion. Die Frage ist nicht zu entscheiden, für mich selber und meinen Glauben ist sie nicht relevant, ein historisch leeres Grab wäre kein Gewinn. Doch hat die Botschaft vom „leeren Grab“ eine Bedeutung immer gehabt: Sie lässt aufmerken und fordert zur Auseinandersetzung heraus.

9 Weitere Belege aus der Mitte des 1. Jahrhunderts sind: Gal 1,1; 1 Kor 6,14; 15,12.15.20; 2 Kor 4,14; Röm 4,24.

10 Bei Johannes und Matthäus sind Maria Magdalena (Joh 20,11–18) bzw. diese und eine „andere Maria“ (Mt 28,9f) die ersten, denen der Auferstandene erscheint.

11 Gnilka, EKK II/2, S. 340.

12 Ebd.

13 Ex 20,18–20; Jes 6,5; Lk 1,12.29.

14 Rudolf Otto, Das Heilige.

15 GÜ 175.

16 „Quidquid recipitur per modum recipientis recipitur.“ Summa theologica I q. 12 a. 4.

17 Siehe zum Thema der Konstruktion einer Eigenwelt auch das Kapitel „Idiopolis“ in meinem Buch „Der spirituelle Weg“.

Vom Lieben und vom Sterben

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