Читать книгу Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama - Страница 10
ОглавлениеDu bist ein Mensch, Peter
Das Armenhaus St. Spiritus war ein abgeschlossener Gebäudekomplex außerhalb der Stadt mit mehreren kleinen Steinhäusern und einer eigenen Wasserversorgung. Die düsteren Mauern, die es wie ein Kloster umschlossen, erzählten eine Jahrhunderte überdauernde Geschichte von den Leiden und dem Siechtum der Bettler und Armen. Die kleine Siedlung verfügte über eine eigene Kapelle, einen Friedhof und einen eigenen Wirtschaftshof und wurde viele Jahre finanziell und seelsorgerisch von der Kirche betreut. Nach dem großen Krieg hatte sich die Stadt gegen die Kirche durchgesetzt und nun stand das Spital unter der alleinigen Aufsicht des Bürgermeisters.
Der elternlose August Müller war als junger Mann in das Armenhaus gekommen und hatte dort eine winzige Kammer bewohnt. Der intelligente junge Mann begann sich rasch im Armenhaus nützlich zu machen. Dem Schreiben und Lesen zugetan, verwaltete er schon bald die Bierspende, die 30 Tonnen jährlich erreichte, den Mai- und Herbstlachs vom Kurfürsten, die zehn Klafter Buchen- und Eichenholz vom Rat und die Gelderträge aus den Armenstöcken am Hause und an der Kapelle, sowie die Sammelbüchsen, mit denen wöchentlich in der Stadt gesammelt wurde. Das brachte ihm ein großes Ansehen beim Bürgermeister ein, der den fleißigen, aber armen jungen Mann zum Dank mit einer Hugenottin verheiratete und seinen Aufstieg in die Schuhmachergilde förderte. Dieser bezog alsbald mit seiner Familie das neu errichtete Haupthaus steuerfrei und erhielt zu den Kammern einen Stall und einen Garten vom Bürgermeister, der dem aufstrebenden jungen Gildemeister nun die gesamte Leitung des Armenhauses überantwortete.
Doch die Französin, die mit ihrer Familie vom Kurfürsten nach Hameln geholt wurde, war nicht treu. Müllers Weib gehörte zu den 114 Flüchtlingen des Pfarrers Dubrue aus Lausanne, der aufgrund der Aufhebung des Ediktes von Nantes in Frankreich, wie zahlreiche andere hugenottische Geistliche, des Landes verwiesen wurde und dem seine Gemeindemitglieder wie treue Schafe gefolgt waren. Müller betonte seitdem immer wieder auf seinen zahlreichen Saufgelagen: „Ach, wären doch diese Hugenotten hier niemals angekommen. Dann hätte ich mir nicht so ein zügelloses Hurenweib ins Haus geholt.“ Sein Weib war nämlich schwanger gewesen, von einem Unbekannten. Man vermutete allgemein, dass ihre Älteste, Grete, das Kind des Koloniedirektors Ponnier sei, eines herrschsüchtigen, mit jedem Handel anfangenden Franzosen, der so gar nicht zu den arbeitsamen, strebsamen Hugenotten passen wollte.
Müllers Weib wohnte zuvor an der Kleinen Straße, die von allen nur „La rue francoise“ genannt wurde. Sie hatte es Müller nie verziehen, dass er sie aus der Hugenottenkolonie herausgeholt hatte. Dabei war ihm bekannt gewesen, dass die Hugenotten ihre Bräuche gern unter sich feierten und die eigene Geselligkeit den Hamelner Bürgern vorzogen. Das Weib fühlte sich schnell einsam und um ihr Leben betrogen. Von rassiger Schönheit, mit einem wilden Temperament ausgestattet, verdrehte sie allen vorbeiziehenden Männern, ob Hugenotten oder Hamelner, alsbald den Kopf. Sie bekam rasch ein Kind nach dem anderen und Müller kam ins Zweifeln, ob die Bälger alle von ihm waren. Zudem war sie zänkisch und sprach kein Wort Deutsch mit ihm. Im Laufe der Jahre zog es Müller mehr und mehr in die Wirtshäuser, wo er sich seinen Kummer von der Seele trank. Er kam jedes Mal unzufriedener nach Hause, vernachlässigte seine Aufgaben im Spital und war manchmal tagelang nicht aufzufinden. Dann sah man ihn an den Spieltischen bei dem Versuch sein Glück beim Spiel herauszufordern. Doch das ersehnte Glück war ihm nicht hold. So haderte er mit dem Schicksal und seiner Familie, und Grete, mit der das Gerede begann, wurde zum Sündenbock.
Müller fühlte sich durch die Bemerkungen des Schulzen geschmeichelt und versuchte nun den fürsorglichen Vater zu mimen. Er schlang seinen Arm um Gretes Schultern und führte sie fast schon behutsam zu seinem Wagen, der mit Bierfässern beladen war. Er hatte die Bierspende kurz zuvor vom Brauer abgeholt, als er aufgrund des Spektakels um den Knaben anhalten musste. Mit einem sichtbaren Grinsen auf dem Gesicht tätschelte er dem Esel die Hinterbacken, bevor er Grete die Hand zum Aufsteigen reichte. „Glaub ja nicht, dass du mir ungeschoren davonkommst“, zischte er ihr dabei ins Ohr, als sie auf den Bock kletterte. „Verheiraten werde ich dich. Ich weiß auch schon mit wem …“, grinste er triumphierend.
Grete nahm auf dem Bock die Haltung ein, die sie schon als Kind angenommen hatte. Sie schlang die Arme um die angezogenen Knie und presste diese fest zusammen. Den Blick hielt sie auf den Boden gerichtet und hob ihn nur, wenn der Vater etwas von ihr wollte. Sie sprach kein Wort, denn das war ihr nicht erlaubt, auch nicht, als die Bäckersfrau mit hochrotem Gesicht heranwirbelte, dem Esel in die Zügel griff und zu Müller hinaufrief: „Ihr braucht gar nicht so scheinheilig zu tun, Gevatter. Wenn ihr zum Tor hinaus seid, dann zeigt Ihr wieder Euer wahres Gesicht. Wehe ich erfahre, dass Ihr sie wieder geschlagen habt, dann werde ich dafür sorgen, dass man Euch die Bierspende streicht und Ihr keinen Fuß mehr in die Stadt setzt!“
„Geh mir aus dem Weg, alte Vettel!“, brüllte Müller vom Wagen. „Ich habe Wichtigeres zu tun, als mir dein Geschwätz anzuhören! Außerdem werde ich vom Bürgermeister erwartet.“
„Der Bürgermeister hat Euch längst durchschaut. Aber jetzt bekommt Ihr ja ein neues Prügelopfer. Ich hoffe, dass es Euch die Kehle durchbeißt!“, rief sie ihm wütend hinterher. Doch Müller störte sich nicht daran. Er trieb den Esel an und malte sich in Gedanken eine goldene Zukunft aus. Denn sobald er an das wilde Kind und die Grete dachte, klingelten Münzen in seinen Ohren und türmten sich zu Bergen vor seinen Augen. Die Tochter neben sich hatte er über der Träumerei vergessen. Nur einmal erinnerte er sich an sie, als er ihr vor einer steilen Anhöhe befahl, vom Bock zu klettern und den Esel am Halfter hinaufzuführen.
Als sie im Armenhaus ankamen, warteten die zwei herrschaftlichen Kutschen bereits vor dem Eingang zum Haupthaus und Meyer trieb gerade seine Ochsen an ihnen vorbei. Er rief ihnen zu: „Ihr werdet schon ungeduldig erwartet, Gevatter! Sie sind alle im Waschhaus versammelt!“
Müller beeilte sich, den Esel auszuschirren.
Die Worte des Brauers waren nicht notwendig gewesen. Ohrenbetäubendes Geschrei wies ihnen den Weg zum Waschhaus, welches im Untergeschoss lag. Grete quetschte sich hinter dem Vater durch die Tür, der sie über ihren Kopf hinweg achtlos hinter sich zuknallte und sich hastig für sein Zuspätkommen bei den Herrschaften entschuldigte. Nicht ohne dabei die Schuld auf den lahmen Esel und die Tochter abzuwälzen.
„Lasse Er das Gestammel und helfe Er uns endlich“, wurde er vom Bürgermeister unterbrochen, einem greisen, würdigen Mann mit wallender, brauner Allongeperücke, der auf einen mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Stock gestützt neben dem Waschzuber stand und seine Anweisungen gab, während ein Knecht den Holzzuber mit heißem Wasser befüllte. Er hatte dabei große Mühe das heiße Wasser mit einem Eimer aus dem Wasserkessel über dem Feuer zu schöpften, denn das wilde Kind machte es den Anwesenden nicht leicht. Anstatt sich säubern zu lassen, wie man es vorhatte, versuchte es dem zu entkommen und war dabei flink wie ein Wiesel.
Grete drückte sich neben der Tür hinter einen Schrank und beobachtete das Geschehen mit gemischten Gefühlen. Zum einen empfand sie erneutes Mitleid mit dem seltsamen Geschöpf, zum anderen war sie neugierig zu erfahren, was sich wohl unter der ledernen Haut verbarg, wenn sie erst mit dem Wasser in Berührung gekommen war. Doch der Knabe, den nun vier kräftige Männer einzufangen suchten — der Schulze, der Aufseher, ein Knecht und ein von Kopf bis Fuß in schwarz gekleideter Fremder — gebärdete sich schlimmer als ein Raubtier. Er sprang die Wände hinauf und flitzte an ihnen entlang wie eine in die Enge getriebene Katze. Man hätte die Töne, die er ausstieß, auch mit einem Fauchen vergleichen können. Jedenfalls sprangen seine Häscher abwechselnd vor ihm zurück und fluchten derb, wenn einer von ihnen in den Finger gebissen wurde oder das Gesicht zerkratzt bekam.
„Er benimmt sich wie ein junger Wolf“, stellte irgendwann der Schulze außer Atem fest und wischte sich mit einem Spitzentuch über die schweißnasse Stirn. Er atmete schwer, die Leibesfülle machte ihm zu schaffen und so sah er hilflos zu dem Bürgermeister, der Müller heranwinkte und ihm befahl: „Hole Er die Peitsche, das kann Er doch am besten. Gerbe Er ihm beim nächsten Fluchtversuch ordentlich das Fell.“
Grete sah den triumphierenden Zug im kantigen Gesicht des Vaters, sah das Leuchten in seinen Augen, während er vor dem Bürgermeister kuschte und ihm beipflichtete: „Ja, Euer Wohlgeboren, schon der Volksmund sagt, gehe nie ohne Zucker und Peitsche zu deinem Weib oder deinem Pferd.“
„Wo hat Er denn das wieder her?“, murrte der Bürgermeister, den die Angelegenheit schon viel zu lange in Anspruch nahm. „Sicher vom Spieltisch. Die Kreatur ist weder ein Weib noch ein Pferd. Sie benimmt sich eher wie ein wildgewordener Affe. Sie hat ganz sicher unter Wölfen gelebt. Ich habe mal gelesen, dass diese Rudel schon ausgesetzte Kinder aufgezogen haben sollen! Was mein Ihr dazu, Meinke Rechtern?“
„Er muss erst in den Waschzuber, dann werden wir sehen, um was für ein Wesen es sich handelt“, keuchte der angesprochene Stadtschulze und gab Müller, der die Lederpeitsche einsatzbereit in Händen hielt, das Zeichen sie anzuwenden.
Müller schlug zu, als der Knabe wieder unter ihren Händen davonflitzte, und traf die Wand. Als er erneut zum Schlag ausholte, kam von dem Schwarzgekleideten ein schwacher Einwand. „Meine Herren, ich weiß nicht, ob das klug ist. Die Kreatur weiß doch gar nicht, was mit ihr geschieht. Sie hat vielleicht noch nie Wände von innen gesehen, geschweige denn Menschen, noch dazu welche mit solchen Werkzeugen in den Händen.“
Der Mann im schwarzen Rock stand vornübergebeugt vor dem Knaben, der in einer Ecke unter sich machte und Müllers Hand mit weit aufgerissenen Augen fixierte. „Er ängstigt das Kind doch nur. Gibt es denn nichts anderes, mit dem wir ihn fangen können? Vielleicht ruft Er Sein Weib herbei, Müller. Frauen bewirken manchmal Wunder.“
Er sprach Grete aus dem Herzen. Um in das Gesicht des Mannes zu sehen, der offenbar als Einziger Mitleid für das Kind empfand, trat sie einen Schritt aus ihrem Versteck hervor. Der Mann bemerkte es und drehte sich nach ihr um. „Da ist ja ein Weib …“, stellte er erstaunt fest. „Und was für eine Schönheit sie ist.“
„Sie ist noch ein Kind und meine Tochter“, knurrte Müller ärgerlich über ihr Auftauchen und herrschte Grete augenblicklich an. „Was hältst du hier Maulaffen feil? Gibt es keine Arbeit im Haus?“
Grete nahm sofort eine Demutshaltung ein und wollte sich gehorsam zurückziehen, als der Mann nach ihrer Hand fasste und sie an seine Lippen zog. „Wie kann man die Jungfer nur so zurechtweisen. Ich denke, sie ist Seine Tochter. Er sollte dem Herrgott für diese schöne Gabe danken“, sagte er, während seine Augen Grete anlächelten. Es waren diese himmelblauen Augen, umgeben von tausend kleinen Lachfältchen, unter einem Kranz fein geschwungener Brauen, die ihn sympathisch machten. Eine leicht gebogene Nase und schmale Lippen über einem energischen Kinn gaben dem Männergesicht mit der vornehmen Blässe zudem eine gewisse Verwegenheit.
„Herr Burchardy, können wir nicht weitermachen?“, tönte es ungeduldig aus dem Hintergrund. „Euch, in Eurer Eigenschaft als kurfürstlicher Kommissar, sollte es ein Bedürfnis sein, die Sache schnell zu Ende zu bringen. Die Jungfer ist uns keine Hilfe und kann gehen. Sie wurde schon auf dem Markt von der Kreatur gebissen.“
Grete versuchte rasch die verletzte Hand auf dem Rücken zu verstecken und blieb an den Augen des Kommissars hängen. Sie hoffte auf seine Fürsprache. Mit ihrem kindlichen Herzen im Körper einer jungen Frau hatte sie sofort Vertrauen zu dem Mann gefasst. Der Kommissar dachte auch nicht daran, Grete hinauszuschicken. Stattdessen rief er überrascht: „Seht nur, meine Herren, die Kreatur! Welch seltsame Wandlung!“
Während sich auf den Gesichtern Überraschung breitmachte, führte er Grete ein Stück auf den Knaben zu, der sich vor ihnen wie eine schwarze Spinne mit angezogenen Beinen, in eine Ecke hinter dem Schornstein zurückgezogen hatte. Als er das Mädchen bemerkte, kam er vorsichtig witternd aus seinem Versteck heraus und kroch, seine Peiniger dabei ängstlich im Auge behaltend, einen Schritt auf sie zu. In sicherer Entfernung ließ er sich auf dem Boden nieder, zog erneut die Beine an und starrte Grete unverwandt von unten herauf in das Gesicht.
„Was für ein Kuriosum“, stellte der Bürgermeister überrascht fest. „Ich sagte doch – ein Weib und alles regelt sich wie von selbst. Weiber haben schon die Politik verändert, meine Herren. Vielleicht hatte er eine Mutter und erinnert sich an sie.“
„Oder er will sie noch mal beißen, Euer Wohlgeboren!“, grinste Müller und fügte hinzu: „Wir sollten die Gelegenheit nutzen und der Kreatur den Zuber überstülpen, bevor das Wasser ganz kalt wird.“
Grete war ebenso fasziniert wie die Männer von dem veränderten Gebaren des tierischen Knaben. Gleichzeitig ließ sie aus Mitleid alle Vorsicht außer Acht und nutzte die kurze Verwirrung, um vor ihm in die Hocke zu gehen. Als sie auf Augenhöhe mit dem Wilden war, lächelte sie ihm zuversichtlich zu.
Wie ein kleines, mageres Fellbündel hockte er vor ihr auf dem Steinfußboden und verfolgte jede ihrer Bewegungen. In dem Blick seiner braunen Augen stand keine Panik. Eher war es Neugierde und so etwas wie blindes Vertrauen, das sie seltsam berührte. Der Kommissar flüsterte ihr zu: „Der Wilde hat keinerlei Erfahrung mit Menschen. Es sieht wahrscheinlich zum ersten Mal eine Frau. Sie beeindrucken ihn, Jungfer.“ Seine Worte schmeichelten ihr. Gleichzeitig spürte sie, dass der Knabe in seiner Hilflosigkeit nach etwas suchte, woran er sich orientieren konnte, dass er am Ende seiner Kräfte war und Hilfe bei ihr suchte.
Wie gern hätte sie die Hände nach ihm ausgestreckt und ihn von diesem traurigen Ort weggeführt. Doch ein schmerzlicher Stich in der Bisswunde erinnerte sie daran, es nicht zu tun. Stattdessen hegte sie die Hoffnung, dass er sie verstehen möge, obwohl sie einsah, dass ein Bad für ihn wichtiger war, ebenso ein Bett und etwas zu essen. Leise redete sie zu ihm: „Gib deinen Widerstand auf, Peter. Dir wird nichts geschehen, solange ich bei dir bin. Ich verspreche dir, dich zu beschützen.“
Die Männer waren inzwischen nicht untätig gewesen und hatten die Ablenkung genutzt, um rasch einen Holzbottich über seinen Kopf zu stülpen. Die Antwort war Geschrei und Gepolter, und Grete wurde unsanft zur Seite gestoßen. Die strampelnde Kreatur wurde an Armen und Beinen unter dem Bottich hervor gezerrt und kopfüber in die mit Wasser gefüllte Wanne getaucht. Der Knabe gurgelte und spuckte. Doch all seine Abwehr half ihm nun nichts mehr. Mit vereinten Kräften wurde er solange unter Wasser gehalten, bis er aufgab und unter den kräftigen Händen ganz ruhig in dem Zuber zum Sitzen kam.
„Habe ich gerade ‚Peter‘ gehört? Hat das Kind einen Namen oder hat Sie ihm diesen gerade gegeben, Jungfer?“, vernahm Grete wie versteinert den Bürgermeister in ihrem Rücken.
„Ja, Euer Ehren. Ich habe ihm den Namen gegeben. Mein kleiner Hund fiel mir ein, der Pepe hieß“, antwortete sie, noch verwirrt über die brutalen Maßnahmen.
„Hat Sie ihn noch, Jungfer?“
„Nein, Euer Ehren. Er ist an Altersschwäche gestorben“, log sie und schlug demütig die Augen nieder, als sie den warnenden Blick des Vaters bemerkte.
„Dann hat Sie ihn jetzt wieder, Ihren Pepe. Peter ist ein guter Name. Sie hat großen Einfluss auf ihn. Möge Sie mithelfen, dass aus ‚Peter‘ ein menschliches Wesen werde und später einmal ein wohlerzogener junger Mann. Ich stelle ihm eine Leibrente zur Verfügung, die zunächst alle seine Kosten decken wird. Dafür wird er hier im Spital gut versorgt“, entschied er mit einem wohlwollenden Blick auf Grete und einem entsprechenden in Müllers Richtung, während er noch ganz außer Atem seine Perücke zurechtrückte.
Inzwischen war Müllers Eheweib herbeigerufen worden. In der Tür des Waschhauses erschien ein schwarzhaariges, hochgewachsenes Weib mit früh gealterten Zügen. Ihre Röcke waren geflickt und ihr Mieder nachlässig geknöpft. Sie brachte eine Bürste aus Schweinsborsten mit und ein großes Stück Seife, das man zum Waschen der Wäsche verwendete. Mit einer Verbeugung sank sie vor den Herren nieder wie eine Königin in ihren Lumpen.
„Mach schon, Weib, schrubb das Balg endlich von oben bis unten ab!“, herrschte Müller sie an, als er sah, dass sie sich vor dem wilden Tier im Zuber fürchtete. Der folgende drohende Blick genügte, um sie an ihre Pflicht zu erinnern. Mit saurer Miene und zwischendurch immer wieder zurückschreckend, packte sie den Knaben und schrubbte ihn, bis dem Kommissar überrascht entschlüpfte: „Seine Haut ist ja weiß wie die eines Fürstensöhnchens …“
Der Junge verhielt sich während des Schrubbens seltsam ruhig. Mit wachen Augen verfolgte er den Weg der Bürste und es schien offenbar, dass er die Behandlung genoss. Nur einmal begehrte er auf, als der herbeigerufene Barbier ihm das lange, verfilzte Haar entfernte. Er ging dabei nicht zimperlich vor und entfernte zusätzlich mit einem Messer die wolfsähnlichen Haare, die ihm an manchen Körperstellen wie Borsten aus der Haut wuchsen. Bei jedem Haar, das man ihm entfernte, zuckte und strampelte der Knabe. Letztendlich half ihm alles nichts und die Anwesenden staunten nicht schlecht, welche Verwandlung Wasser, Seife und Schere bei ihm bewirkten.
Befreit von Haaren und Schmutz, barfuß auf dem kalten Steinfußboden, wurde er wie ein frisch geschuppter Fisch von sechs Augenpaaren eingehend begutachtet. Er war von kleiner Statur, aber nicht verwachsen. Mit einem kräftigen Brustkorb, einer schmale Taille, dunklen Locken und einem schön geschwungenen Mund gab er den Männern erneut Rätsel auf. Nach der ersten Verblüffung rief Grete überrascht: „Warum hat er überall Narben auf der Haut?“
„Es stimmt!“, bestätigte der Kommissar und griff nach der Kerze auf dem Tisch. „Die schöne weiße Haut ist voller Narben. Eine geht sogar vom Mund bis zum Hals. Es sieht aus, als stamme sie von einem Messer.“ Er reichte das Licht dem Stadtschulzen, der dem Jungen am nächsten stand. Interessiert zog der sich einen Stuhl heran und begann die weiße Knabenhaut genauer abzuleuchten. Sofort kam wieder Bewegung in den Jungen. Äußerlich ein ansehnlicher Knabe, innerlich aber immer noch ein Wilder, antwortete er in Wolfsmanier und bleckte die Zähne abwehrend gegen den Schulzen. Diesmal schlug Müller rechtzeitig zu und traf den Jungen an der Schulter. Der Schlag bewirkte Wunder. Offenbar schien er mit dieser Art der Züchtigung schon Erfahrung gemacht zu haben. Denn wie vom Blitz getroffen, sackte der Wilde in die Knie und berührte wie schon zuvor auf dem Markt, den Steinfußboden mehrmals kurz hintereinander mit den Lippen.
„Welch seltsames Gebaren“, murmelte der Bürgermeister kopfschüttelnd, suchte nach seinem Vergrößerungsglas im Rock und begann, als er es gefunden hatte, die tiefen Narben auf dem gebeugten Rücken eingehend zu inspizieren.
„Na, zumindest scheinen Schläge das Einzige zu sein, was bei ihm wirkt“, bemerkte Müller triumphierend.
„Ich glaube, er will etwas sagen“, bemerkte der Schulze und ging zum besseren Verständnis neben dem Knaben in die Hocke.
„Ja, es hört sich an wie ‚Ala, Ala‘. Diese seltsamen Laute hat schon Braumeister Meyer beschrieben. Entweder ist es eine fremde Sprache oder es sind tierische Laute. Beides ergibt aber keinen Sinn“, antwortete Burchardy vom Tisch aus, wo er sich Notizen in ein kleines Buch mit goldenem Einband machte. „Aber ich werde es herausfinden, ich schwöre es, meine Herren. Was sagt Ihr zu den Wunden, Euer Ehren?“
„Ich bin zu wenig erfahren im Narbenlesen. Sie können sowohl älteren als auch neueren Ursprungs sein. Da Ihr, Herr Burchardy, ein Mann der Verbrechensaufklärung seid, habt Ihr sicher bald eine Erklärung dafür. Zunächst sollte der Barbier einen Blick darauf werfen. Vor allem sollte er sich die Zähne und die Zunge ansehen. Vielleicht ist ja etwas in seiner Mundhöhle, das ihn am Sprechen hindert?“
Der Barbier war sofort zur Stelle, als der Bürgermeister ihn herbeiwinkte. Er öffnete dem Knaben den Mund. Müller und sein Knecht leisteten ihm dabei Hilfe. Diesmal genügte dem Knaben allein der Anblick der Peitsche, um sich mit dem Gehorsam eines geprügelten Hundes seinem Schicksal zu ergeben.
„Die meisten Narben sind sehr tief. Sie könnten von mächtigen Krallen stammen. Vom Mund bis zum Hals hat er eine schlecht vernarbte Biss- oder Schnittwunde. Sie muss ihm ordentlich zu schaffen gemacht haben. Wahrscheinlich war sie lange entzündet. Möglich, dass sie von einem Wolfsbiss stammt“, stellte der Barbier fachkundig, nach eingehender Inspizierung, fest.
„Nun gut. Könnt Ihr eine medizinische Ursache finden, warum der Knabe nicht sprechen kann?“, fragte Burchardy und ergriff Grete bei der Hand. Noch bevor sie sanft protestieren konnte, führte er ihre Finger über die starke Schürfwunde, die vom Kinn bis zur Kehle verlief. „Spüren Sie es auch, Jungfer? Diese Verletzung würde uns sicher gern eine Geschichte erzählen.“ Sein Blick wanderte dabei von dem Knaben zu ihr. Er blieb wohl einen Moment zu lange an ihrem Gesicht hängen, was sie, trotz seines wohlwollenden Interesses an dem Knaben, verwirrte. Die Haut zuckte, als sie das schlecht vernarbte Wundmal berührte und sie zog sie rasch wieder zurück. Dabei fiel ihr der Hemdfetzen ein, den der Junge um den Hals getragen hatte und dem bisher niemand sonderlich Aufmerksamkeit schenkte. Sicherlich hatte er mit dem Hemd die Narbe verdeckt. Sie spielte dem Kommissar gegenüber geschickt die Verlegene und wich seinem Blick aus. Gleichzeitig suchte sie unauffällig den Boden nach dem Stofffetzen ab. Als Tochter eines Gildemeisters hatte sie Schreiben und Lesen gelernt, wobei die Entbehrungen und das Leid der Kindertage es nicht geschafft hatten, ihr die kindliche Neugierde und den wachen Verstand zu nehmen. Sie begriff, dass dieser Fetzen Stoff einen wichtigen Hinweis auf die Herkunft des Knaben geben könnte, und ihr Herz hüpfte vor Freude, als sie ihn zwischen den Holzzubern entdeckte. Ich muss es verhindern, dass die Männer das Hemd finden, dachte sie und wandte sich nun mit vermehrtem Interesse wieder dem Knaben zu. Dabei drehte sie sich mit ihrer Kehrseite geschickt in die Richtung der Fundstelle, wo sie mit der Fußspitze heimlich nach dem Stofffetzen angelte.
Den Mund des Kommissars umspielte ein heimliches Lächeln. Er beobachtete sie. Hatte er etwas bemerkt? Sein Lächeln kam ihr plötzlich seltsam glatt vor. Sie forschte in seinem Gesicht. Doch es schien undurchdringbar. Galant schmeichelte er ihr: „Nur zu, Jungfer, Sie sollten es sich genau ansehen. Vielleicht wird einmal eine Ärztin aus Ihnen.“
Seine Aufmerksamkeiten endeten jedoch abrupt mit den nüchternen Worten des Barbiers, der die Maulsperre in seinen Händen, die den Mund des Knaben gewaltsam offen gehalten hatte, nachdenklich betrachtete. „Seine Zähne müssten abgeschliffen werden und die Unfähigkeit zu sprechen, könnte von der Zunge herrühren. Mir scheint, sie ist ihm an beiden Seiten festgewachsen.“
„Was sagt Er da? Da muss unbedingt der Feldscher her. Vielleicht lässt sich diese Missbildung operieren“, stellte der Bürgermeister fest und befahl sogleich Müller: „Rufe Er ihn rasch! Der Barbier wird ihm assistieren.“
Müller zeigte sich bedrückt. „Einen Feldscher …?“, druckste er. „Es gibt nur den Barbier im Spital.“
Grete hob blitzschnell das Stück Stoff vom Boden auf. Ohne dass es jemand bemerkte, ließ sie den Hemdfetzen unter ihrem Rock verschwinden.
„Wieso keinen Feldscher? Hat Er das Geld für ihn auch ins Wirtshaus geschafft?“, knurrte der Schulze.
„Der Feldscher hat unser Spital verlassen, auf eigenen Wunsch“, rechtfertigte sich Müller demütig. „Er war schon alt und der Arbeit nicht mehr gewachsen.“
„Ach rede Er nicht. Unsere kurfürstliche Gnaden hatte zur Erneuerung des Spitals zum Heiligen Geist großzügigerweise einen Wundarzt im besten Alter verpflichtet. Wie soll uns ein Barbier vor Epidemien und der schwarzen Pest beschützen? Weiß Er, was die Bettler und Vagabunden ihm hier einschleppen? Er wird wohl Seinetwegen gegangen sein. Wer soll es auch mit Ihm aushalten. Es wäre an der Zeit einmal zu überdenken, was Er seiner Familie antut. Er hat wohlgeratene Kinder, einen warmen Herd und eine wunderbare Köchin.“
„Nun gut“, lenkte der Bürgermeister ein und nickte Müllers Weib säuerlich lächelnd zu. „Es ist nun nicht mehr zu ändern. Beeile Er sich und laufe Er rasch zum Pferdemarkt zur Hauptwache, zum Regiment von Reden! Sage Er dem Festungskommandeur, dass ich Ihn schicke, um mir den Feldscher auszuleihen! Sage Er ihm, dass es dringlich ist.“
Müller verbeugte sich tief und lief zur Tür. Auf dem Weg ergriff er Gretes Zöpfe und zog sie mit sich. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm er einen Korb mit Bohnenstängeln von der Wand und drückte ihn ihr in die Arme. Dann drohte er ihr warnend mit der Peitsche.
„Hier, damit verschwindest du jetzt in der Küche! Denkst du, die Arbeit im Haus erledigt sich von allein? Noch einmal so eine Ungehorsamkeit und es setzt was!“, drohte er ihr gefährlich leise und half mit der Peitschenspitze unter ihrem Kinn nach. Er hob es an, sodass sie ihn ansehen musste. Eingeschüchtert wagte Grete es nicht, ihm zu widersprechen. Instinktiv spürte sie, dass es besser war, ihn nicht noch mehr zu verärgern. Die Demütigungen, von denen er an diesem Tag schon genug hatte ertragen müssen, machten ihn zunehmend reizbarer. An der Tür zum Hof drehte er sich noch einmal nach ihr um und drohte ihr erneut mit der Peitsche.
Gehorsam nahm Grete den Weg zur Küche. Doch auf der Hälfte überwog die Neugierde ihre Angst und sie drehte wieder um. An der Tür zur Waschküche angekommen, blieb sie unschlüssig stehen. Sollte sie hineingehen oder den Anordnungen des Vaters Folge leisten? Angst und Neugierde kämpften miteinander, während sie, die Hand auf der Türklinke, zögerte. Die Stimmen aus der Waschkammer drangen bis an ihr Ohr. Sie hörte, wie der Stadtschulze Müllers Frau die Anweisung gab, dem Knaben etwas zu Essen zu bringen.
„Seine Haut ist weißer als Alabaster. Das ist nicht die Haut eines Bauernjungen“, erklang die Stimme des Bürgermeisters.
„Bis auf seine Füße, die sind braun geblieben“, meldete sich das Weib. Es entstand eine Pause. Stille. Offensichtlich waren die Männer verblüfft, sprach Müllers Weib doch angeblich nur Französisch.
„Wenn Ihr Herren wüsstet, dass sich die Mutter genauso vor dem Vater fürchtet wie ich“, murmelte Grete. „Dann verständet Ihr, weshalb sie lieber in einer fremden Sprache spricht.“
„Die braunen Stellen könnten ein Hinweis auf Zigeuner sein. Deren Kinder tragen keine Stümpfe. Sie gehen immer barfuß“, erklang es.
„Ein Zigeunerkind?“, hörte sie den Kommissar. „Zigeuner sind seit Jahren nicht mehr in Hameln registriert worden.“
„Möglich ist aber auch, dass es sich sogar um einen Abkömmling des fürstlichen Hofes handelt. Vielleicht wurde er entführt?“, warf der Stadtschulze ein.
„Möglich ist alles. Meiner Meinung nach ist der Junge in den Wald entlaufen. Aus welchen Gründen auch immer“, spann der Kommissar den Faden weiter. „Das würden die unzähligen Narben erklären. Vielleicht hat er sich ein paar Jahre im Wald durchgeschlagen. Hat auf Bäumen geschlafen. Die älteren Narben könnten von den Bäumen stammen, auf die er vor den wilden Tieren geflüchtet ist. Die Größeren könnten von Wölfen stammen.“
„Einen Kampf mit einem Wolf hätte er nicht überlebt. Der Junge ist zwar von kräftiger Statur, aber bedenkt, er ist ein Kind. Nicht mal ein erwachsener Mann schafft das“, entgegnete der Bürgermeister. „Das Kind muss einen von Gott gesandten Schutzengel gehabt haben. Wahrscheinlich waren es die Wölfe selbst, die ihm Schutz gaben. Aber diese Wahrheit herauszufinden ist Eure Aufgabe, Herr Burchardy. Jetzt wollen wir erst mal sehen, wie ihm unser Essen schmeckt. Sicher wird er hungrig sein.“
Immer mit einem Auge nach hinten und der Angst vor dem Vater im Nacken hatte Grete das Geschehen gebannt verfolgt. Sie hatte die Tür einen Spalt geöffnet, getraute sich aber nicht das Waschhaus zu betreten. Der Knabe saß angekleidet mit einem Hemd und einer Hose vor einem groben Holztisch. Die Kleidung kam Grete bekannt vor. Sie gehörte einem ihrer Brüder. Vor ihm stand ein Teller mit Fleisch. Daneben lag ein Kanten Brot. Beides schien seine Neugierde geweckt zu haben, doch der Knabe stierte das Fleisch lediglich an, ohne zuzugreifen, obwohl die Männer nichts unterließen, um ihn zu ermutigen. Irgendwann kam Bewegung in seinen Körper und er führte die Hand fast in Zeitlupe zum Tellerrand. Dann ging alles plötzlich sehr schnell. Er verfiel wieder in sein wildes Gehabe. Nachdem er das Essen wie ein Hund von allen Seiten berochen hatte, sprang er blitzschnell auf, schlug auf das Fleisch ein und zerfetzte es anschließend zwischen den Fingern. Gleichzeitig riss er sich die Kleider vom Leib und begann wie ein Irrer an den Wänden entlangzuflitzen.
Die Anwesenden standen mit offenen Mündern sprachlos im Raum, bis der Bürgermeister das Spektakel verärgert beendete. „Gut meine Herren, wir haben alles versucht. Wie es scheint, ist der Wilde unverbesserlich. Wir werden uns jetzt zurückziehen. Der Knabe wird auf den Namen Peter getauft, wenn er gelernt hat, sich wie ein Mensch und nicht wie ein idiotischer Affe aufzuführen. Bis dahin wird er weggesperrt und August Müller wird sich um ihn kümmern. Der hat endlich eine Aufgabe, die ihm vom Wirtshaus fernhält. Ich gebe ihm vier Wochen aus dem Wildfang einen Menschen zu machen. Ansonsten kommt er zu den Idioten ins Tollhaus.“
„Aber Euer Wohlgeboren, der Feldscher muss ihn doch noch ansehen“, konnte sich Grete nun nicht mehr enthalten und trat in das Waschhaus.
„Ach sieh, Jungfer Grete“, begrüßte sie der Kommissar erfreut. „Wo haben Sie nur gesteckt, die ganze Zeit. Wir hätten Ihre Hilfe gebraucht. Ohne die Dompteuse bekommen wir das Raubtier nicht gebändigt. Seht, was er ohne Sie angerichtet hat.“
„Vielleicht kennt er gar kein Fleisch. Vielleicht mag er lieber Gemüse?“ Auffordernd hielt Grete dem Kommissar den Korb hin.
„Bohnenstängel?“ Er bekam große Augen. „Ich kenne kein Tier, was so etwas frisst. Aber versuchen Sie es ruhig“, sagte er und wies auf den Jungen, der nun wieder, wie Gott ihn geschaffen hatte, in seiner Ecke am Boden hockte und sich vor ihren Augen den Arm zerbiss.
Grete warf ihm den Korb mit dem Bohnenkraut zu, um ihn abzulenken.
„Kommt, meine Herren“, sagte der Bürgermeister und wandte sich angeekelt ab. „Müller wird jeden Augenblick mit dem Feldscher zurück sein. Für uns hat sich die Angelegenheit erledigt. Wenn man mich fragt, was ich von ihm halte, dann würde ich sagen – er ist nicht ganz richtig im Kopf und wahrscheinlich deswegen auch ausgesetzt worden. Wir haben nur unsere Zeit verschwendet.“
Die Herren waren bereits in der Tür, als Grete aufgeregt rief: „Seht nur, er isst die Bohnenstängel!“
Der Kommissar, der als Letzter das Waschhaus verließ, drehte sich nach ihr um. „Dann machen Sie es zu seiner Hauptspeise. Aber sperren Sie ihn gut ein, damit er uns nicht die Felder leerfrisst.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen ließ er sie sprachlos zurück.
Noch am Abend war der Feldscher bereit das Übel mit der angewachsenen Zunge mit zwei Schnitten zu lösen. Doch als der Knabe sich wieder wie eine Furie gebärdete und ihm dabei fast ein Ohr abbiss, unterließ er es. Danach wurde der Knabe von Müller und seinen Knechten in eine Kammer in die untersten Kellerräume gebracht. Um einer Flucht vorzubeugen, vernagelte er das einzige Fenster mit Holz und starken Nägeln und versperrte die Tür mit Eisenriegeln. Nun war Peter wie ein wildes Tier gefangen und Grete wusch heimlich den Hemdfetzen. Als er trocken war, bestaunte sie das feine Gewebe. Sie schob es nachdenklich zwischen den Fingern hin und her, bis sie an einer Naht neben dem Rest einstiger Spitzenrüschen die Umrisse eines verblassten Wappens entdeckte. Bis nach Mitternacht versuchte sie in ihrer Kammer im trüben Schein des Talglichts, das Wappen zu entschlüsseln. Doch die Initialen behielten ihr Geheimnis. Enttäuscht verbarg sie es beim dritten Gongschlag der Kirchturmuhr in ihrem Mieder, in der Hoffnung des Rätsels Lösung irgendwann auf die Spur zu kommen.