Читать книгу Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama - Страница 8
ОглавлениеEin höchst seltsamer Fund
Jürgen Meyer schlug auf die Ochsen ein. Die massigen Tiere stemmten sich in das Joch. Aber sie liefen bei aller Mühe keinen Schritt schneller.
„Ich hätte die Pferde nehmen sollen“, murrte der Bauer und Gildemeister der Brauerei und warf einen sorgenvollen Blick zum Himmel hinauf, an dem sich die ersten dunklen Wolken zusammenzogen. „Die Ochsen sind zu langsam. Wir haben die Fuhre zu voll gepackt, Johannes!“, rief er zurück. „Ich glaube, wir schaffen es nicht mehr, das Heu trocken einzufahren.“
„Ich habe Euch geraten den größeren Wagen zu nehmen, Meister. Die Frösche in meinem Wetterglas hockten heute Morgen auf der untersten Leitersprosse. Das bedeutet immer schlechtes Wetter“, antwortete ihm der Knecht, der mit der Forke hinter dem Fuhrwerk lief, um das heruntergefallene Heu aufzulesen.
„Aber heute Morgen schien die Sonne. Wer konnte denn wissen, dass das Wetter so schnell umschlägt. Wenn es nass wird, ist das schöne Heu verdorben.“ Ärgerlich pfiff die Peitsche abermals über die massigen Rücken. Das machte die Ochsen noch sturer und anstatt anzuziehen, blieben sie einfach stehen. „Was ist denn nun schon wieder los? Dumme Viecher!“, murrte der Braumeister ärgerlich und schickte sich an vom Wagen zu klettern, als er plötzlich den angehobenen Fuß wieder zurücksetzte und zur Säule erstarrte. „Hast du das auch gehört, Johannes?“
„Was, Meister?“, kam es hinter dem Wagen hervor.
„Das Geräusch. Es klang wie ein Rascheln im Unterholz, nur lauter.“ Er durchbohrte mit den Augen den Waldesrand zu seiner Rechten und warf dann einen ängstlichen Blick über die Schulter zurück. „Hier schleicht etwas durch das Unterholz. Wahrscheinlich Wölfe.“ Die Flanken der Ochsen begannen unmerklich zu zittern. Mit gerunzelter Stirn sah Meyer auf den Hund, der das Fuhrwerk gerade noch spielerisch umsprungen hatte. Dabei hatte das glatte blaugraue Fell samtig in der Sonne geglänzt. Jetzt ähnelte der Rücken der Dogge auffällig einer dunklen Bürste. „Der Hund hat es auch gehört!“, rief er zurück und behielt das Tier im Auge, das ein paar Meter vorlief und vor dem Gespann witternd stehen blieb. Die Nase gegen den Wind gestreckt begann die Dogge leise zu knurren. „Ruhig, mein Guter“, beruhigte ihn Meyer. Gleichzeitig rief er nach dem Knecht: „Johannes, komm nach vorn und bring die Gewehre mit!“ Gleich darauf hörte er das bekannte Klacken des Gewehrschlosses. Johannes kletterte zu ihm auf den Wagen. „Es umkreist uns“, flüsterte Meyer. „Eben war es noch neben den Ochsen, nun ist es vor uns. Hörst du das Kratzen?“
„Die Wölfe werden immer dreister. Nicht nur, dass sie bei Nacht in die Stadt kommen und unsere Heimstätten heimsuchen, jetzt verfolgen sie uns auch schon am Tag“, pflichtete ihm der Knecht leise bei.
Wind kam auf. Er blies ihnen das Heu in die Augen. Die ersten Tropfen klatschten auf die Haut.
„Es kann sich höchstens um ein Wolfspärchen oder eine säugende Wölfin auf Futtersuche handeln. Wir haben Juli. Da treten sie nicht in Rudeln auf“, versuchte Meyer die eigene Angst zu bekämpfen.
Plötzlich wies der Arm des Knechtes nach vorn. „Da Meister! Auf dem Acker! Der Teufel!“ Ängstlich duckte er sich hinter den breiten Rücken seines Herrn.
„Aberglaube!“, schimpfte Meyer. „Es ist ein Wolf, schieß schon!“ Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da senkte er mit der Hand den Gewehrlauf. „Warte! Ich glaube, ich habe mich geirrt. Das sieht nicht aus wie ein Wolf. Komm, lass uns nachsehen!“
Die Gewehre in der Hand kletterten die Männer vom Wagen. Meyer pfiff nach dem Hund und griff in das breite Lederhalsband. Das Tier an seiner Seite gab ihm Sicherheit. Denn nur wenige Meter vor ihnen glaubte er in dem aufkommenden Regen eine Gestalt zu erkennen, die auf sie zugelaufen kam.
„Wenn es nun doch der Teufel ist?“, grunzte der Knecht und wurde hinter Meyer noch kleiner.
„Warte hier, wenn du Angst hast. Aber wenn ich den Arm hebe, schießt du! Du bist meine Rückendeckung“, flüsterte Meyer. Einen Augenblick später sah der Knecht, wie der Bauer in gebückter Haltung auf das unbekannte Wesen zulief, sich dann hoch aufrichtete und wie vom Blitz getroffen stehen blieb.
„Es ist doch der Teufel“, stellte Johannes ängstlich fest, kam aber dennoch neugierig näher.
„Nein, nicht der Beelzebub“, kam es ungläubig aus Meyers Mund. „Eher ein Waldschrat?“
Dem Knecht blieb vor Staunen der Mund offen stehen.
Mitten auf dem abgeernteten Feld, aber noch soweit am Waldesrand, dass er das dichte Gehölz als Fluchtweg nutzen konnte, stand ein nackter Knabe von einer seltsamen Hautfarbe. Seine Haut sah aus wie gegerbtes Leder oder Baumrinde. Er war nicht groß, eher von kleinem Wuchs und Meyer schätzte, dass sein Scheitel ihm höchstens bis zum Gürtel reichte. Sein Gesicht sahen sie nicht. Es war von einer wilden schwarzen Mähne überwuchert. Eigentlich bestanden Kopf und Hals des Knaben nur aus verfilzter schwarzer Wolle. Wäre da nicht dieses schmutziggraue Hemd gewesen, das ihm um den Hals hing – die Männer hätten tatsächlich geglaubt, vor dem Leibhaftigen zu stehen. Doch da nirgendwo ein Pferdefuß zu sehen war, wurden sie mutiger und Meyer machte ein paar Schritte auf den Knaben zu.
„Wer bist du? Woher kommst du?“, sprach er ihn mutig an und wartete einen Moment, in der Hoffnung, dass der Knabe ihm antworten würde. Doch seine Frage schien an dem Jungen abzuprallen. Unverändert, mit leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper, stand er vor ihnen und zeigte keinerlei Reaktion.
„Wer bist du?“, wiederholte Meyer und warf seinem Knecht einen hilflosen Blick zu. „Er antwortet nicht. Ob er mich wohl nicht verstanden hat?“
„Vielleicht versuche ich es mal, Meister“, antwortete darauf der Knecht. Zur Verblüffung seines Herrn zog er sich die Jacke aus und lief damit zu dem Knaben. „Hier, meine Jacke. Bedecke damit deine Blöße“, sagte er und hielt ihm das Kleidungsstück auffordernd hin. Aber auch darauf zeigte das Kind keine Reaktion.
„Kannst du den Mund nicht aufmachen, Fremdling?“, rief Meyer nun ungeduldig. „Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“
Als ahnte er, dass der Knabe auch darauf nicht antworten würde, kam ihm eine Idee. „Ich muss noch ein paar trockene Äpfel bei mir haben. Hole mir mal den Korb vom Wagen, Johannes.“ Nachdem der Knecht der Aufforderung nachgekommen war, griff Meyer in den Tragekorb und zog einen Apfel hervor. „Hier“, forderte er den Knaben auf. „Wirst sicher Hunger haben. Hast bestimmt tagelang nichts zu essen bekommen, so wie du aussiehst.“ Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als ihm der Apfel auch schon aus der Hand gerissen wurde. Noch ehe er sich versah, war das Obst hinter dem Haarwust verschwunden.
„Hast du das gesehen, Johannes? Er … hat den Apfel ganz hinunter geschlungen.“ Der Knecht stellte mit einem seltsamen Gefühl in der Magengrube fest: „Habt Ihr die Zähne gesehen, Meister? Wie von einem Wolf. Mir deucht, mit dem Fremden stimmt etwas nicht. Wir sollten lieber gehen.“
„Du hast recht, Johannes. Überlassen wir den Wilden seinem Schicksal. Soll sich doch darum kümmern, wer will. Bringen wir unser Heu ins Trockene.“
In diesem Moment regte sich etwas in dem Knaben. Sein Rücken richtete sich auf und die Mähne gab einen schmalen Gesichtsausschnitt frei. Eine kleine gerade Nase und ein festes, energisches Kinn kamen zum Vorschein. Das Bemerkenswerteste waren die großen, dunklen Augen. Gar nicht ängstlich ruhte ihr Blick auf den Männern. Schmutzige Finger mit langen, eingewachsenen Nägeln wiesen auf den Schlund, in dem gerade der Apfel verschwunden war, so als wollte der Knabe ihnen etwas mitteilen, zu was er aber aus irgendeinem Grund nicht fähig war. Nach vielen Mühen entrangen sich seinen Lippen seltsame Laute, die sich wie ein „Ala, Ala“ anhörten. Gleichzeitig warf sich der Junge blitzschnell vor ihnen zu Boden und küsste die Erde. Die Männer tauschten ratlose Blicke.
„Hast du verstanden, was er gesagt hat?“, fragte Meyer.
Johannes zuckte mit den Schultern. „Ich habe eine solche Sprache mal bei den Muselmanen gehört“, antwortete der Knecht. „Ich glaube, sie beten auf diese Weise zu ihrem Gott Allah.“
Meyer kratzte sich hinter den Ohren. „Hm, ich werde nicht schlau aus dem Geschöpf. Wie ein Junge aus dem fernen Afrika sieht er nicht aus. Eher wie ein Wesen, das unter wilden Tieren aufgewachsen ist. Ich habe mal davon gehört, dass Wölfe auch Menschenkinder aufziehen. Es könnte sich aber auch um ein verblödetes Kind handeln.“
„Vielleicht ist es auch eines von den Kindern des Rattenfängers und es ist aus dem Berg zu uns zurückgekehrt?“, mutmaßte der Knecht und sah sich ängstlich um.
„Nach vierhundert Jahren …“, Meyer schüttelte den Kopf. „Jetzt erzählst du Unsinn, Johannes. Der Junge ist schätzungsweise elf, zwölf oder vielleicht auch dreizehn Jahre alt. Genau kann man das bei dem mageren Körper nicht sagen. Die Kinder, die damals verschwanden, sind längst in einer anderen Welt. Dieser hier bewegt sich wie ein Tier oder ein Idiot und sein Körper ist übersät mit Ungeziefer. Mich interessiert, wie er in die Wildnis gekommen ist. Weißt du was, du wirst ihn einfangen und wir werden ihn mit in die Stadt nehmen. Ich glaube, er wird die Sensation von Hameln.“
Gehorsam lief Johannes auf den Knaben zu, um ihn huckepack zu nehmen. Doch als er nach ihm greifen wollte, sprang dieser plötzlich vom Boden auf und küsste Johannes Hände immer und immer wieder, bis der Knecht sie ihm förmlich entriss und seinen Herrn anflehte, ihm zu helfen.
„Wenn man nicht alles selber macht“, murmelte Meyer und zog einen weiteren Apfel aus dem Beutel. „Mit Speck fängt man nicht nur Mäuse, sondern auch einen verblödeten Idioten“, grinste er und winkte dem Knecht sich zum Fuhrwerk zu begeben, während er selbst mit dem Apfel in der Hand rückwärts zum Wagen lief. Sein Plan gelang. Denn wie vermutet folgte ihm der Knabe in einigem Abstand. Den Apfel ließ er dabei nicht aus den Augen.
Angekommen am Wagen rief der Brauer: „Das Netz zum Abdecken des Heus, schnell, wirf es über ihn!“ Der wilde Knabe attackierte seine Hand mit dem Apfel immer heftiger. Als sich das Netz um den mageren Körper zog, heulte und biss das verschreckte Kind so heftig in die Seile, dass Meyer bezweifelte, ob die Stricke bis zu den Stadttoren halten würden. Er sprang rasch auf den Bock und rief nach dem Knecht, während der Knabe, gebändigt mit Stricken, nur bewacht von der Dogge, hinter dem Fuhrwerk her stolperte. Er heulte und spuckte den ganzen Weg lang. Aber sein Widerstand half ihm nichts. Wenn er nicht fallen und hinterher geschleift werden wollte, musste er laufen. Die große Dogge fuhr ihm bisweilen mit ihrer langen feuchten Zunge über das Gesicht, als wollte sie ihm damit ihr Mitleid bekunden. Vor dem Hund fürchtete der Wilde sich nicht.