Читать книгу Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama - Страница 9

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Tötet den Idioten

Grete hatte gerade die Färberei des Hugenotten Pierre verlassen, in welcher der Vater seine ausgeblichenen Hosen auffärben ließ, als ein Geselle sie anrempelte und die Hose in die Schmutzlache fiel. Nun suchte sie ängstlich den groben Stoff nach Schmutzflecken ab, während sie am ganzen Körper zu zittern begann. Die Frau des Bäckermeisters vom Scharren an der Ecke zur Bäckerstraße sah es und trat mit einer Brezel in der Hand zu ihr.

„Es wird schon nicht so schlimm werden, Grete. Lege einfach dein Schultertuch darüber. Dann wird sie nicht noch nass vom Regen. Hier, iss eine Brezel.“

Mit einem aufmunternden Blick auf das Mädchen schob sie ihre Rundungen am Verkaufsstand des Knochenhauers vorbei, der seine Wurst und sein Fleisch hinter einem Scharren feilbot. Sie kannte die Grete, wie viele hier auf dem Markt, als ein fleißiges und aufgewecktes Kind. Sie wusste auch, dass sie unter den Wutausbrüchen ihres Vaters August Müller, dem Aufseher des Armenhauses, litt. Dennoch schürte sie mit ihrem losen Mundwerk das Gerücht, dass die fünfzehnjährige Grete gar nicht seine Tochter sei, sondern dass er sein Weib Marie einst mit dem Kuckuckskind geheiratet habe und er seine Älteste deshalb so schlecht behandelte. Denn dass sie für ihre kranke Mutter den kinderreichen Haushalt führte und von ihrem meist betrunkenen Vater mehr Schläge als Liebe erfuhr, pfiffen schon die Spatzen von den Dächern. „Das arme Mädchen wird für die verdorbene Hose bestimmt wieder Schläge bekommen“, begrüßte sie den Knochenhauer und wies auf die kauende Grete, deren Blick nun vom Getümmel auf dem Marktplatz angezogen wurde.

„Ja, seitdem der August sich die teuren, englischen Stoffe nicht mehr leisten kann, achtet er umso mehr darauf, dass ihm das niemand ansieht. Nun auch noch die einzige gute Hose verdreckt – die Grete wird’s ausbaden müssen“, antwortete ihr der Knochenhauer knurrend. „Es ist schon ein Graus mit dem August. Ein Weib und sieben Kinder und er schafft ständig das Geld ins Wirtshaus.“

„Ach, der heutige Markttag ist kein Gewinn für uns, Meister Bernard“, lamentierte die Bäckersfrau. „Erst vergrault uns der Regen die Käufer und nun braut sich auch noch etwas auf dem Marktplatz zusammen. Seht Euch das an, Nachbar.“ Sie wies mit einer Handbewegung zum Stadttor, wo ein Ochsengespann von einer johlenden Schar halbwüchsiger Burschen verfolgt wurde. „So viele junge, kräftige Burschen. Sie werden wieder eine handfeste Schlägerei vom Zaun brechen und wir sind gezwungen, unsere Waren vor ihnen zu retten. Daran sind nur die Hugenotten schuld. Immer mehr Bürger der Gilde lassen ihre Söhne bei ihnen als Lehrlinge arbeiten. Und was kommt dabei heraus? Hanswurste, die glauben, die Welt verändern zu müssen.“

„Ach Gevatterin, warum seht Ihr immer so schwarz?“, versuchte sie der Knochenhauer zu bremsen. „Unsere Söhne lernen doch auch von den französischen Fabrikanten. Viele der jungen Burschen führen bereits eigene Manufakturen.“

„Aber unsere Burschen heiraten auch ihre Töchter! Gott sei Dank hat man dafür gesorgt, dass die Hugenotten einen eigenen Friedhof und eine eigene Kirche bekamen. Diese Leute leben in den Tag hinein, mögen kein Bier, nur Wein, essen nur Weizenbrot und trinken sogar zweimal des Tages Kaffee.“

„Ich habe etwas anderes gehört. Dass sie fleißig sind und unserem Kurfürsten Georg Ludwig gute Waren liefern, feine Stoffe, Spitzen, Bänder, gewebte Strümpfe und Seidenhüte. Aber sie sind auch Hitzköpfe, Gevatterin. Spiel- und Trunksucht greifen unter den Jungen immer mehr um sich. Sogar Duelle wie die hohen Herren liefern sie sich schon. Das kann einem schon zu denken geben.“

Die Bäckerin erinnerte sich wieder an Grete. Sie trat zu ihr, strich ihr übers Haar und seufzte: „Na, dem Herrgott sei Dank, gibt es noch Mädchen wie dich, Grete, hübsch anzusehen und sittsam. Du wirst einmal einen guten Mann finden.“ Aber da ihr nichts in der Stadt entging, galt ihre Aufmerksamkeit rasch wieder dem Fuhrwerk, das nun, umringt von der Menge, mitten auf dem Marktplatz stehen geblieben war. „Seht doch, Meister Bernard! Das ist ja Jürgen Meyers Gespann. Er führt etwas am Wagen mit. Es sieht aus wie ein Wolf.“ Neugierig reckte sie den Hals.

Der Knochenhauer warf einen mitleidigen Blick auf die Bäckerin und dann einen kurzen auf das Geschehen, während er Grete aufforderte: „Du solltest dich beeilen, dass du nach Hause kommst!“ Dann schwang er das Beil über einem Kotelettstück und antwortete der Bäckerin. „Wenn es ein Wolf ist, soll er ihn gleich zu mir bringen, damit ich Wolfslende aus ihm mache. Gestern Nacht hat so ein verfluchter Isegrim meine letzte Kuh gerissen.“

So schnell, wie der Regen gekommen war, so rasch riss nun die Wolkendecke wieder auf. Ein farbenprächtiger Regenbogen teilte den Horizont. Grete beobachtete so fasziniert das Schauspiel, dass sie die Worte des Knochenhauers überhörte und erst aufschreckte, als sie die Hand der Bäckerin auf ihrem Arm spürte. „Das müssen wir uns ansehen, Kind. So etwas erlebt man nicht jeden Tag.“

Grete sah verwirrt auf. „Was meint Ihr, gute Frau?“

„Na, das seltsame Tier am Fuhrwerk auf dem Markt. Es muss eine besondere Bewandtnis damit haben. Fast alle Burschen unserer Stadt sind seinetwegen auf den Beinen.“

„Das Mädchen wird Ärger bekommen, Gevatterin“, hörte Grete den Knochenhauer im Rücken, der es gut mit ihr meinte. Doch die Bäckersfrau hatte bereits nach ihrer Hand gegriffen und drängte sie zur Marktmitte. Grete folgte ihr zögernd, den Korb mit der Hose fest an sich gedrückt. Das Grölen der Burschen vor ihr ängstigte sie. Doch ihre Neugierde gewann die Oberhand und so folgte sie ihr trotz der Schelte, die sie erwartete. Sie hatte am Morgen kein Frühstück bekommen. Die Brezel der Bäckerin hatte ihren Hunger gestillt. Sie war es der Frau schuldig.

„Ich weiß nicht, ob der Vater es gutheißt, wenn ich ihn noch länger warten lasse …“, unternahm sie einen letzten Versuch den Weg nach Hause zu nehmen.

Doch die Bäckerin rauschte unbeirrt über das Pflaster, den Blick fest auf das Geschehen gerichtet. Während sie mit den Ellbogen Platz schuf, zerstreute sie Gretes Bedenken. „Hab keine Angst, Grete. Dein Weg führt dich doch sowieso hier vorbei. Dann kannst du den Vater wenigstens mit interessanten Neuigkeiten ablenken.“ Dabei entging ihr, dass sich das Mädchen von ihrer Hand losgemacht hatte und von der Menge abgedrängt wurde. Grete rief noch nach ihr. Doch ihre Worte gingen im Geschrei der Burschen unter. Den Korb an die Brust gedrückt, kämpfte sie sich nun allein durch die aufgebrachte Menge.

„Um Gottes willen, was ist das für ein Tier? Sie werden es noch umbringen“, dachte Grete laut und bekreuzigte sich, als sie bis fast vor die Füße der seltsamen Gestalt geschoben wurde. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf das verwilderte Geschöpf, das sie für einen verwunschenen Wolfsjungen hielt und das, wie ein Hund an das Fuhrwerk angebunden, sich verzweifelt gegen die Spötteleien und tätlichen Übergriffe wehrte. Rasch suchte sie Schutz in der Nähe eines der Wagenräder, wo sie tief Luft holte. Gleichzeitig beäugte sie mitleidig aber auch ängstlich den seltsamen Wolf, der den Körper eines Knaben hatte und der nur wenige Schritte vor ihr an seinen Seilen zerrte und bei jedem Stein, von dem er getroffen wurde, aufheulte. Der Anblick der geschundenen Kreatur und seine spitzen, gequälten Schreie gingen ihr nahe. Nur zu gut konnte sie sich in die Schmerzen und die Demütigungen hineinversetzen, die er erlitt. Mittlerweile war sie dem Knaben so nahe gekommen, dass sie diesen hätte berühren können, wenn sie es gewollt hätte. Doch sie zögerte, weil sein Verhalten sie gerade jetzt an ihren vierbeinigen Freund „Pepe“ erinnerte, der sich ähnlich verhalten hatte, als der Vater ihn in ihrem Beisein in einem Wutanfall erschlug, weil der kleine Mischlingshund es gewagt hatte ein Stückchen Brot vom Tisch zu stehlen. Der Wolfsknabe war splitternackt. Beschämt und zugleich nach Abhilfe suchend, sah sie sich um. Dabei kam sie ihm unvorsichtigerweise näher. In diesem Moment traf ihn ein Stein direkt an der Stirn. Er schüttelte sich. Durch die ungestümen Bewegungen teilten sich die Haare über seiner Stirn und ihre Blicke kreuzten sich. Für einen Moment schien es, als erstarrte er. Verwundert stierte er sie an, begann sie zu hypnotisieren. Sie sah die Verzweiflung und die Angst in seinen Augen. Am liebsten hätte sie ihm die Hose zugeworfen, damit er sich bedecken konnte. Das Geschrei der Burschen wurde immer dreister.

„Das soll ein Wolf sein? Ein Depp ist das. Seht doch, er ist splitternackt und schämt sich nicht einmal! Springt auf allen Vieren umher, dass man ihm zwischen die Backen sehen kann! Pfui, wie er stinkt!“

Die Menge wieherte. Man wollte sich ausschütten vor Lachen. Selbst als einige böswillig forderten: „Von solchen Deppen haben wir schon genug in der Stadt! Tötet den Idioten!“, ebbte der Lachsturm nicht ab. Aber auch ängstliche Rufe wurden laut. „Der Jürgen Meyer führt die Ausgeburt der Hölle mit sich! Steinigt sie beide!“

Vor Angst versuchte das Wolfskind, sich unter dem Wagen zu verstecken. Es schaufelte wie ein Maulwurf mit den Krallen in der Erde, sodass sie links und rechts von ihm aufspritzte. Meyer sah es und feuerte vom Bock aus einen Schuss in die Luft. „Macht Platz! Ihr seid die Idioten!“, brüllte er so laut er vermochte über die Köpfe hinweg und verschaffte sich Gehör, während der Knecht alle Hände voll zu tun hatte, einige besonders Mutige davor zurückzuhalten, das Fuhrwerk zu besteigen.

„Seht nur, was macht er denn jetzt? Der Tölpel küsst die Erde“, tönte es nach einem Moment der Stille aus der Menge der Unverbesserlichen. Schon bald erntete der vorwitzige Rufer neue Lacher, als er das Gehabe des Knaben possenhaft nachzuahmen begann. Dabei kam er dem Wilden einen Schritt zu nahe. Der Wolfsknabe stürzte sich auf ihn und riss ihm das Hemd über der Brust auf. Der Angegriffene war starr vor Entsetzen und auch die Burschen hinter ihm hielten den Atem an. Erst als Meyer wütend brüllte: „Lasst uns endlich durch, damit ich ihn ins Armenhaus bringen kann! Sonst rufe ich die Stadtwache“, endete das Spektakel.

Verhaltene Drohungen der um ihren Spaß gebrachten Jugend begleiteten das Fuhrwerk noch einen Moment, das sich nun langsam seinen Weg durch sie hindurch bahnte. Diesen Augenblick nutzte Grete, um dem Knaben die Hose zuzuwerfen. Doch gerade, als sie den Arm ausstrecken wollte, spürte sie einen eisernen Griff am Handgelenk. Als sie erschrocken aufblickte, sah sie in die verblüfften Augen des Vaters. Einem Reflex gleich, duckte sie sich, um eventuellen Schlägen zu entgehen.

Diese Unachtsamkeit nutzte der Knabe. Blitzschnell sprang er nach vorn auf die Hose zu, riss sie ihr aus den Fingern und biss ihr dabei in den Unterarm. Blut tropfte aus der Wunde und Grete schrie vor Schmerz auf. Der Knabe zog sich mit seiner Beute in den Schutz des Fuhrwerks zurück, beroch die Hose mit der Nase und zerfetzte sie dann wie ein Wolf mit den Zähnen.

„Hier finde ich dich also. Dein Ungehorsam wird dir noch leidtun“, hörte sie den Vater schimpfen und sah, wie er die Hand zum Schlag erhob. Schützend hielt sie den gesunden Arm über den Kopf. Doch die erwartete Strafe blieb aus. Stattdessen erklangen herrische Stimmen, und als sie vorsichtig unter ihrem erhobenen Arm hervorblinzelte, sah sie die Männer der Stadtwache, wie sie zu Pferd die Menge auseinandertrieben. Gleichzeitig ratterte eine Kutsche über das Pflaster und hielt neben dem Fuhrwerk. Eine Hand in einem Spitzenhandschuh winkte Meyer vom Fenster aus zu sich. Der Brauer sprang flink vom Bock und warf Johannes die Zügel zu.

„Was bringt Er uns da, Mann?“, schnarrte eine Stimme und Grete sah eine vogelartig gebogene Nase, zwei buschige Brauen und einen geschminkten Mund. „Einen Findling, den ich im Holz gefunden habe, Euer Ehren“, hörte sie Meyer mit einer Verbeugung antworten. Wie alle jungen Mädchen war Grete neugierig auf den hohen Herrn in der Kutsche und richtete sich auf, um besser sehen zu können. Da mit dem Eintreffen der Kutsche alle, selbst der Vater, eine unterwürfige Haltung angenommen hatten, fürchtete sie keine weiteren Schläge. Für einen Moment vergaß sie sogar den Vater und stellte sich auf die Zehenspitzen. Doch seine Pranke, wie eine Zange fest im Nacken, holte sie wieder auf den Boden zurück. Er roch nach Bier und knurrte leise: „Wirst du wohl unten bleiben und unserem Bürgermeister und dem Herrn Stadtschulzen die gebührende Ehrerbietung entgegenbringen, dumme Trine?“ Er drückte sie neben sich so tief zu Boden, dass sie mit der Nase fast den Boden berührte. An der Festigkeit des Griffes spürte sie, welches Vergnügen es ihm bereitete, sie die Macht spüren zu lassen, die er über sie besaß. Doch gerade, als sie glaubte vornüberzufallen, tauchten zwei blank gewichste Stiefel vor ihr auf und nun war es plötzlich der Vater, der neben ihr unterwürfig die Erde küsste.

„Will Er dem Mädchen das Genick brechen, Amtsaufseher Müller? Mein Gott, wie Er wieder nach Wirtshaus stinkt. Widerlich!“, schnarrte es über ihr und sie vermutete den Stadtschulzen, der den Knaben in Augenschein nehmen wollte. „Hat Er sich den Wilden schon mal angesehen, ob wir ihn im Spital unterbringen können?“, schnarrte es von neuem und Grete spürte, wie ihr Kinn angehoben wurde. Sie fühlte weichen Stoff an der Wange und atmete den Geruch eines süßlichen Parfüms ein. „Ist es Seine Erstgeborene?“

Grete sah in ein dickliches, von einer weiß gepuderten Perücke umrahmtes Gesicht. „Ja, Euer Ehren. Die Grete ist die Älteste von meinen sieben Kindern. Sie ist die Freude meines Alters, mein Augenstern, meine Rosenblüte.“

„Schneide Er nicht so auf, Amtsaufseher. Wir wissen, wie Er seine Kinder behandelt, dass sie mehr Dresche kriegen als seine Bediensteten. Aber schön ist sie. Soviel natürliche Anmut bekommt man nicht oft zu sehen. Was für zauberhafte, blaue Augen, die noch kindliche kleine Nase und ach diese vollen roten Lippen …“ Er verdrehte träumerisch die Augen. „Und alles ungeschminkt. Mit diesem Antlitz wird es die Tochter weit bringen. Wenn Er sie gut behandelt und gut verheiratet.“ Der Schmeichler zwinkerte Grete verschwörerisch zu, bevor er Meyer an seine Seite winkte und sagte: „Binde Er den Knaben vom Wagen los und gebe Er ihm ein Plätzchen im Heu oben auf dem Wagen. Dann kommt er auch schneller vorwärts.“ Darauf rief er in die Menge: „Der randalierende Pöbel entferne sich, sonst lasse ich den Platz mit Gewalt räumen!“

Nachdem seiner Anordnung unterwürfig Folge geleistet wurde, begab er sich zur Kutsche und rief Meyer beim Einsteigen zu: „Beeile Er sich! Wir fahren ihm voraus zum Spital, um den seltsamen Fund eingehend zu inspizieren!“

Das Wolfskind und der König

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