Читать книгу Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama - Страница 11

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Flucht

Grete war gerade eingeschlafen, als sie durch ein Poltern geweckt wurde. Erschrocken fuhr sie hoch und rieb sich völlig benommen die Augen. Auf ihrem Gesicht lag noch das Lächeln eines Traumes, dessen letzte Fetzen durch ihre Erinnerung schwebten. Sie sah den Kommissar in seinem schneidigen, schwarzen Rock, dem Dreispitz auf dem im Nacken zu einem Zopf geflochtenem Haar und den glänzenden, langen Stiefeln. Sah, wie er sich über sie beugte, und hörte seine schmeichelnden Worte. „Ich werde den wilden Knaben zum König machen. Und Sie werden seine Königin.“ An seiner Seite lächelte Peter sie an, ein hübscher kleiner Junge mit einer Perücke und in goldenen Kleidern. Gern hätte sie noch mehr davon erfahren und so ließ sie sich wieder auf den Strohsack fallen, um weiterzuträumen. Doch diesmal riss sie das Gebrüll des Vaters aus dem Bett. Sie war sofort hellwach. Rasch warf sie sich einen Umhang über die Schultern. Dann ergriff sie die verlöschende Kerze vom Tisch, blies in die Flamme, um ihr mit ihrem Atem neues Leben einzuhauchen, und stürzte zur Tür. Als sie sie ungestüm aufriss, um die Stufen in die Küche hinabzueilen, stolperte sie dem Vater direkt in die Arme. Nachdem sie sich von ihrem Schreck erholt hatte, kam sie nicht umhin, sich ein Lächeln zu verkneifen. Im Halbdunkel des Flures hätte sie ihn eher für einen Bettler gehalten, barfuß und nur im Hemd, in lose geschnürter Hose, mit der Laterne in der Hand. Aber nicht nur das. Er hatte sein gewohntes herrisches Auftreten verloren und kam ihr müde und hilflos vor. Außerdem vermisste sie den glasigen Schimmer in seinen Augen, was ihr verriet, dass er nicht betrunken war. Ohne seinen Freund, den Alkohol, war er unsicher und zu schwach, sich den Anforderungen des Lebens zu stellen. In solchen, viel zu seltenen Augenblicken hoffte sie auf seine Liebe. Hoffte immer noch nach so vielen Jahren. Schließlich war er ihr Vater. Den Kampf um die Liebe der oberflächlichen Mutter, die ihre Freier wechselte wie ihre Hemden, hatte sie längst verloren.

„Er ist weg“, hörte sie ihn stottern. „Du musst mir helfen, ihn zu suchen!“

„Der Knabe?“, entfuhr es ihr erschrocken und sie bereute es sofort, nicht noch einmal nach ihm gesehen zu haben. „Wie kann so etwas geschehen, Vater? Ich habe doch selbst gesehen, wie Ihr die Tür zu seiner Kammer verriegelt habt“, fragte sie bestürzt.

„Das habe ich auch. Aber der Wilde ist durch das Fenster geflohen. Grete, wir müssen ihn noch in dieser Nacht finden, bevor es andere tun“, flehte er. „Dir scheint er zu vertrauen. Oh, Herr im Himmel, bewahre mich vor dem Spott“, flehte er und bekreuzigte sich. „Der Bürgermeister hat bereits für seine Unterkunft bezahlt. Wie stehe ich nun vor der Obrigkeit da? Die ganze Stadt wird über mich lachen.“

Das war es also. Der Vater fürchtete sich davor, sich lächerlich zu machen. Der kleine Funken Hoffnung, dass er aus Liebe zu ihr gekommen war und sie deshalb brauchte, starb so schnell, wie er aufgeflammt war. „Aber Herr Vater, Ihr habt doch vor den Herren geprahlt, dass kein Bär aus dieser Höhle herauskäme, geschweige denn ein kleiner Junge. Wo sollen wir ihn denn jetzt suchen? Der Morgen graut bereits. Er befindet sich vielleicht schon lange außerhalb der Stadttore.“

„Du gehst zum Stadtschulzen am Markt und fragst nach dem Herrn Burchardy. Er schien mir der Fähigste von den Herren zu sein. Bring den Kommissar unter einem Vorwand dazu, dir zu vertrauen. Nur verrate ihnen nicht die Wahrheit. Ich gehe ins Wirtshaus und frage dort nach dem Knaben.“

„Ins Wirtshaus? Aber da ist doch jetzt kein Mensch. Ihr sucht nur wieder nach einem Vorwand zu trinken, Vater. Um Peter aufzuspüren, müsst Ihr bei klarem Verstand sein. Sollte er sich noch in der Stadt befinden, irrt er sicher ziellos durch die Straßen. Die Bettler und Diebe werden ihn für einen Wolf halten und erschlagen.“ Sie war vorsichtshalber einen Schritt zurückgetreten. Denn dem Vater widersetzte man sich nicht. Doch die Sorge um den Jungen machte sie mutig.

„Widersprich nicht, Tochter! Du wirst gefälligst das tun, was ich dir befehle!“, antwortete er und zog sie sogleich hastig hinter sich her die Stufen hinab in den Keller. „Hier sieh, was er fertiggebracht hat!“, sagte er, als sie in seiner Kammer standen. Die Bretter lagen zerbrochen auf dem Fußboden, während die Nägel aus ihnen herausgerissen und geradegebogen zum Teil noch im Holz steckten. Der Vater zog sie zu sich herunter und leuchtete jeden einzelnen Nagel ab. „Siehst du das! So etwas macht kein Tier und auch kein Irrer. Was glaubst du? Hat er uns zum Narren gehalten?“

Grete staunte und wog einen der rostigen Nägel in der Hand. Er war so lang wie ihr Zeigefinger und fühlte sich schwer an. „Aber er ist doch noch ein Kind“, murmelte sie und versuchte sich gerade vorzustellen, wie der Knabe die rostigen Nägel auseinanderbog, als der Vater sie bereits wieder vor sich her zur Tür schubste.

„Komm schon! Maulaffen feilhalten bringen ihn uns nicht wieder! Schirr das Pferd an. Ich habe es mir anders überlegt. Wir fahren erst zum Wirtshaus und anschließend gemeinsam zum Stadtschulzen. Sonst verplapperst du dich noch.“

„Aber Vater …“

„Geh und gehorche!“, zischte er, während sich seine Augen verengten. Grete wusste, dass es besser war, sich zu fügen. Sie zäumte auf dem Hof rasch das Pferd auf, während er hastig den Rock überwarf und die Taler in seinem Geldbeutel zählte. Insgeheim hoffte sie, ihn auf dem Weg zum Wirtshaus mittels weiblicher List zu überzeugen, zuerst den Stadtschulzen aufzusuchen. Bei dem Gedanken an den schneidigen Kommissar überflog ein Lächeln ihr Gesicht. Seine Schmeicheleien waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen und sie erinnerte sich an ihren kurzen aber schönen Traum.

Müller lenkte das Gespann durch die Altenmarktstraße und umfuhr geschickt mehrere Schlammlöcher. Mit vorgebeugtem Hals achtete Grete derweil auf jedes noch so kleine Lebenszeichen von Peter. Die dunklen Gassen zwischen dem Armenhaus und der Schule der Hugenotten, wo es viele Versteckmöglichkeiten gab, prüfte sie besonders eingehend. Ängstlich lauschte sie dem Bellen eines Hundes und dem Pfiff eines Diebes. Bei den Patrizierhäusern der Glaubensflüchtlinge aus den Provinzen Languedoc, Champagne, Lothringen und Burgund, die es mit Fleiß und Sparsamkeit zu Wohlstand gebracht hatten, wäre sie beinahe vom Bock gefallen. Scharf lenkte der Vater das Fuhrwerk nach rechts auf ein Steinhaus mit verkröpften Gesimsen und steinernen Putten zu. Die großen Rundbogenfenster des Gebäudes wirkten in der Dunkelheit wie riesige schwarze Löcher.

Grete sah den Vater fragend an, als er das Pferd vor dem Eingang zügelte und vom Bock kletterte.

„Komm schon!“, befahl er ihr und reichte ihr die Hand, als er sah, dass sie zögerte. „Keine Bange, hier gibt es kein Bier. Das hier ist ein Kaffeehaus. Es gehört dem Hugenotten Jacques Recolin. Vielleicht hat er etwas von dem Wilden gehört“, erklärte er.

„Aber das Haus ist dunkel. Hier ist niemand.“ Ungläubig sah sie ihn an und blieb abwartend neben dem Fuhrwerk stehen.

Müller grinste geheimnisvoll. Dabei verschwand die Härte aus seinem Gesicht. Er wirkte fast wieder so unbeschwert wie früher, als er sie noch auf den Armen umhergetragen hatte. „Jedes Haus hat auch einen Hintereingang.“

Er griff nach ihrer Hand und zog sie an zwei steinernen Löwen vorbei zur Hinterseite des Gebäudes. Hier war es so dunkel, dass sie ihn neben sich nur als Schatten wahrnahm, als er leise erklärte: „Der Wirt vom Kaffeehaus hat versucht mit Cabaret, Karten- und Billardspielen reich zu werden. Doch das Billardspiel fand zu viele Freunde unter den Herren Offizieren und Kolonisten. Deshalb beschlagnahmte der Magistrat den Billardtisch und schloss das Kaffeehaus wegen Verschwendung und Völlerei. Bis dahin war das Haus voller Leben und in der Franzosenstraße der Stern von Paris gewesen. Der Magistrat musste also mit der Empörung der Offiziere rechnen. Das zwang ihn, einzulenken. Alsbald wurde es wieder geöffnet, allerdings nur bis zehn Uhr abends und auch das nur für die Bürger, die hier Kaffee trinken und ihre Zeitung lesen.“

„Und woher kennt Ihr das Kaffeehaus, Vater?“

„Dumme Frage …“, erwiderte er. „Dein Bruder geht doch bei dem französischen Leineweber in der Fabrik gegenüber in die Lehre.“ Grete erinnerte sich, dass der jüngere Bruder sich gern vor ihr brüstete, in was für einer großen Manufaktur er arbeitete und dass sich der gesamte hannoversche Hof, einschließlich des Kurfürsten, in seines Meisters Stoffe kleidete.

Die Uhr hoch oben im Turm der Franzosenkirche schlug vier Uhr. Für viele Hamelner Bürger begann jetzt bereits ein neuer Arbeitstag mit neuen Sorgen und Entbehrungen, während Grete die Morgenkälte durch die müden Glieder kroch. Sie zog unbewusst den Schal fester um die Schultern. Der Vater klopfte zweimal kurz an die Tür. Offenbar ein verabredetes Zeichen. Gleich darauf drangen leise gesprochene französische Wortfetzen an ihr Ohr und hinter einem der Fenster flackerte ein Licht. Hinter der Tür erklangen Schritte.

„Qui est là?“, erklang es leise durch den Türspalt.

„Lass den Quatsch. Ich bin es, August Müller“, zischte der Vater leise. „Nun öffne schon, Alexandre!“

Ein kleines Männlein in einer Schürze vor der hautengen Culotte aus braunem Samt schob seinen dürren Körper durch den Spalt. Vorsichtig mit erhobener Nase, wie ein witternder Hund, durchforschte er die Dunkelheit und sah sich nach beiden Seiten ängstlich um. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass die Luft rein war, zog er Müller hastig in den Flur.

„Du hast ein Weib mitgebracht“, knurrte er und warf einen scheelen Blick auf Grete.

„Das ist meine Älteste. Ich musste sie mitnehmen. Es geht um mein Leben“, antwortete Müller, während sie dem Zwerg über eine versteckte Treppe in die unteren Kellerräume folgten.

Sie durchquerten ein schwach beleuchtetes Gewölbe und blieben endlich vor einer Doppeltür stehen. Durch den Spalt am Boden schimmerte Licht. Leise Musik war zu hören. „Seltsam, dass es immer um dein Leben geht, wenn du mal bei mir vorbeischaust“, bemerkte der Zwerg ironisch und öffnete die Tür. „Na dann, mon ami, stärke dich erst mal. Ich hoffe, du kannst heute Nacht bezahlen“, krächzte er und forderte ihn mit einer einladenden Geste auf einzutreten.

Das Erste, was Grete sah, waren die bunten Uniformen der Offiziere in einem lang gestreckten Saal. In leicht gebeugter Haltung umstanden sie einen mit einem grünen Tuch bespannten Tisch und bewegten farbige Kugeln mittels eines langen Stockes. Aus den dunklen Nischen der zwei Seitenflügel erklang Frauenlachen. Wohlhabende Kolonisten und Kommandanten der Festungsmauer schlürften dampfenden Kaffee aus winzigen Porzellantassen. Einige prosteten sich mit Wein aus Kristallkaraffen zu. Sie rauchten fremdländischen Tabak in zierlichen Pfeifen und spielten mit ihren Damen an kleinen Tischen aus geschwungenen Zargenrahmen Karten. Barocke Fresken über dem Schanktisch zeigten einen stattlichen Osmanen neben Amor in Kindergestalt. Sie überreichten sich eine Schale Kaffee. Ein bildhaftes Symbol dafür, dass der Kaffee ein Kulturgeschenk des Morgen- an das Abendland sein sollte. Die riesigen, goldenen Kronleuchter in dem Saal brannten auf Sparflamme und warfen ihr trübes Licht von den goldfarbigen Tapeten zurück.

Grete glaubte sich in einem Palast zu befinden, obwohl es doch nur ein Kaffeehaus war, und blieb wie gelähmt an der Tür stehen. Beim Anblick solcher Herrlichkeit verstand sie, warum der Vater sich betrank und in ihrer bescheidenen Behausung mit einem zänkischen Weib und sieben Kindern nicht leben wollte. Etwas beklommen zupfte sie den Vater am Rockschoß. „Niemand wird uns hier bei unserer Suche helfen. Wir gehören nicht an diesen Ort.“

„Dumme Trine“, zischte Müller leise über die Schulter. „Lass mich nur machen und halte den Mund.“ Ohne sie weiter zu beachten, griff er nach dem Krug, den ihm der Wirt über den Tisch aus Marmor schob. Doch der hielt ihn einen Augenblick fest und sah Müller ernst an. Dann wies er mit einer Kopfbewegung auf Grete. „Ich kann dir doch vertrauen, dass sie nichts weitererzählt? Sie ist immerhin ein Weib und die sind bekanntlich schwatzhaft.“

„Keine Bange. Reich mir lieber gleich noch ein Maß von dem köstlichen Getränk rüber. Auf einem Bein kann man bekanntlich schlecht stehen. Sie wird nichts sagen, dafür werde ich schon sorgen“, beruhigte ihn Müller und wies auf die Peitsche in seinem Gürtel. „Das hier hat schon Wunder bewirkt.“ Er setzte den Krug an die Lippen, trank ihn in einem Zug leer und wischte sich mit dem Handrücken genüsslich über den Mund. „Ein feiner Tropfen ist das, Alexandre. Besser als das Gesöff, das du am Tag in den Vorderstuben ausschenkst. Kann schon verstehen, dass du Furcht vor dem Magistrat hast. Aber weshalb ich gekommen bin … Es geht um den Wilden. Hast du etwas davon gehört?“

„Natürlich. Die ganze Stadt spricht davon, dass der Wolf, den der Bürger Meyer gefunden haben soll, zu dir ins Spital gebracht wurde“, antwortete der Wirt und schob, geschmeichelt durch Müllers Lob, den dritten Humpen über den Tisch. Grete sah es mit Besorgnis.

„Es ist kein Wolf, Alexandre, sondern ein verwildertes Kind, und es ist mir entlaufen. Ich dachte, ich erfahre etwas von dir, wo ich nach ihm suchen könnte.“

„Hier, in meinem Kaffeehaus …?“ Der Franzose sah Müller ungläubig an und überlegte einen Moment. Dabei streichelte er nachdenklich seinen bemerkenswerten Spitzbart, bevor er misstrauisch feststellte: „Ist es nicht vielleicht die Angst vor dem Magistrat, dem du das Geld zurückzahlen musst, wenn der Wilde weg ist? Gib es zu, du bist nur gekommen, um es in meinem Spielsalon zu versaufen.“

Müller nickte zustimmend und grinste über das ganze Gesicht. Er begann bereits zu lallen. „Was ich nicht mehr habe, kann ich nicht zurückgeben. Aber vielleicht weiß ja doch von einer von deinen Offizieren etwas über das Kind.“

Der Wirt zögerte und sah Müller merkwürdig an. So richtig schien er dem Freund nicht zu trauen. Doch dann gab er sich einen Ruck und rief laut in den Saal: „Meine Herren, das wölfische Kind ist in Hamelns Straßen auf der Flucht. Ist ihm vielleicht jemand auf dem Weg hierher begegnet?“

Langeweile und Überdruss standen auf den übernächtigten Gesichtern, als sie kurz von ihrer Beschäftigung aufblickten. Das Ergebnis war ein allgemeines Schulterzucken neben leisem, unverständlichem Murren und einem mitleidigen Lächeln. Ebenso rasch war ihr Interesse verflogen und sie vertieften sich wieder in ihr Spiel. Nur einer erwiderte grinsend: „Den Wilden haben sie sicher längst erschlagen.“

„Vater …“ Grete zupfte Müller erneut an den Rockschößen. Sie betrachtete die Reaktion im Saal mit Besorgnis. Noch mehr aber machte ihr der Vater Angst, der nun zur vierten Kanne griff und den eigentlichen Grund, weshalb sie hier waren, wohl längst vergessen hatte. Doch noch bevor sie dazu kam, ihn an Peter zu erinnern, trat ein Mann aus einer der Nischen auf sie zu. Er hatte die Szene gut getarnt hinter einem Pfeiler beobachtet und fühlte sich nun angesprochen einzugreifen.

Grete erschrak zunächst, als er sich höflich über ihre Hand beugte. Doch dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht und die Freude über sein unerwartetes Auftauchen trieb ihr die Röte in die Wangen. „Sie, Herr Kommissar Burchardy?“, entfuhr es ihr überrascht.

„So unverhofft trifft man sich wieder, mein schönes Kind“, hauchte er und fügte etwas leiser, nur für sie verständlich hinzu: „Wollen Sie mich nicht Aristide nennen?“, und führte ihre Hand wie die einer Dame an seine Lippen, wo er sie ein wenig zu lange küsste. Grete schmolz dahin und hörte kaum noch auf das, was er sagte. Fasziniert tauchte sie in die männlichen Züge ein, von denen sie sich in ihrer keuschen Vorstellung nicht nur Hilfe, sondern auch ein wenig die Erfüllung ihrer heimlichen Träume versprach.

„Ich befinde mich inkognito hier. Die Arbeit, Sie verstehen?“, log er, als er die Verwunderung in ihren blauen Augen sah. „Aber dass ich Sie hier im Spielsalon zu dieser Stunde treffen muss, an einem Ort, der so gar nicht zu einem jungen Mädchen passt … damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet.“

Da die Zeit drängte, machte sie sich keine Gedanken darüber, was den Kommissar zu so früher Stunde in das zweifelhafte Etablissement getrieben hatte. Stattdessen vergaß sie, was sie dem Vater versprochen hatte und erwiderte ohne Umschweife: „Welche glückliche Fügung. Sie sind mein Retter in der Not, Herr Burchardy. Der wilde Knabe ist aus seiner Kammer verschwunden. Bitte helfen Sie mir, ihn wiederzufinden!“

„Über diese Neuigkeit bin ich bereits informiert“, lächelte er. „Aber mit Ihrem Vater steht es wohl nicht mehr zum Besten. Er wird uns keine große Hilfe dabei sein.“

Müller hatte sich bei der Nennung seines Namens erhoben. Den Krug noch an den Lippen versuchte er einen Kratzfuß, ging jedoch schwankend in die Knie. Der Kommissar beugte sich über ihn und reichte ihm die Hand zum Aufstehen. Doch kaum stand er wieder auf den Füßen, als er erneut zusammenbrach.

„Es hat keinen Sinn“, stellte Aristide fest und schüttelte vor Grete verständnisvoll den Kopf. „Kommen Sie! Vielleicht können wir das Schlimmste noch verhindern. Die Stadttore sind um diese Zeit alle geschlossen. Der Knabe befindet sich sicher noch in der Stadt.“ Schnellen Schrittes begleitete er sie zur Tür hinaus.

Auf der Straße pfiff er nach der Kutsche und half Grete rasch hinein. Bevor das Gespann sich polternd in Bewegung setzte, befahl er dem Kutscher, jede Ecke und jeden Winkel mit den Augen abzusuchen. „Wir werden ihn finden, ich verspreche es, Jungfer“, beruhigte er Grete, die keinen Blick vom Fenster wandte.

Nach einer Weile ziellosen Suchens fragte er sie plötzlich leise: „Haben Sie nicht bei dem Knaben etwas gefunden, was auf seine Herkunft schließen könnte? Einen Fetzen Kleidung vielleicht? Ich dächte, er hätte so etwas um den Hals gehabt?“

Grete wandte ihm ohne Argwohn das Gesicht zu und wollte gerade beginnen, von dem Hemd zu erzählen und dem, was sie entdeckt hatte, als der Kutscher vom Bock herabrief: „Da vorn ist etwas, Euer Ehren, bei der Fischpforte!“

Mit einem Mal waren die Gestalten der Nacht, die Bettler, Diebe, Katzen und streunenden Hunde, die das einsame Gespann auf seinem Weg durch die Straßen begleitet hatten, wie vom Erdboden verschwunden. Die Straße vor ihnen öffnete sich und der Kutscher hielt auf eine Gruppe Gestalten zu, die sich mit Fackeln vor der alten Getreidemühle verdächtig machten.

„Treib sie mit der Peitsche auseinander!“, rief ihm der Kommissar zu und tätschelte Gretes Hand. „Ich glaube wir haben Glück. Es sieht so aus, als ob sich da etwas im unteren Wehr verschanzt hat. Möglich, dass der Gesuchte dort Schutz vor dem Pöbel sucht.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr! Hoffen wir, dass er es ist!“, antwortete Grete und wartete nicht ab, bis die Kutsche anhielt. Als sie langsamer wurde, sprang sie zur Tür hinaus auf die Straße und boxte sich mit den Ellbogen bis an das massive Gerinne heran, welches die Wasserzuführung zu den Mühlenrädern sicherte. Zwischen den zwei unterschlächtigen Rädern glaubte sie, den wilden Haarschopf des Knaben zu erkennen. Er konnte jeden Moment zwischen den gewaltigen Schaufeln zermalmt werden. Schaulustige schauten von oberhalb der Wehr herab und warfen lachend und witzelnd mit Steinen nach ihm.

„Seid ihr verrückt geworden? Seid ihr Christen oder Tiere? Das ist doch noch ein Kind!“, schrie sie, während sie sich auf die Knie niederließ und in das Dunkel der Wehr rief: „Peter, ich bin es! Grete!“, in der Hoffnung, dass der wilde Knabe sich an sie erinnerte und ein Lebenszeichen von sich geben würde.

Ein Krächzen, das wie ein heiseres Bellen klang, war die Antwort, dann ein Plätschern und dann Stille. Noch standen die gewaltigen Räder still. Noch leitete der Freifluter am Gerinne das Wasser am Rad vorbei. Doch den schaulustigen Bettlern, Tagelöhnern und Bauern auf dem Weg zu ihrer Arbeit war das ungewöhnliche Spektakel eine willkommene Abwechslung. Der Müller, ein großer, bärtiger Mann, hatte die Hand mit der Axt erhoben. Er schien sich in der Pose des Henkers zu gefallen und kostete dieses Gefühl vor den ihn anfeuernden Leuten aus. Nach dem kurzen Augenblick der Eitelkeit würde er den Riegel an der Klappe zur Schutzwehr öffnen und die gewaltigen Mühlräder würden mit Getöse ihre Tätigkeit aufnehmen.

„Haltet ein!“, schrie Grete und rannte gegen den Mann an, um ihm das Werkzeug zu entreißen. Doch der versetzte ihr einen Tritt und stieß sie in die Arme von Meister Bertram. Für einen Moment starrte sie den Knochenhauer an wie eine Erscheinung. Dann rang sie die Hände vor ihm: „Was hat der Junge Euch denn getan, Meister Bertram?“ Die Begegnung am Morgen fiel ihr ein und sie hoffte, dass ihn ihre Tränen erweichen würden.

„Was suchst du zu dieser Stunde hier, Grete?“ Bertram zeigte sich erstaunt und zögerte einen Moment, bevor er ihr antwortete: „Es ist doch nur ein Wolfskind und es hat mir Fleisch gestohlen!“

„Das stimmt nicht. Es mag kein Fleisch. Bitte helft ihm! Der Müller darf ihn nicht töten. Peter steht unter dem Schutz des Bürgermeisters.“

„Peter …?“

Meister Bertram stutzte, bevor er bedauerte: „Ich kann ihm nicht helfen, Grete. Niemand kann das. Er wird nicht freiwillig aus seinem Schlupfloch herauskommen. Da ist es schon besser der Müller erspart ihm einen qualvollen Tod. Oder möchtest du zu ihm hinunterklettern und ihn herausholen?“ Grete sah den Knochenhauer betreten an. Daran, dass Peter sich nicht freiwillig retten lassen würde, hatte sie nicht gedacht. „Siehst du, von dem Wilden lädieren lassen möchtest du dich auch nicht“, bemerkte er, als er von dem Müller unterbrochen wurde.

„Er hat recht, Jungfer. Steh uns nicht weiter im Weg. Ich ersäufe den Wolf und damit basta. Außerdem, sieh an, was dieses wilde Tier angerichtet hat. Allein das berechtigt uns, es zu ersäufen, bevor es noch mehr Unheil anrichtet.“

Der Müller zog einen ungefähr siebenjährigen Jungen aus der Menge und schob ihn zwischen Grete und den Knochenhauer. Der Knabe wankte und drohte hinzufallen. Ein Weib stürzte herbei und presste ein Stück Stoff auf eine tiefe Wunde an seinem Hals, die gefährlich nahe bei der Kehle lag.

„Sieh dir die Wunde genau an, Jungfer. Wie der Teufel ist der Menschenwolf über das Kind hergefallen“, brummte der Müller. „Ich töte bestimmt keine Kinder, aber das hier ist keins. Außerdem müsste das Korn schon längst gemahlen werden. Seinetwegen stehen die Räder still. Der Wilde wird sein Versteck nicht verlassen.“ Er ließ sie stehen und hob erneut den Arm mit der Axt. Grete sah sich hilflos um. Doch in den versteinerten Gesichtern fand sie kein Mitleid. Da erklang rechtzeitig die kräftige Stimme des Kommissars in ihrem Rücken und sie atmete erlöst auf.

„Ein Kind wurde gebissen. Nun gut. Aber was sucht es überhaupt zu dieser Zeit auf der Straße? Müller, Er weiß doch sicher, dass Kinderarbeit zu so früher Stunde verboten ist. Habe ich Ihn nicht erst vor einer Woche verwarnt, weil Er das Korn auf seinem Getreideboden, auf dem ein erwachsener Mann nicht einmal gebückt arbeiten kann, von Kindern in die Mühle schaufeln lässt? Und nun betreibt Er auch noch Lynchjustiz? Dass das ein Verbrechen ist und Er sich vor dem ehrenwerten Gericht verantworten muss, ist Ihm doch bekannt.“

Noch unerfahren in der Liebe sog Grete jedes Wort des Kommissars in sich auf und hing mit einer grenzenlosen Verehrung an seinen Lippen. Noch nie hatte ein Mann sich so ritterlich für sie eingesetzt, sie überhaupt wahrgenommen. Ohne dass sie es selbst gewahr wurde, umspielte ein Lächeln ihre Lippen und ihre Augen strahlten ihn an, als er sich zu dem verletzten Kind hinabbeugte, ihm ins Gesicht leuchtete und es fragte: „War es wirklich dieser wilde Knabe oder hat dich nicht vielleicht ein Hund beim Stehlen erwischt und dich gebissen?“ Dabei wanderte sein Blick geringschätzig über die Lumpen, in die der Junge gehüllt war, bevor er sich fest in dessen Augen bohrte. Der Junge bekam es mit der Angst zu tun, entzog sich seinem Griff und verschwand rasch in der sich auflösenden Menge.

Vielleicht hatte Peter Gretes Schreie gehört, vielleicht aber hatte er sich auch nur aus panischer Angst an das Schaufelrad geklammert, das ihn nun nass wie eine Katze nach oben beförderte. Der magere Körper zitterte vor Kälte. Aufgrund der durchgestandenen Strapazen schien er so kraftlos, dass er drohte, wieder ins Wasser zurückzufallen. Die Männer mussten sich beeilen, ihn vom Rad zu ziehen. Zu ihrer Verwunderung ließ sich der Wilde widerstandslos von ihnen packen und in einen Sack stecken. Der Morgen graute bereits, als er im Kutschkasten der herzoglichen Kutsche des Kommissars ins Armenhaus zurückgebracht wurde.

Das Wolfskind und der König

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