Читать книгу Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama - Страница 12

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Ermittlungen

Nachdem Aristide Burchardy den Knaben im Armenhaus abgeliefert und sich davon überzeugt hatte, dass er seinem Gefängnis nicht gleich würde entfliehen können, befahl er dem Kutscher noch einmal zur Schleuse zu fahren. Eigentlich hatte er vorgehabt den verlorenen Schlaf der vergangenen Nacht nachzuholen. Doch als die Morgensonne langsam zwischen den vom Frühnebel verschleierten Bergkämmen hervortrat und einen warmen Sommertag versprach, fand er den Morgen zu schön, um ihn zu verschlafen. An der Brücke zum unteren Wehr am Werder, dort wo der Bau der neuen Schleuse geplant war, war es am Vortag zu einem Streit zwischen einem Arbeiter und einem protestantischen Emigranten aus Salzburg gekommen. Der Unterlegene wurde von dem Sieger angeblich in eines der beiden Schöpfräder gestoßen. Da nicht nachzuweisen war, ob es der Fausthieb seines Gegners oder die massigen Radarme waren, die ihn vom Leben in den Tod befördert hatten, oder ob er einfach nur von den Wasserkübeln erschlagen worden war, hatte Burchardy den Auftrag bekommen, Ermittlungen anzustellen. Denn so mancher vom Zaun gebrochene Streit, der die Arbeiten an der Schleuse hinauszögerte, wurde von Intriganten aus dem Hintergrund geschürt. Immerhin hatten die Schiffer viereinhalb Jahrhunderte an der Fischpforte anhalten und ihren pflichtgemäßen Zoll an die Stadt bezahlen müssen. Diese einträglichen Geschäfte wollte die Stadt nicht verlieren, weshalb sich zahlreiche Hamelner Bürger gegen diesen Neubau der fürstlichen Landesherrschaft wehrten. Doch das Wasser der Weser strömte mit solcher Heftigkeit durch den holzverschalten Durchlass im unteren Wehr neben der Pfortmühle, dass es zu einem der schlimmsten und gefährlichsten Schifffahrtshindernisse wurde. Diese Gefahr wollte nun die kurfürstliche Regierung mindern und stieß dabei auf Gegner, denen jedes Mittel recht war, die freie Weiterfahrt der Schiffe zu verhindern.

Der Kommissar hoffte, den Vogt, der mit den Plänen zum Bau der Schleuse auf dem Werder betraut war, an dem Wehr anzutreffen. Er hatte Glück. Der Beamte überwachte gerade die beginnenden Erdarbeiten zu der neuen Schleusenkammer. Aristide traf den Vogt auf der Brücke in der Gesellschaft des Hamelner Sägemüllers, dessen untrügliches Erkennungszeichen ein lautes Mundwerk, lange Lederstiefel, sowie sein weiter Mantel und der große dunkle Hut waren. Die beiden Männer inspizierten die erste von vierundzwanzig imposanten Pumpen, die von zwölf Pferden über die Brücke gezogen wurde.

„Nun, Sägemüller. Wie es aussieht, wird es wohl bald ernst. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr den Bau leiten werdet“, begrüßte ihn Burchardy.

„Ach, Aristide. Das kann sich noch ein paar Jahre hinziehen. Der Premierminister des Königs hat die Pläne und Kosten leider immer noch nicht bewilligt. Aber es ist gut, dass Ihr kommt.“

„Meint Ihr den Premierminister des Königs oder des Prince of Wales, unseres Möchtegernkönigs?“ Burchady grinste zweideutig.

„Wie konnte ich sie nur vergessen, die Streitigkeiten zwischen Vater und Sohn. Da vergisst man schon mal, wer regiert“, lachte der Sägemüller zurück. „Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass König Georg Ludwig und sein Sohn Georg August sich irgendwann wenigstens in dieser Angelegenheit einig werden. Schließlich wollen sie doch beide die Schleuse.“

„Ihr kommt wegen des Vorfalls?“, fragte der etwas dickliche, unter seiner Perücke schwitzende Vogt mit einem mürrischen Seitenblick auf den hochgewachsenen Kommissar.

„Ja, Euer Ehren, die Streitigkeiten unter dem Arbeitsvolk gehören in meinen Ermittlungsbereich.“

„Ihr könnt dem Geheimen Rat in Hannover mitteilen, die Angelegenheit hat sich von allein erledigt. Sie liegt jetzt in den Händen der städtischen Polizei. Diesmal ging es nur um ein Weib und zwei Hitzköpfe. Keine Ränkespiele, keine Intrige!“

Burchardy deutete eine kurze Verbeugung an und sagte: „Das zu erfahren wird der kurfürstlichen Regierung eine Freude sein.“

Im Angesicht der neuerlichen Umstände auf keine weiteren Gespräche eingestellt, lüftete er grüßend den Hut und schickte sich an, die Brücke wieder zu verlassen, als der Sägemüller wie beiläufig in seinem Rücken fragte: „Ermittelt Ihr auch im Fall des wilden Knaben? Ich habe Euch gesehen, am Wehr bei den Mühlrädern.“

Burchardy kam noch einmal zurück und drehte ihm interessiert das Gesicht zu. „Nein, ich war eigentlich nur ein zufälliger Beobachter. Warum fragt Ihr?“

„Unter den Leuten in der Stadt kursieren ja allerlei Gerüchte um das wilde Kind. Habt Ihr eine Vermutung, woher es kommen könnte?“

„Nein!“ Burchardy schüttelte den Kopf. „Aber als fürstlicher Beamter sollte ich dem vielleicht nachgehen.“

„Da kann ich Euch gleich einen gut gemeinten Hinweis geben. Am Westufer des Sollings, in einem alleinstehenden Wirtshaus in Lüchtringen, da wo die Schiffer auf dem Weserstrom ihre Ablagen und Ruhestunden halten, hat der Wirt zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen gehabt. Sie sollen dumm, stumm und ungebärdig gewesen sein, wie der Wilde. Der Junge ist dann irgendwann in den Wald entlaufen. Einer meiner Schiffer will im Vorjahr, im Sommer, den Knaben nackt am Flussufer unterhalb von Polle gesehen und ihn mit Brot beschenkt haben.“

„Ihr haltet den Wilden also für einen entlaufenen Irren?“ Burchardy war nicht anzusehen, was hinter seiner Stirn vorging. Er lächelte zweifelnd. „Dann handelt es sich bei dem Jungen sicher nicht um den von Müller gefundenen Knaben. Denn der Wilde verweigert Brot und scheint mir sehr intelligent beim Ausbrechen. Aber ich danke Euch für den Rat. Vielleicht ist an der Sache ja etwas dran. Allerdings“, fügte er hinzu und konnte nicht umhin, hinter vorgeschürzter Hand ein wenig vor ihm anzugeben, „vermute ich hinter dem Auftauchen des Knaben einen viel bedeutenderen Hintergrund. Einen, der eventuell in die höchsten Kreise reicht. Sollten sich meine Vermutungen bestätigen, gäbe das einen Skandal nie gekannten Ausmaßes.“

Der Sägemüller bekam große Augen. „Was meint Ihr mit ‚höchste Kreise‘? Den königlichen Hof? Tragt Ihr da nicht ein bisschen dick auf? An was denkt Ihr? An des Königs Mätressen? Die britischen Zeitungen schreiben ja tagtäglich über die beiden Damen und das nicht gerade sehr rühmlich. Jetzt behaupten sie sogar, der König teile sein Bett mit seiner Halbschwester. Die andere, die Melusine, nennt man eine hässliche Schlampe. Ihre Kinder werden als ‚königliche Bastarde‘ betitelt. Seine Geschiedene, die Prinzessin von Ahlden, wird dagegen wie eine Heilige verehrt. Sie sei von ihrem Gatten gnadenlos in die Verbannung geschickt worden, damit er ungehemmt seine Geliebten besteigen könne. Lasst mich raten – Ihr wollt denen diesen wilden Bastard unterjubeln. Einen, den sie in aller Heimlichkeit haben verschwinden lassen. Aber wenn es nicht stimmt, könnte Euch das auch den Kopf kosten.“

„Wie ich höre, lest Ihr die britischen Zeitungen?“ Burchardy zeigte sich nicht erstaunt und grinste spöttisch.

„Natürlich nicht. Ich kann ja kein Englisch. Aber mittlerweile gibt es auch bei uns genügend Übersetzungen und namhafte Schriftsteller, die sich dieser Schmiertexte angenommen haben. Neulich habe ich gelesen, die Briten bezeichnen Georg als ‚deutschen Rattenkönig‘. Seit seiner Krönung zum englischen König im Jahre 1714 würde er das britische Land ausplündern. Er wäre in Gedanken nur in Hannover, führe Eroberungskriege auf unsere Kosten und seine beiden Gespielinnen wären noch schlimmer als er selbst. Sie würden sich die Landsitze einen nach dem anderen unter den Nagel reißen. Wer beim König eine Audienz will, muss erst an ihnen vorbei, und das geht nicht ohne ein gehöriges Bestechungsgeld.“

„Ihr seid ja recht gut informiert“, sagte Burchardy jetzt mit zweifelnder Miene. „Habt Ihr denn schon mal versucht, vorgelassen zu werden?“

„Ihr beliebt wohl zu scherzen. Leute wie uns beachtet dieser eingebildete Hof erst gar nicht. Aber zum Bezahlen ihres höfischen Protzes sind wir gut genug. Ich würde es begrüßen, wenn der Wilde diesen eitlen, verschrobenen Adel mal richtig aufmischen würde.“

Vor den kritischen Augen des Vogtes, der das Gespräch schon geraume Zeit heimlich mitverfolgte, begann Aristide die Schwatzhaftigkeit des Sägemüllers zusehends peinlich zu werden. In Gedanken suchte er nach einem Grund, sich aus der Affäre zu ziehen. Letztendlich sparte er sich eine angemessene Antwort und versuchte den Reden des Sägemüllers zu entkommen. Doch dieser war jetzt in seinem Element und ließ ihn nicht so schnell des Weges ziehen.

„Die Zeitungen schreiben ja auch, dass dieser intrigante König den Geliebten seiner Gattin hinterrücks ermorden lassen haben soll. Ein Brief, der angeblich spurlos verschwunden ist, soll das belegen können. Kein Wunder, dass sich Vater und Sohn seit Jahren an die Gurgel gehen. Der königliche Schurke soll ihn und sein hübsches Weib sogar aus dem Palast geworfen haben. Sein eigene Bagage, einfach so auf die Straße gesetzt. Was sagt Ihr dazu? Da fehlen einem doch glatt die Worte.“

Aristide wurde immer unruhiger, zudem sich nun der Vogt, neugierig geworden, dazugesellte und zu den letzten Worten sagte: „Wer weiß denn, warum er seinen Sohn aus dem Haus gejagt hat? Der Prince of Wales soll ja auch kein Unschuldsknabe sein. Ich habe gehört, dass er ein grober, jähzorniger und verletzender Choleriker ist, der es seinem Vater nicht immer leicht gemacht hat. Er nutzt seinen Platz und seine Verbindungen zu den Whigs, um gegen seinen Vater zu intrigieren. Er soll einmal gesagt haben, dass er nur auf den Tod des Vaters warte, um an seiner Stelle den Thron zu besteigen. Macht so etwas etwa ein guter Sohn? Der König ist nur von Schmeichlern, Blendern und Speichelleckern umgeben. Habt Ihr, während Ihr den Monarchen durch den Schmutz zieht, auch nur einmal daran gedacht, wie schwer es ein Deutscher auf dem britischen Thron hat, welche Verantwortung auf seinen Schultern lastet? Na und so verschwenderisch wie die Franzosen ist er ja nun wahrlich nicht.“

Ein leicht triumphierendes Lächeln umspielte Aristides Lippen. Doch er bemühte sich, dieses vor dem adligen Beamten zu verbergen. Da er als kurfürstlicher Kommissar unterwegs war, hielt er es jedoch für ratsam, sich nicht länger an dem Geplauder zu beteiligen. Seine Meinung könnte zu falschen Schlüssen führen und sich als gefährlich für ihn erweisen. Die Geschwätzigkeit des Sägemüllers hatte aber auch etwas Gutes für ihn. So war er an Informationen gekommen, die seinen Plänen dienlich waren. Es wurde Zeit sich zu verabschieden. Lächelnd zuckte er mit den Schultern und sagte: „Meine Herren – es ist der leidige Hoftratsch. Man sollte ihm nicht zu viel Beachtung schenken.“

Höflich lüftete er den Hut, deutete eine Verbeugung an und ließ die überrascht dreinschauenden Herren auf der Brücke zurück. Bei der Kutsche angekommen löste er zufrieden das Handpferd vom Wagen und schwang sich auf den Pferderücken. „Auf zum Sollinger, mein Freund“, murmelte er und gab dem Pferd die Sporen.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Aristide die Stadt hinter sich ließ und durch das bewaldete Tal in die Sollinger Bergwelt eintauchte. Er hatte vor, Lüchtringen noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Zu seinen Füßen breiteten sich weite, satte und grüne Bergwiesen aus. Über den Bergspitzen lag immer noch ein Rest weißen Schleiers. Silbergrau spiegelten sich unter ihm vereinzelte Floßteiche, auf denen das geschlagene Holz zur Weser und bis in die Leine geflößt wurde. Tief im Wald führte sein Weg vorbei an kleineren, zeltförmigen Köhlerhütten, kreisrunde Gestelle aus Holzstangen, abgedeckt mit Plaggen und Borke. Aus den Löchern an der Spitze, die wie große Hüte anmuteten, zogen dünne Rauchschwaden zum Himmel. Herden von Schweinen und Rindern, die man zur Eichelmast in den Wald getrieben hatte, begegneten ihm. Unwillkürlich musste er dabei an das seltsame Essverhalten des Knaben denken und er überlegte, ob der Junge sich nicht von den Eicheln und dem Gemüse dieser Tiere ernährt haben könnte. Doch rasch verwarf er den Gedanken wieder und versuchte sich mit amourösen Fantasien abzulenken. Dabei musste er an die hübsche Tochter des Armenhausaufsehers denken und obwohl ihm der Wind die Tränen in die Augen trieb, zauberte die Erinnerung an sie ein Lächeln auf sein Gesicht.

„Sie himmelt mich an, die Grete“, murmelte er geschmeichelt und tätschelte den Pferdehals, ohne zu bemerken, dass er den Hengst mit in sein Selbstgespräch einbezog. Auf seinen einsamen Ritten durch die dichten Wälder wurde das geduldige Tier nicht zum ersten Mal zu seinem engsten Vertrauten. „Aber sie ist noch jung, ein Kindsweib. Vielleicht sollte ich mit ihr eine Liaison anfangen. Vielmehr ist bei dem mittellosen Vater nicht drin. Vielleicht sollte ich sie auch im Auge behalten. Das Weib verschweigt mir etwas. So etwas spüre ich. Sie muss bei dem Knaben etwas gefunden haben. Ich werde ihr auf den Zahn fühlen, sobald ich zurück bin. Es ist zwar nur eine Vermutung, mehr ein Gefühl, aber sollte es sich tatsächlich herausstellen, dass es sich bei dem Wilden um einen Bastard Georg Ludwigs und einer seiner Mätressen handelt, dann habe ich endlich etwas in Händen, um mich an dem König für die Verhaftung meiner Mutter Eleonore zu rächen. Der König weiß nichts von meiner Herkunft. Denn der buckligen Kammerzofe seiner Gattin, Eleonore von Knesebeck, hätte niemals jemand eine Liebschaft zugetraut, geschweige denn einen Sohn. Er weiß nicht, dass ich im Gefängnis geboren wurde und nicht, wie es sich anfühlt, im Waisenhaus aufzuwachsen. Aber ich bin stark und hole mir meinen Platz bei Hofe zurück, dort, wo ich rechtmäßig hingehöre.“

Bei dem Gedanken an die Entbehrungen seiner Jugend presste er dem Pferd die Sporen in die Flanken. Als das Tier darauf vor Schmerz stieg, tätschelte er ihm den Hals und beruhigte es leise: „Ist ja schon gut. Ich wollte dir nicht wehtun.“ Während der vierbeinige Freund wieder vertrauensvoll unter ihm dahintrabte, hatte er Muße sich die zurückliegenden Jahre in Erinnerung zu rufen, in denen er um die Rehabilitation seiner Mutter gekämpft hatte, die als Verursacherin allen Übels in der Ehebruchaffäre der Kurfürstin Sophie Dorothea mit dem Grafen Königsmarck gebrandmarkt worden war. Unbewusst strich er sich dabei mit dem Handrücken über die Augen, als versuchte er, die Vergangenheit wegzuwischen. „Glaub mir, mein Brauner“, redete er wieder mit dem Pferd. „Ich bin schlimmer aufgewachsen als ein Hund. Schläge, Läuse, Hunger und Angst waren die Begleiter meiner Kindheit, ohne die Liebe eines Vaters und einer Mutter. Ich weiß nicht einmal, wer mein Erzeuger ist. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, hätte mich nicht die Gräfin Clara Elisabeth von Platen aus dem Dreckshaus geholt. Sicher hatte sie die Umstände meiner Geburt herausbekommen. Woher sollte sonst das Interesse an mir, einem Waisenknaben, gekommen sein. Sicherlich diente ich der Gräfin nur als Spielball für weitere Intrigen. Immerhin war sie einst die mächtigste Frau am kurfürstlichen Hof, die Mätresse des Kurfürsten Ernst August von Hannover und die Drahtzieherin in der Königsmarck-Affäre. Mit gerade mal 15 Jahren habe ich mich dann in ihr Bett gelegt. Das war die einzige Liebe, die ich je in meinem Leben erfahren habe. Denn nur über ihr Bett glaubte ich, den Namen meiner Mutter reinwaschen zu können. Intrige gegen Intrige. Die Gräfin war die Einzige, die wusste, was in jener Nacht im Juli 1694 wirklich mit Philipp Christoph Graf von Königsmarck geschah. Für meine amourösen Dienste hat sie mir später auf dem Sterbebett meine Rehabilitation durch ein den König kompromittierendes Schriftstück versprochen. Aber das Dokument verschwand nach ihrem Tod auf mysteriöse Weise und für mich blieb, wie zum Hohn, lediglich der niedrigste Amtstitel der Sicherheitsbehörde. Nun bin ich mit fast 40 Jahren immer noch als kurfürstlich kommissarischer Überprüfer von Vorschriften und Gesetzen in den städtischen Räten unterwegs. Aber ich habe die Hoffnung, Licht in das Dunkel zu bringen, nie aufgegeben. Ich begann, nach dem verschwundenen Brief zu suchen. Doch die Mätresse Georg Ludwigs kam hinter meine Ermittlungen, worauf man mich eiligst, in kurfürstlichem Auftrag, nach Hameln versetzt hat. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Noch ahnt der König nicht, was ich über ihn herausgefunden habe … Denn die Zeitungen lügen nicht. Ich bin mir vollkommen sicher, dass der König allein für den Meuchelmord am Grafen Königsmarck verantwortlich ist, dessen Leiche später in der Leine gefunden wurde. Der Mord ist von vier seiner Höflinge ausgeführt worden; einer, ein katholischer Mönch, der den tödlichen Stich ausgeführt hat, soll dafür eine hohe Abfindung erhalten haben. Nur leider fehlt mir immer noch der Beweis. Aber nun ist dieser wilde Bastard aufgetaucht … Was für ein Geschenk.“ Sein Herz begann vor Freude zu hüpfen, während er den Faden weiterspann, das aufmerksame Ohrenspiel seines Pferdes als Zustimmung wertend. „Ihn hat mir das Schicksal gesandt. Welches Glück für mich, dass der junge Prince of Wales, Georg August, die Opposition gegen seinen Vater schürt. Mit seiner Hilfe wird es mir gelingen, den König und seine Schwester mit einem illegitimen und ausgesetzten Bastard ins Gerede zu bringen. Die britischen Zeitungen werden sich das Maul zerreißen. Wenn ich schon den Mord nicht an die Öffentlichkeit bringen kann, dann wenigstens dieses Gerücht, damit er nicht länger den Thron beschmutzt, der viel besser seinem Sohn anstünde und auf dass ich meine Ehre zurückbekomme.“

Das Wirtshaus befand sich im Wald, aber noch nahe genug am Wasser für die Flößer und Schiffer, die ihr geschlagenes Holz transportierten und hier ihre Rast einlegten. Ein starker Zaun aus Eichenholz schloss die einstige Köhlerhütte völlig ein. Als Aristide vor dem hohen Tor aus Rundholz vom Pferd sprang, traf er auf ein Mädchen mit ebenso dichtem, krausem Haar, wie der wilde Knabe. Es tauchte wie ein Schatten aus dem Nichts auf und jagte ihm einen ordentlichen Schrecken ein. Es stand einfach so da und glotzte ihn unverwandt an. Dabei rollte es unruhig mit den Augäpfeln, bis das Weiße hervortrat. Zwischendurch lallte es unverständliche Worte und kicherte dümmlich. Als er es nach dem Wirt fragte, wies es auf das Tor hinter ihm und kreischte laut. Verwundert schüttelte er den Kopf und ließ es mit einem schlechten Gewissen stehen. Der Gedanke, ein Kind mutterseelenallein im Wald zurückzulassen, behagte ihm nicht sehr. Aber schließlich hatte er den Ritt hierher nicht gemacht, um sich um fremde kleine Herumtreiber zu kümmern. Als er das Tor öffnete und sich noch einmal nach ihm umdrehte, stand es immer noch unverändert an der gleichen Stelle.

„Willst du mit mir kommen, mein Kind?“, forderte er es nun seinem Gewissen nachgebend auf. Doch das Mädchen fing erneut an zu kreischen, mit so schrillen Tönen, dass er sich die Ohren zuhielt und zurückschrie: „Was soll das, du kleine Furie, willst du mich verhöhnen?“

Vor Schreck über seine Reaktion hielt das Mädchen inne und verzog weinerlich den Mund. Plötzlich bückte es sich, hob blitzschnell die Röcke und lüftete sein nacktes Hinterteil. Angewidert von der vermutlich Irren, führte er das Pferd eilig an ihr vorbei in den dunklen Hof, wo er das Tier neben der Eingangstreppe an einem der Eisenringe im Mauerwerk festband. „Dich hat sie wohl auch erschreckt, mein Freund“, redete er dem auf der Stelle tänzelnden Gefährten zu und sah sich fast ein wenig ängstlich nach dem Kind um. „Gott sei Dank! Sie ist weg.“ Er war ein Mann, der mit dem Degen umgehen konnte, aber nicht mit idiotischen Gespenstern. „Gleich bekommst du Wasser und Stroh, mein Freund“, unterhielt er sich erneut mit dem Pferd, diesmal mehr um sich selbst zu beruhigen. „Findest du nicht auch, dass sie Ähnlichkeit mit dem Wilden aus Hameln hat?“ Er tätschelte den Pferdehals und lenkte dann seine Schritte zur Eingangstür, wobei er laut dachte: „Na, mal sehen, was wir in Erfahrung bringen. Ob es nun für den Knaben etwas bringt oder nicht, sei dahingestellt. Von meinen Plänen wird es mich nicht abbringen.“

Im Wirtshaus empfing ihn ein trübes Licht, das einzig von der Feuerstelle genährt wurde. Darüber hing ein großer, runder Topf, in dem es kochte und brodelte. Die Schenke schien menschenleer. Da er sich erst an die Lichtverhältnisse gewöhnen musste, verharrte er unschlüssig an der Tür, bis eine Stimme aus dem Dunkel heraus fragte: „Was ist Euer Begehr, Fremder? Um diese Zeit ist die Herberge geschlossen.“

„Ich komme im Auftrag der kurfürstlichen Regierung, guter Mann, und suche den Wirt dieser Gastlichkeit, um ihm Fragen zu einem gewissen Kind zu stellen. Ich wäre Ihm natürlich sehr verbunden, würde Er mir für die Nacht ein Quartier einrichten und mein Pferd mit Wasser und Futter versorgen.“ Er gab sich extra förmlich und hatte Glück damit. Der Mann kroch aus seiner dunklen Ecke hervor. Er verneigte sich tief und sah sich dabei etwas verwundert um.

„Der hohe Herr sind ohne Begleitung?“

„Ja, ich bin bei Tage ohne Rast geritten. Denn es geht um eine dringliche Angelegenheit, die ich zu klären habe. Ist Er der Wirt?“, fragte er und warf seine Handschuhe auf einen der Tische, eine Aufforderung für den Mann ihm unterwürfig aus dem Rock zu helfen.

„Der Wirt des Wirtshauses von Polle steht zu Euren Diensten, mein Herr.“

In einer langen, speckigen Lederschürze, mit einem Bauch, den er wie ein Fass vor sich hertrug, verschwand der Wirt und kam rasch mit zwei Krügen in der Hand zurück. An einem langen Holztisch im Feuerschein des Herdes setzte er sich Aristide gegenüber. „Ihr meint sicher das Kind, das von den Schiffern am Westufer gesehen wurde, Herr?“

Der Kommissar nahm einen kräftigen Schluck, leckte sich über die Lippen und fasste den Mann scharf ins Auge, bevor er antwortete: „Es geht um das Gerücht, dass Er einen idiotischen Sohn gehabt haben soll.“

„Ach, darum geht es?“

Der Wirt atmete hörbar aus und lehnte sich entspannt zurück. Unter seinen buschigen Augenbrauen blitzte es verwundert. „Die Geschichte liegt aber schon eine Weile zurück. Der Herr muss wissen, mein Weib ist vor Jahren am Kindbettfieber gestorben und ich habe meine drei Kinder allein aufgezogen, zwei Knaben und ein Mädchen. Leider haben sich der größere Junge und das Mädchen nicht recht entwickelt. Je älter beide wurden, umso ungebärdiger und blödsinniger verhielten sie sich. Zudem haben sie nie richtig sprechen gelernt. Sicher ist der Herr dem Mädchen am Tor begegnet. Es treibt sich gern bei Dunkelheit im Wald umher, wie ihr Bruder, der darin umgekommen ist.

„Umgekommen?“ Aristide horchte auf. „Dem Mädchen bin ich begegnet. Es hat dunkles, krauses Haar?“

„Nein, brandrot sind sie, wie bei einer kleinen Hexe!“ Der Wirt strich sich über den Bart und schmunzelte. „Hat der Herr Kinder?“

„Ich hätte schwören können, dass ihr Schopf dunkel war.“ Aristide hob die Kanne und trank sie in einem Zug leer. „Kinder habe ich Gott sei Dank nicht. Mir fehlt noch das Weib dazu“, antwortete er mit schwerer Zunge, nachdem er das Gefäß wieder absetzte. Der Raum begann sich leicht um ihn zu drehen. Seitdem er von Hameln weggeritten war, hatte er nichts mehr gegessen und so entfaltete der Wein rasch seine Wirkung. Rote Haare, dunkle, krause Haare, schwirrte es durch seinen Kopf. Der wilde Peter hatte schwarzes, krauses Haar gehabt. Log der Wirt? Eine Lüge war nicht verkehrt. Sie würde seine Ermittlungen nur in die rechte Richtung lenken. Benommen beugte er den Hals vor, um den Blick des Wirtes festzuhalten. Doch die grauen Augen in dem runden von feinen Äderchen durchzogenen Gesicht schienen ihm immer wieder zu entwischen.

„Dann wird es für den Herrn sicher unverständlich sein, dass man solche kleinen Idioten lieben kann“, vernahm Aristide wie aus weiter Ferne. „Für mich sind sie trotz allem Gottes Geschöpfe, die empfindsam auf Stimmungen und Gefühle reagieren. Es hat lange gebraucht, mich an die Kinder zu gewöhnen, und deshalb bereue ich es zutiefst, dass ich meinen Jungen in den Tod getrieben habe, als ich wieder ein Weib ins Haus nahm. Diese Kinder brauchen sehr viel Liebe und sie geben sie tausendfach zurück. Ein Blick in ihre Augen und aller Ärger und alle Mühen sind vergessen. Nur das wollte mein Weib, ihre Stiefmutter, nicht erkennen. Sie hasste die Kinder vom ersten Tag an.“ Der Wirt sah den Kommissar mit besorgtem Blick an. „Ihr habt sicher Hunger. Verzeiht meine Nachlässigkeit“, stellte er eilfertig fest und unterbrach seine Ausführungen. „Ich werde Euch sofort etwas auftragen lassen.“ Er erhob sich, ging nach nebenan in die Küche und kam nach ein paar Minuten mit einer dampfenden Suppenschüssel, etwas geröstetem Schwarzbrot und Speck zurück.

Dankbar griff Aristide nach der Schüssel und löffelte sie schweigsam bis auf den letzten Löffel leer. Der Wirt beobachtete den Kommissar, bis er der Meinung war, dass er gesättigt war, und redete dann weiter: „Mein Sohn entlief schon im Jahr 1723 in den Wald. Das war das Jahr, als das Weib bei mir einzog. Nachdem ihn wohl einige der Weserschiffer mit etwas zu Essen versorgt hatten, tauchte er wieder auf. Ich war gerade mit dem Gesinde im Heu, da soll ihn das böse Weib so furchtbar aus dem Haus geprügelt haben, dass er in seiner Not wieder zurück in den Wald gelaufen ist. Ich habe Tag und Nacht nach ihm gesucht, bis ich seine Leiche von Wölfen zerrissen im Sollinger Holz fand. Das Weib habe ich darauf aus dem Haus gejagt und meinen Sohn auf dem Friedhof im nächsten Kirchdorf begraben. Wenn der Herr Kommissar es sehen möchte, werde ich ihn an sein Grab führen.“

Aristide spürte, wie ihm die Müdigkeit durch die Glieder zog. Sein Kopf wurde immer schwerer. Er vermochte ihn kaum noch auf den Schultern zu halten. „Ich glaube Ihm, aber ich werde vorsichtshalber morgen in der Frühe noch die Weserschiffer befragen“, lallte er. „Jetzt, Wirt, zeige Er mir mein Bett, dass ich mich zur Ruhe begeben kann.“

„Weswegen seid Ihr wirklich zu mir gekommen, Herr? Euch kann doch nicht am Tode eines Idioten gelegen sein?“, fasste sich der Wirt ein Herz, als er ihm auf der Treppe den Weg zu seiner Kammer leuchtete.

„Man hat einen verwilderten Knaben in Hameln gefunden, der auf vier Füßen läuft, nicht spricht und wie ein Wolf um sich beißt“, gähnte Aristide und stolperte über die Schwelle in die kleine Schlafkammer, in der gerade ein Tisch und ein Bett Platz hatten.

„Und der Herr glaubt, dass es sich um meinen Jungen handelt?“

„Ich muss der leidigen Angelegenheit nachgehen. Aber sage Er, Wirt, was hatte der Sohn eigentlich für eine Haarfarbe?“ Schwerfällig ließ er sich auf die Matratze fallen. „Und welchen Namen gab Er ihm?“

„Peter wurde er gerufen und seine Haare waren brandrot, wie die seiner Schwester. Er kann also unmöglich mein Sohn gewesen sein.“

„Peter …“, kam es kaum hörbar über Aristides Lippen. „Kann es sein, dass Er mich anlügt und den unverwendbaren Fresser nach Hameln abgeschoben hat?“

Zum Glück überhörte der Wirt die viel zu leise gesprochenen Worte. Stattdessen verrieten ihm nun die gleichmäßigen, von einem leisen Pfeifen unterbrochenen Atemzüge, dass der Kommissar eingeschlafen war.

Das Wolfskind und der König

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