Читать книгу Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama - Страница 7

Оглавление

Die Jagd

Nur wenige Minuten lang schenkte der Bär den dicht an seinen Fersen kläffenden Hunden Aufmerksamkeit. Während er sich tiefer in den Wald zurückzog, wurden die Jagdhunde mutiger, und schließlich lief einer von ihnen dem Rest der Meute voraus und vergrub seine Fänge im Bein des Fliehenden. Wäre der Wind aus einer anderen Richtung gekommen, hätte der Bär den Verfolgern entkommen können. Die Attacke des Hundes beantwortete der Bär mit wütendem Gebrüll und verfolgte die Meute einige Meter zurück, bevor er erneut weiterstürmte. Plötzlich stellte er sich aufrecht auf die Hinterpranken und witterte mit hocherhobener Nase. Er verharrte einen Augenblick, wie zur Säule erstarrt, bevor er zum Erstaunen der Jäger die Richtung änderte und auf die mit Jagdlappen eingegrenzte Lichtung zulief. Der König und sein englischer Leibarzt sahen ihn aus hundert Metern Entfernung und begannen zu schießen. Die erste Kugel pfiff dicht über seinen Kopf hinweg. Einen Augenblick später knallte das zweite Gewehr. Der zweite Schuss wirbelte fünf Meter vor ihm eine mächtige Schneewolke auf. Mit letzter Kraft schwenkte das mächtige Tier nach rechts. So stand es mit der Breitseite zu den Schützen. Ein dritter Schuss donnerte in das Gebell der Hunde, und während die Explosion zwischen den Berghängen und Baumriesen verhallte, bohrte sich das Geschoss direkt in seinen Schädel. Der Bär ging zu Boden wie ein gefällter Baum.

„Was für ein Schuss, Your Majesty!“, jubelte der königliche Leibarzt Doktor Arbuthnot und sprang fast gleichzeitig neben seinem Herrn vom Pferd.

„Oh, Karl, lasst doch das englische Geschwafel. Ihr wisst doch, wie sehr ich es verabscheue. Nennt mich, wie Ihr wollt. Um unserer Freundschaft willen, nur nicht Your Majesty“, keuchte Georg Ludwig, der nicht nur seine britischen Begleiter, sondern auch den hannoverschen Hof zu dieser spektakulären Jagd eingeladen hatte.

Sie hatten die Pferde hinter sich gelassen und stapften nun um die Wette durch den Schnee. Der Leibarzt wollte etwas entgegnen, unterließ es aber.

Schlimm, dass der König nach so vielen Jahren noch immer auf Kriegsfuß mit der englischen Sprache steht, ansonsten würde ihm sicherlich auffallen, dass ich „Charles“ heiße und nicht Karl, dachte er verärgert. Aber das behielt er lieber für sich. Der König hatte jetzt sowieso kein Auge für ihn, geschweige denn für die zahlreiche Jagdbeute an erlegten Säuen, Keilern und Hirschen, die aufgereiht zwischen Zelten, Netzen und Tüchern den Schnee rot färbten. Stattdessen murmelte er, sein Glück noch immer nicht fassend: „Ein Bär, Karl, wie kommt der König der Wälder nur in unser schönes Weserbergland? Der letzte seiner Gattung wurde, glaube ich, vor einhundert Jahren im Harz erlegt.“ Der sonst zurückhaltende, eher kühle Georg wirkte heiter und ausgelassen wie lange nicht.

„Das ist ebenso selten wie ein König im Weserbergland, Hoheit“, antwortete der Angesprochene, angeregt durch die gute Laune seines Herrn, während er die Hunde verscheuchte. “Er befand sich auf der Jagd, so wie Majestät. Möglich, dass er über die Grenze vom Harzgebirge in den Sollinger wanderte.“

„Mitten im Winter?“ Georg warf ihm einen ungläubigen Blick zu und winkte seinen Oberhofjäger aus dem am Waldesrand wartenden Gefolge herbei. Der Mann trat mit dem Pferd an der Hand unterwürfig näher. „Eure Lordschaft, blast die Jägerschaft zusammen, der Bär muss auf den Rücken gedreht und ausgeweidet werden.“

Der Angesprochene, Lord Monbotto, antwortete dem Kurfürsten von Hannover und König von England mit einer knappen Verbeugung, bevor er das Horn an die Lippen setzte und zum Sammeln blies. Es dauerte nicht lange und die herbeigerufenen Jäger scharrten sich um den Bären. Sie begannen den leblosen Körper mit Stangen zu traktieren, bis sie sich sicher waren, dass kein Leben mehr ihm war. Dann drehten sie ihn mit vereinten Kräften auf die Seite, während Georg Ludwig neben dem Bären kniete und den Einschuss untersuchte.

„Ein glatter Durchschuss“, stellte Lord Monbotto an seiner Seite fest, während Charles Arbuthnot das Tier nach weiteren Einschüssen abtastete. „Was für ein prächtiges Tier, Majestät. Es ist eine Bärin.“

„Normalerweise halten Bären zu dieser Zeit ihren Winterschlaf. Was haltet Ihr davon, Lord Monbotto?“, fragte der König und fasste den Lord scharf ins Auge.

„Vielleicht ist die Bärin vorzeitig geweckt worden? Oder der diesjährige Winter ist zu warm?“, antwortete Monbotto, worauf der König entgegnete: „Der Herbst war sehr mild. Möglich, dass sie zu lange gewartet hat. Ich werde William beauftragen, ein Porträt von der Bärin zu malen. Zur Erinnerung an unsere erste und wohl einzige Bärenjagd. Eure Lordschaft, Ihr sorgt dafür, dass das Fell noch heute abgezogen und entsprechend präpariert wird. Ich möchte das Tier ausstopfen lassen. Was für ein Zufall, dass man erst in deutschen Wäldern jagen muss, um einem wilden Bären zu begegnen.“ Die letzten Worte ernteten den Beifall seiner Minister, Höflinge und Jäger, die im Halbkreis um ihn herum standen.

„Mit dieser Annahme, Hoheit, wäre ich vorsichtig“, äußerte sich Arbuthnot, sparsam im Umgang mit vorzeitigem Jubel. Er besah sich schon geraume Zeit nachdenklich die mächtigen Bärentatzen. „Seht, Majestät! Die vernarbten Verbrennungen an seinen Sohlen. Es könnte sich hier auch um einen Tanzbären handeln.“

„Ein Tanzbär?“ Das Leuchten auf dem alternden Gesicht des Monarchen verschwand. Enttäuscht hob er den Kopf. „Das wäre unter unserer Würde, Karl. Dann haben wir keinen König gejagt. Eher ein von Zigeunern verblödetes Tier. Kein Wunder, dass er es uns so leicht gemacht hat.“

„Nein. Wir haben durchaus eine wilde Bärin gejagt, Majestät. Jetzt unterliegt Ihr einem Irrtum, wenn Ihr glaubt, die Zigeuner hätten die Bärin dressiert und aus ihr ein zahmes Tier gemacht. Die ausgerissene Nase zeugt von Tierquälerei. Regelrecht zerfetzt ist sie. Sie muss einmal einen Nasenring getragen haben und ihre Fußsohlen hatten Kontakt mit einer glühenden Eisenplatte. Die Vernarbungen jedoch lassen darauf schließen, dass sie schon länger in den Wäldern lebt. Das heißt, die Bärin wurde wieder ein wildes Tier, das es bestimmt nicht zu den Menschen zurückgezogen hat. Mehrere Jahre in der freien Wildnis …

„… haben sie wieder ihren Urinstinkten nähergebracht. Das wolltet Ihr doch damit sagen Doktor“, unterbrach ihn Lord Monbotto. „Höchst interessante Geschichte. Die Bärin hätte mir wichtige Erkenntnisse für meine wissenschaftlichen Studien liefern können.“

„Mylord. Eure Studien über die Lehre der angeborenen Begriffe sind von recht zweifelhaftem Ruf. Ihr betreibt Eure Studien an Menschen und Tieren. Dieser wilde Bär hier ist für solche Wissenschaften eher zwecklos. Was ihn allerdings in unsere Fangnetze getrieben hat, das würde mich brennend interessieren.“

„Es ist schon lange her, dass eine Zigeunertruppe durch unser Land zog. Den letzten Tanzbären sah ich in der Zigeunertruppe des Zaren Peters des Großen, bei meinem Kuraufenthalt in Bad Pyrmont. Das war vor acht Jahren“, beendete der Monarch das Geplänkel zwischen den beiden Wissenschaftlern, bevor es in ein Streitgespräch ausartete. Er kannte das hitzige Gemüt seiner beiden engsten Vertrauten und wusste, dass sie nur schwer ein Ende fanden, was ihn letztendlich zu langweilen begann. Er verlor das Interesse an der Bärin, sah hinüber zum Waldesrand, hob den Arm und schickte einen Gruß zu dem weiblichen Geschlecht außerhalb der Abgrenzungen. Die Damen vom Hof, eingemummt in ihre dicken Pelze, unter ihnen seine Mätresse Melusine, grüßten mit ihren Fächern und lächelten huldvoll zurück. Kurze Zeit später sah man ihn in ihrer Mitte, galant scherzend, zwischen Wein und Wildbret seinen Jagderfolg feiern.

Währenddessen sammelte sich die Jägerschaft zum Aufbruch. Zwischen den Rufen, dem Stampfen und Wiehern der Rosse und dem Bellen der Hunde wurde das Jagdzeug verladen. Zelte, Netze und Waffen nebst dem ganzen Küchenzubehör, Kochgeräten, Tischzeug, Geschirr, Tischen, Bänken und sonstigem Mobiliar wurden auf Wagen und Packpferden verstaut. Das erlegte Wild lag bis zuletzt aufgebahrt im Schnee.

Der englische Doktor stand mit dem Weinglas in der Hand allein bei seinen Hunden und sah gedankenverloren hinüber zu der Lichtung, wo die Bärin in ihrem Blut lag. Der König hatte ihr der Jagdsitte gemäß, das Herz herausgeschnitten und es gemeinsam mit einem Eichenzweig unter seinen Jägern verteilt. Er zollte ihr damit großen Respekt. Arbuthnot dagegen grübelte immer noch über ihre Herkunft nach, als er sich plötzlich mit der Hand über die Augen fuhr und einen Schritt nach vorn machte. Träumte er oder narrte ihn ein Spuk? Er hatte plötzlich das Gefühl, als ob sich in der Nähe der Bärin etwas bewegte. Jetzt sah er es ganz deutlich. Aufgeregt streckte er den Hals vor und trank hastig das Glas leer. Da war es wieder – ein kleiner Schatten, der an dem Bärenkörper auf und nieder sprang, um gleich darauf mit ihm zu verschmelzen, als suchte er Wärme und Schutz. Ein Bärenjunges?

„Da bewegt sich etwas! Da bei dem Bären!“, schrie er und warf vor Aufregung das Glas in den Schnee. Der König wandte ihm ungläubig sein Gesicht zu. Seine überraschte Frage, was er denn gesehen hätte, hörte Arbuthnot nicht mehr. Den Blick fest auf die Bärin gerichtet, rannte er den Abhang hinunter. Je näher er dem Bärenkadaver kam, umso mehr fand er sich in seiner Annahme bestätigt, auf ein Junges zu treffen.

Der Oberhofjäger hatte auf Befehl des Königs die Hunde wieder losgemacht und folgte ihm überstürzt. Doch der erneute Tumult verscheuchte das angebliche Bärenkind. Arbuthnot stoppte enttäuscht seinen Lauf, als er es nur wenige Meter vor ihm mit einem leisen Kreischen aufspringen und auf einen Baum flüchten sah.

„Was war das?“, hörte er den Lord in seinem Rücken keuchen, während die ersten Kugeln in den Baum krachten. Doch anstatt ihm zu antworten, schrie der Doktor aufgebracht: „Sie sollen aufhören! Es ist ein Jungtier! Sie töten es ja!“

Das vermeintliche Bärenjunge suchte, vor den Kugeln fliehend, im Geäst des nächsten Baumes Schutz. Dann verschwand es auf Nimmerwiedersehen im undurchdringlichen Dickicht des Waldes. Die Jäger und Hunde verfolgten es noch einen Moment, während Arbuthnot den Lord daran hinderte, die Spuren zu zertreten. Aufgeregt wühlte er mit den Fingern im Schnee: „Ihr zerstört ja alles, Mylord, mit Eurem Gehopse. Die Fußabdrücke im Schnee … Es hat eher den Anschein, als gehörten sie … ich kann es kaum fassen … zu einem Menschenkind. Seht Ihr den Abdruck der Zehen. Die beiden kleineren Zehen des rechten Fußes sind offenbar zusammengewachsen.“

„Ein Kind?“ Lord Monbotto schüttelte ungläubig den Kopf. „Ihr habt einfach zu tief ins Glas geschaut, Doktor. Wo sollte ein Kind hier in der Wildnis herkommen? Und wie sollte es den Winter überlebt haben? Der Wald steckt voller gefährlicher Tiere. Sie hätten es längst zerrissen. Ein Bärenjunges käme eher infrage. Aber wahrscheinlich ist Euch eher ein Waldgeist begegnet.“

„Ihr habt es doch auch gesehen, Mylord?“, entgegnete der Doktor ärgerlich. Doch sicher war er sich nicht mehr. Dennoch gingen ihm die kleinen Fußabdrücke lange nicht aus dem Kopf. Er schwor mehr als einmal zur Belustigung des Königshofes, dass er ein Menschenkind bei der toten Bärin gesehen hatte. Dass er damit vielleicht nicht ganz unrecht hatte, brachte ein halbes Jahr später ein höchst seltsamer Fund zutage, der jahrzehntelang die Gemüter bis in die höchsten Kreise beschäftigen sollte.

Das Wolfskind und der König

Подняться наверх