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Nachhilfe
ОглавлениеMontagmorgen lief alles wie gewohnt ab. Ich verschlief, musste mich schnell für die Schule fertig machen, Ma drückte mir mein Lunchpaket in die Hand und Phil wartete bereits vor der Haustür. Irgendwie freute ich mich darauf ihn wieder zu sehen. Während des Lernens überlegte ich immer wieder, wie abwegig die ganze Situation in den letzten Tagen gewesen war. Es musste Zufall sein, dass ich genau von dem Jungen geträumt hatte, der kurz danach in unsere Straße gezogen war. Meine Gefühle waren wohlmöglich wirklich nur reine Schwärmerei. Er war gutaussehend, das konnte man ihm nicht absprechen. Aber was wusste ich denn sonst noch über ihn? So gut wie nichts.
Phil hingegen war seit drei Jahren mein fester Freund und uns verband darüber hinaus noch eine tiefe und innige Freundschaft. Er war immer für mich da und ich kannte ihn in und auswendig. Wieso also das alles für einen Fremden aufs Spiel setzen? Ich entschied mich dazu mich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Auf Phil. Ich hoffte auch stark genug zu sein um mich von Brian fern halten zu können. Er übte eine irrsinnig starke Anziehungskraft auf mich aus. Es zog mich einfach zu ihm hin. Und die Gefühle, die er in mir auslöste waren alles andere als reine Neugierde auf den neuen Jungen in der Schule. Doch egal, ich würde mich nicht von irgendwelchem pubertären Geschwärme ablenken lassen. Ich war in einer glücklichen Beziehung mit Phil und daran würde sich auch nichts ändern.
Nach einer eher unterkühlten und etwas zurückhaltenden (wie nicht anders erwartet) Begrüßung holten wir Jenny ab und fuhren zur Schule. In der Mittagspause entschied ich mich dazu mich auf die Wiese zu setzen und bat Phil mich zu begleiten. Jenny hingegen ging zu unserem Stammplatz, wo Brian sich breit gemacht hatte. Ich sah kurz hinüber und bemerkte wie er mir nachsah. Er wirkte ein wenig enttäuscht, dass ich mich nicht zu ihnen an den Tisch gesellte, doch ich hielt es für besser so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu halten.
Am Nachmittag erwarteten uns zwei intensive Matheübungsstunden. Als ob der Unterricht am Morgen nicht ausgereicht hätte. Übungen über Übungen für unseren kommenden Test. Unser Lehrer hielt uns ganz schön auf Trap. Ich bemerkte, dass Brian Probleme hatte mitzukommen. Scheinbar hatte man auf seiner alten Schule noch nicht so viel Stoff wie bei uns durchgenommen, oder er tat sich einfach generell schwer mit der Materie. Er hinkte also etwas hinterher.
„Bonnie.“, rief mich der kleine Troll auf.
„Du bist hier in der Klasse die Beste in Mathe. Ich möchte, dass du Brian Nachhilfe gibst. Ich werde euch einen Packen Übungen mitgeben. Bitte setzt euch nach der Schule zusammen und übt für den Test am Freitag.“
Meine Augen weiteten sich. War das wirklich sein ernst? Da versuchte ich mich so gut es ging von Brian fernzuhalten und dann passierte so etwas? Wie sollte ich die Situation nur in den Griff bekommen.
„Aber… aber ich. Ich habe noch so viel für die anderen Fächer zu tun. Ich kann niemandem Nachhilfe geben.“
Jenny zeigte energisch auf und rief. „Mr. Solece, Ich, ich habe Zeit. Ich kann mit Brian lernen.“
Brian wirkte über diese Äußerung nicht sonderlich erfreut. Scheinbar war Jenny ihm zu aufdringlich. Das konnte man ihm auch irgendwie nicht verübeln.
„Nein Jenny. Konzentriere dich lieber darauf selbst eine gute Note zu schreiben. Oder muss ich dich an das Debakel bei deinem letzten Test erinnern?“.
Mr Solece hatte Jennys wunden Punkt getroffen. Sie war wirklich nicht besonders gut in Mathe. Ich hatte auch schon des Öfteren versucht ihr zu helfen, allerdings trug es nie Früchte. Sie war einfach nicht geschaffen für Multiplikationen und Brüche.
„Bonnie, ich bin sicher du kannst dir etwas Zeit für Brian nehmen. Bitte sei so nett und kümmere dich um ihn.“
Er sagte die Worte mit solch einem Nachdruck, dass es mir unmöglich war nein zu sagen. Er hätte es schlichtweg nicht akzeptiert. Also musste ich nun wohl oder übel mit Brian lernen. Ich sah ihn nicht an, es war mir zu unangenehm. Stattdessen blickte ich zu Phil hinüber. Er schien auch nicht gerade besonders erfreut über diese Neuigkeit zu sein. Es kam ihm natürlich sehr ungelegen, dass gerade ich dem Neuen Nachhilfe geben sollte.
Nach der Schule kam Jenny aufgeregt und überraschenderweise freudestrahlend auf mich zu.
„Bonnie, Bonnie, warte.“
Ich hätte mir gut vorstellen können, dass bei der Hast, die sie an den Tag legte, jeden Moment ein Unfall passieren würde. Sie stürzte auf mich zu und legte ihren Arm um mich.
„Das ist perfekt! Mir wäre es zwar noch lieber gewesen wenn ich ihm Nachhilfe geben könnte. Aber so geht’s auch.“
Auf ihrem Gesicht machte sich ein fast schon beängstigend glücklicher Ausdruck breit.
„Am Besten du fängst damit an ihm zu erzählen wie beliebt ich bei allen bin, und dass ich zum Captain der Cheerleader ernannt wurde. Dann machst du ihn auf meine unvergleichliche Schönheit aufmerksam und spornst ihn an mich um ein Date zu bitten. Ich werde dann so tun als wäre ich total überrascht und werde zögerlich zusagen. Das wird sowas von super.“
Ich verdrehte die Augen. Als ob das Ganze nicht schon kompliziert genug war. Nicht nur, dass ich meine eigenen Gefühle unter Kontrolle halten und versuchen musste mich so distanziert wie möglich zu verhalten. Jetzt sollte ich auch noch Kupplerin für Jenny spielen.
„Jenny, ich weiß nicht…“ Schon unterbrach sie mich.
„Ach was, das kriegst du schon hin. Und zwischendurch übst du ein paar Beispiele mit ihm und fertig. Sag mir nur Bescheid wann er den Köder geschluckt hat. Ich möchte an dem Tag etwas Besonderes anziehen.“
Ich wollte nicht weiter mit ihr darüber diskutieren ob ich sie nun mit Brian verkuppeln würde oder nicht. Ich musste nur irgendeine Möglichkeit finden diese Lerntreffen so kurz wie möglich zu halten. Vielleicht konnte Phil mich begleiten, dann wäre die Situation etwas entschärft gewesen.
„Phil, hast du heute Nachmittag Zeit? Ich möchte die Lernsession mit Brian hinter mich bringen. Wäre toll wenn du auch mitkommen würdest.“
Sein Blick strahlte etwas Erleichtertes aus, so als hatte er gehofft ich würde ihn bitten dabei zu sein. Ich denke es gab ihm ein Stückchen Sicherheit zurück, was meine Gefühle Brian gegenüber anbelangte. Nach kurzem Überlegen trübte sich sein Blick allerdings wieder.
„Es tut mir leid, ich kann nicht. Ich muss mit meinen Eltern zu meiner Tante fahren. Wir werden die nächsten 4 Tage in Kentucky verbringen.“
Fast so als hätten mich gerade vier Blitze hintereinander getroffen, zuckte ich unter dieser Nachricht zusammen.
„Gleich vier Tage? Kannst du denn nicht hier bleiben? Was ist mit dem Mathetest?“
„Nein, ich habe es meinen Eltern versprochen. Erinnerst du dich an letztes Jahr? Da war ich auch nicht dabei. Sie werden es bestimmt nicht noch einmal erlauben, dass ich dem Familienfest fern bleibe. Und den Test werde ich einfach nachmachen. Ich stehe auf einer soliden drei. Also kein Grund zur Panik.“
„Was ist mit dir, Jenny.“, wandte ich mich zu ihr um.
„Du kannst sowieso ein wenig Nachhilfe gebrauchen. Am Besten ich lerne gleich mit euch beiden gemeinsam. Dann kannst du auch gleich selber Werbung für dich machen.“
„Ich kann leider nicht.“, sagte sie genauso enttäuscht wie Phil, als er ablehnen musste.
„Ich hab die ganze Woche Cheer-Training. Du weißt ja, das nächste Spiel steht bald an und wir wollen unsere Choreographie überarbeiten.“
„Verdammt!“, dachte ich voller Verzweiflung. Das war ja klar. Keinem war es wirklich recht mich alleine mit Brian zu sehen, aber es nahm sich auch keiner die Zeit es zu verhindern.
Auf dem Heimweg überlegte ich, wie ich die Situation am besten abkürzen konnte. Ich wollte so wenig Zeit wie möglich alleine mit Brian verbringen. Es war einfach zu gefährlich ihm zu nahe zu kommen. Er hatte diese ganz besondere Wirkung auf mich, und nur weil ich es mir ganz fest wünschte würde sie nicht einfach verschwinden.
Nachdem Phil mich zu Hause abgesetzt und wir uns voneinander verabschiedet hatten, aß ich eine Kleinigkeit und bereitete mich anschließend auf die Nachhilfestunde vor.
Während ich alles Nötige zusammensuchte fielen mir die Bilder, die ich von Brian, oder dem Jungen aus meinem Traum, gezeichnet hatte, wieder in die Hände. Ich betrachtete sie kurz, spürte wie meine Finger zu kribbeln begannen, und legte sie schnell wieder beiseite.
„Reiß dich zusammen Bonnie.“
Ich packte alles Nötige in meinen Rucksack und machte mich auf den Weg zu meinem Nachhilfeschüler. Während ich die Straße entlang ging versuchte ich mich so gut es möglich war mental darauf vorzubereiten, dass ich jetzt für einige Zeit alleine mit ihm sein würde. Ich versuchte alle Gefühle, die ich mit diesem Jungen verband, zu isolieren und weg zu sperren.
Ich ging zu seiner Haustür und läutete an. Ein altbekanntes Fischerlied ertönte nachdem ich auf die Klingel gedrückt hatte. Eine Dame mittleren Alters öffnete die Tür. Ich erkannte sie noch von dem Nachmittag, an dem wir Brians Umzugswagen an uns vorbei fahren sahen. Im Gegensatz zu meiner Mutter hatte Brians Mom bereits graue Strähnen in den Haaren und ihr Gesicht wirkte farblos und geschwächt. Der Rest ihrer Silhouette hingegen war fest und schien für ihr Alter noch gut in Form zu sein.
„Seine blauen Augen hat er jedenfalls nicht von seiner Mutter.“, dachte ich als ich ihr so gegenüberstand. Sie war sehr freundlich und meinte Brian hätte mich schon erwartet und ich sollte doch schon mal hinauf in sein Zimmer gehen. Er würde gleich nachkommen. Er müsse noch den Abwasch fertig machen.
Ich alleine in Brians Zimmer. Wie unangenehm mir das schon alleine beim Aussprechen der Worte vorkam. Ich fragte mich ob ich nicht vielleicht vor der Türe warten sollte. Einfach so das Zimmer eines Fremden zu betreten war nicht gerade höflich. Außerdem wusste ich ja nicht, was mich darin erwarten würde. War er eher ordentlich oder sah es in seinem Zimmer wie in einem Schweinestall aus? Das was ich vom restlichen Haus sehen konnte war mehr als ordentlich, fast schon penibel aufgeräumt. Jemand hier musste dem Putzwahn erlegen sein. An den Wänden zu seinem Zimmer hingen Bilder von Brian im geschätzten Alter von 4-5 Jahren. Am Spielplatz, beim ersten Schultag, bei einer Aufführung der Theatergruppe seiner alten Schule. Er wirkte überall sehr gelöst und glücklich. Ganz anders als ich ihn bisher kennengelernt hatte. Seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte wirkte Brian sehr in sich gekehrt, die Nase immer in den Büchern vergraben. Ich fragte mich was diesen Sinneswandel ausgelöst hatte.
Wahrscheinlich wollte er gar nicht umziehen. Ich nahm an, dass der Verlust seiner Freunde, die er bei seinem Umzug zurücklassen musste ihn mehr schmerzte, als seine Eltern vermuteten als sie sich zu diesem drastischen Ortswechsel entschlossen hatten. Ich sah mich weiter um und konnte einige Familienfotos erkennen. Urlaubsfotos aus Europa. Wie sein Leben wohl vor dem Umzug nach Temecula gewesen sein musste? Ich wusste nicht viel von London. Ich hatte von Prinz William und Harry gehört, wer hatte das nicht. Ich wusste welche Sehenswürdigkeiten mich erwarten würden wenn ich eine Reise nach England machen wollte. Doch damit war mein Wissen auch schon erschöpft.
Die Familie schien viel Wert auf das Festhalten der Familiengeschichte auf Fotografien zu legen. Umso mehr wunderte es mich, dass kein einziges Foto von Brians Mom im schwangeren Zustand zu finden war. Kein Babybauch, keine Fotos kurz nach seiner Geburt. Die ersten Fotos, die ich entdecken konnte waren im Alter von 4-5 Jahren. Davor war nichts.
Vielleicht hatten sie zu diesem Zeitpunkt ja noch keine Kamera. Eigentlich ein lächerlicher Gedanke, sie hatten bestimmt schon eine Kamera, aber vielleicht gab es einen Unfall und die Fotos wurden vernichtet. Oder vielleicht…
Ich hörte Schritte hinter mir. Ich drehte mich um und sah Brian auf mich zukommen, seinen Blick auf den Boden gerichtet. Irgendwie kamen mir seine Bewegungen eigenartig vor. Anmutig und doch plump. Kräftige, feste Schritte und doch so leichtfüßig als ob er den Boden überhaupt nicht berühren würde. Ich merkte wie ich bei jedem Schritt, den er näher kam, einen Schritt nach hinten ging. Als würde ich versuchen die Distanz zwischen uns so groß wie möglich zu halten.
Er kam auf mich zu und hob seinen Blick. Als unsere Augen sich begegneten waren alle Versuche meine Gefühle für diesen Jungen wegzusperren zunichte gemacht. Ich spürte wie mein Magen sich im Kreis drehte. Die kleinen Härchen auf meinen Armen stellten sich auf und meine Hände wurden schwitzig.
„Hallo Bonnie. Danke, dass du vorbei gekommen bist.“
Ich wusste, dass es die Höflichkeit gebot ihn zu grüßen und ihm zu sagen, dass es kein Problem war und ich ihm gerne bei Mathe half. Doch es fiel mir unendlich schwer auch nur ein Wort heraus zu bringen so gebannt war ich von seinem Erscheinungsbild.
„Ja.“, war alles was über meine Lippen kam.
Ich sah ein sanftes Lächeln über sein Gesicht huschen. Es wirkte ehrlich und aufrichtig, nicht so aufgesetzt wie bei unserem ersten Treffen, als Jenny ihm einer unendlich langen Fragestunde unterzog.
Er ging zur Tür seines Zimmers, die noch immer geschlossen war. Als er an mir vorbei schritt konnte ich ein kurzes Stöhnen nicht unterdrücken. Er roch so gut. Brian trug kein Parfum oder verwendete irgendein besonderes Duschgel. Nein, es war sein eigener Geruch, sein Körpergeruch der mich so beeindruckte.
Er öffnete die Tür zu seinem Zimmer und schritt hindurch. Auf seinem Schreibtisch lagen breit aufgefächert alle Mathebücher und Übungsbeispiele. Er schien das mit der Nachhilfe sehr ernst zu nehmen. Ich hingegen hatte schon fast vergessen warum ich eigentlich hergekommen war. Ich hatte nur noch diesen Geruch und dieses Lächeln im Kopf. Er ging zu seinem Schreibtisch und blieb kurz davor stehen. Dann wandte er sich mir zu.
„Willst du nicht hineinkommen?“ Seine Stimme war so sanft und wohltuend in meinen Ohren.
Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich noch immer vor der geöffneten Tür stand und das Zimmer noch nicht einmal betreten hatte.
„Natürlich.“ Ich schüttelte den Kopf, so als wollte ich all die Gedanken der letzten Minute von mir stoßen, schärfte meinen Blick und ging in das Zimmer hinein.
Ich sah mich ein wenig in seinem Privatraum um. Es war wie jedes andere Zimmer auch. Ein Schreibtisch, ein Bücherregal, ein Bett und ein paar CDs in einem Regal mit einer Ipod-Dockingstation. Ein Computer, der auf einem separaten Schreibtisch stand um nicht zu viel Platz zum Lernen auf dem anderen, wo er die Mathebücher ausgebreitet hatte, wegzunehmen.
Er setzte sich auf einen der beiden Stühle, die bereits vor dem Tisch standen. Scheinbar hatte er auch die Stühle schon vor meinem Eintreffen vorbereitet, damit wir gleich zur Sache kommen konnten. Ein Indiz dafür, dass es ihm nur um Mathe ging und er keinerlei romantisches Interesse an mir hatte. Aber warum hätte er auch ein solches Interesse haben sollen? Ich war nichts besonderes, ein normales Mädchen mit einem überdurchschnittlichen Matheverständnis, einem festen Freund und einer Freundin, die ihm sozusagen den Hof machte.
Ich ging zögerlich in Richtung Stuhl und ließ mich dann langsam und völlig geräuschlos darauf nieder. Während ich mich setzte schob ich den Stuhl noch ein wenig von Brian weg um mehr Distanz zwischen uns zu schaffen. Schließlich reichte mir die jetzige Entfernung zwischen uns schon völlig um den Verstand zu verlieren. Was wohl passieren würde, wenn ich ihm noch näher wäre? Schnell verdrängte ich die Bilder, die vor meinem geistigen Auge auftauchten und versuchte meinen Körper daran zu hindern mir die Schamesröte ins Gesicht zu treiben.
Nach einer kurzen Atempause löste ich den Knoten in meinem Hals und wir fingen mit der Nachhilfestunde an. Er begriff recht schnell. Seine Probleme kamen scheinbar nur daher, dass er den Stoff noch nicht durchgemacht hatte und er alle derzeitigen Fragestellungen, die für den Test wichtig waren, noch gar nicht kannte. Nachdem ich ihm die Beispiele einmal erklärt hatte, war er auch schon in der Lage alle dazugehörigen Problemstellungen ohne weitere Fragen zu lösen. Seine schnelle Auffassungsgabe beeindruckte mich. Während des Lernens mied ich seine Blicke. Ich starrte die ganze Zeit über nur auf die Bücher und konzentrierte mich darauf den Kopf nicht reflexartig zu ihm zu drehen sobald er mir eine Frage stellte.
„Was hältst du von einer kleinen Pause?“, fragte er nach einer Stunde.
„Ja, gerne. Lassen wir das Ganze mal ein wenig sacken.“
„Möchtest du etwas trinken?“
„Ja, ein Glas Wasser wäre nett.“
Er stand auf und ging hinunter in die Küche, wo ich seine Mutter neugierig fragen hörte wie es wohl mit mir lief und ob er sich anständig benahm.
Irgendwie war es eine äußerst belustigende Situation. Ihr Sohn, der Ausbund an Höflichkeit seit ich dieses Haus betreten hatte, würde sich mir gegenüber unanständig benehmen? Ich war nur froh, dass sie meine Gedanken nicht hören konnte.
Während Brian mit äußerster Geduld auf alle Fragen seiner Mutter einging, stand ich ebenfalls auf um mir meine eingeschlafenen Beine ein wenig zu vertreten. Ich durchschritt sein Zimmer und sah mich ein wenig genauer um. Bücher wie William Shakespeares Romeo und Julia und Tristan und Isolde stachen mir ins Auge. Ein Junge, der gerne solche, wie man so schön sagt, Schnulzen liest, war doch sehr ungewöhnlich. Mir fiel das Buch, dass er in der Schule und auf dem Basketballplatz bei sich hatte, auf. Der Einband war auffällig, schwarz-orange mit goldenen Verzierungen. Auf dem Buchrücken stand „Träume analysieren und verstehen.“ Eigenartig, warum interessierte sich Brian für solch eine doch ungewöhnliche Lektüre? Unterhalb der Bücher waren CDs aufgestellt. Ich konnte zu meiner Freude eine CD von Paramore entdecken. Und dann, unter einem Stapel Bücher am Fuß seines Bücherregals, entdeckte ich einige Zeichnungen. Ich ging näher hin um sie mir anzusehen.
Vor dem Bücherregal angekommen ging ich in die Hocke und schob die literarischen Werke, die über die Zeichnungen gelegt waren, beiseite. Im ersten Moment erkannte ich das Motiv gar nicht richtig, wahrscheinlich wollten meine Augen mich vor der Überraschung und dem Entsetzen, dass mich erwartete, schützen und verschleierten meinen Blick.
Doch nachdem ich meine Sicht geschärft und die Bilder erneut betrachtet hatte, wusste ich, warum meine Augen mir solch einen Streich spielen wollten.
Es waren bestimmt zehn oder mehr Bilder gewesen, die ich alle eines nach dem anderen in die Hand nahm und betrachtete. Jedes von ihnen zeigte eine junge Frau, mit langen blonden Haaren, haselnussbraunen Augen und einem mir vertrauten Gesicht. Dieses Gesicht war mir vertrauter als jedes andere, das ich kannte. Denn es war mein Eigenes. Mein Antlitz schaute mir auf diesen Bildern entgegen. Auf jedem Einzelnen war ich zu sehen, sitzend auf einer Wiese (moment mal, diese Wiese kannte ich doch), lehnend an einem Baum und lachend, oder die Hände nach jemandem ausstreckend. Das was ich sah verwirrte mich dermaßen, dass ich wie gelähmt vor den Bildern sitzen blieb ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Ich entdeckte Brians Unterschrift am unteren Rand der Zeichnungen und eine Datumsangabe. Doch das Erstellungsdatum der Zeichnungen lag weit vor unserem ersten Treffen. Er musste diese Kunstwerke also gemalt haben bevor wir uns das erste Mal begegnet waren.
Tausend Gedanken schossen gleichzeitig durch meinen Kopf. Wie konnte er mich zeichnen bevor er mich sah. Woher wusste er jedes Detail meines Gesichts, sogar den Leberfleck auf der rechten Wange hatte er miteinbezogen. Das konnte doch kein Zufall sein.
Ich merkte gar nicht, dass Brian den Raum mittlerweile wieder betreten hatte. Erst als er sich neben mich auf den Boden setzte und mich erwartungsvoll, ein wenig eingeschüchtert und peinlich berührt ansah und sein Geruch meine Nase füllte, sah ich auf zu ihm und registrierte, dass ich nicht mehr alleine im Zimmer war. Meine Augen waren noch immer ungläubig geweitet und mein Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
„Wieso hast du mich gezeichnet?“, flüsterte ist, noch immer geschockt von meiner Entdeckung.
Ich konnte seine Antwort nicht abwarten und stellte gleich die zweitwichtigste Frage.
„Wie konntest du ein Bild von mir zeichnen wenn du mich noch nicht mal gekannt hast?“ Ich zeigte auf das Datum auf einem der Bilder und sah ihm direkt entgegen.
Er senkte seinen Blick, sah auf die Zeichnungen und dann wieder in meine Augen.
„Ich habe dich in meinen Träumen gesehen.“
Nein, das konnte nicht sein. So etwas existierte nicht. So etwas war nicht möglich. Im realen Leben würde so etwas doch nie passieren. Ich sah abwechselnd auf die Zeichnungen und zu Brian. Ich spürte wie eine überwältigende Angst in mir aufstieg. Alles in mir zitterte und bebte. Ich sprang auf, packte meine Sachen und verließ Brians Haus. Mit schnellen Schritten rannte ich die Straße hinunter. Ich hörte wie Brian mir nachrief und die ersten paar Schritte folgte. Doch dann ließ er ab und ich verschwand hinter der Hecke unseres Gartens, hinein in die Haustüre und hinauf in mein Zimmer.
Ich warf den Rucksack in eine Ecke, schmiss mich aufs Bett, presste die Augen so fest ich konnte zusammen und sagte immer und immer wieder denselben Satz.
„Das ist nicht möglich. Das gibt es nicht. Das ist einfach nicht möglich. So etwas Verrücktes gibt es nicht.“
Ich hoffte durch das häufige Aussprechen der Worte eine Wirkung zu erzielen. Ich wünschte mir ich hätte mir das alles nur eingebildet und in Brians Zimmer waren keine Zeichnungen von mir, die er vor unserem Kennenlernen angefertigt hatte.
Tränen liefen mir das Gesicht herunter. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Ich wusste, dass ich etwas für Brian empfand obwohl ich ihn nicht kannte. Er war mir so vertraut und alles in mir wollte bei ihm sein. Ich wusste, dass ich selbst von ihm träumte und ihn aus meinen Erinnerungen heraus gezeichnet hatte. Doch die ganze Zeit über war ich mehr oder weniger davon überzeugt, dass es sich um einen verrückten Zufall handelte. Niemals hätte ich auch nur im Entferntesten erwartet, dass Brian ebenfalls solche Träume von mir hatte.
Ich war völlig verwirrt und aufgelöst und irgendwie erschöpfte mich diese ganze Geschichte so sehr, dass ich voll angezogen und verheult in meinem Bett einnickte.
Etwas später klopfte es an meine Tür. Meine Mutter trat herein und fragte mich ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich bejahte. Ich wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen machte. Mit leiser Stimme informierte sie mich darüber, dass unten jemand auf mich warten würde. Er hätte gemeint es sei dringend und er würde mich gerne sprechen. Ich ahnte bereits wer diese Person war. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mir nachkommen würde. Mein Abgang war doch sehr unhöflich und abrupt.
Meine Angst wandelte sich in Zorn. Wie war das alles überhaupt möglich? Wie konnte so etwas nur passieren? Und vor allem, wieso tat Brian mir das alles an? Wäre er doch nur in London geblieben, dann wäre ich jetzt noch immer glücklich mit Phil zusammen und müsste mir nicht über irgendwelche verrückten Träume und deren Folgen für mein weiteres Leben Gedanken machen. Ich hätte meine nächtlichen Ausflüge in andere Welten abhaken und als kindische Fantasien ablegen können.
Ich bat Mom ihn nach oben zu schicken. Während ich auf sein Eintreffen wartete ging ich nervös von links nach rechts und versuchte mich zu sammeln. Ich musste ihn einfach zur Rede stellen. Er musste mir Antworten auf meine Fragen geben, warum wir voneinander träumten und was es mit diesem ganzen Irrsinn auf sich hatte.
Als er mein Zimmer betrat, hatte sich meine Hysterie ins Unermessliche gesteigert. Ich trat neben ihn, schloss die Tür hinter uns und dirigierte ihn zu meinem Bett. Er ließ sich darauf nieder und ich ging hinüber zu meinem Nachttisch, in dessen Lade sich noch immer meine Zeichnungen von dem Jungen aus meinem Traum befanden. Ich nahm sie und schmiss sie aufs Bett. Brian senkte seinen Blick und betrachtete die Bilder. Er erkannte sich ohne Zweifel sofort in Ihnen wieder.
Er lächelte sanft. Warum lächelte er? Es gab nichts zu lachen. Die ganze Situation war einfach nur verrückt.
„Kannst du mir das erklären?“, plusterte ich hinaus.
„Wieso habe ich dich in meinen Träumen gesehen. Wo kommt dieses Gefühl her und warum verdammt nochmal hast du mich auch gezeichnet? Was ist hier eigentlich los?“
Die letzten Worte schrie ich schon fast, so groß war meine Aufregung. Ich konnte seine Antwort kaum erwarten, mein Herz schlug so schnell, dass ich meinen Puls in den Ohren spüren konnte.
„Ich weiß es nicht.“, stammelte er.
„Ich weiß nicht warum wir uns gezeichnet haben. Und ich weiß auch nicht warum wir voneinander geträumt haben.“
Seine Worte klangen ehrlich. Enttäuscht und verzweifelt ließ ich mich neben Brian auf das Bett sinken.
Ich legte meinen Kopf in meine Hände und seufzte ein paar Mal tief und endlos lang.
Brian rutschte ein Stück näher zu mir.
„Aber ich weiß, dass ich nicht unglücklich darüber bin dich zu sehen. Und ich hatte gehofft es würde dir auch so gehen.“
Mein ganzer Körper war in Aufruhr, alles in mir rebellierte gegen die Gefühle, die ich für Brian empfand.
„Ich weiß es nicht. Du… du bringst mich so durcheinander. Ich kann an nichts anderes mehr denken als...“
Ohne dass ich den Satz beendet hatte, wusste Brian genau was ich meinte, denn er beendete ihn für mich.
„Als bei dir zu sein. Ja, mir geht es genauso.“
Ein Moment der Stille trat ein, dann meinte Brian „Ich habe das Gefühl als würden wir beide zusammengehören, als würde uns irgendetwas verbinden.“
Er nahm meine Hand und hielt sie in seiner. Seine Finger umschlangen meine und nichts auf der Welt hätte mich dazu bringen können diesen Griff zu lösen. Nichts, außer dem Gedanken an Phil und Jenny.
„Nein.“, sagte ich laut und voller Inbrunst.
„Nein, das ist verrückt. Ich kann das einfach nicht.“ Ich sprang auf und stellte mich vor Brian hin. So sehr mich dieser Junge anzog, so sehr musste ich auch versuchen mich von ihm fern zu halten.
„Ich bin mit Phil zusammen, das weißt du. Und dann ist da noch Jenny. Ich kann sie nicht nochmal verletzen. Es geht einfach nicht.“
Brian sah mich mit dem traurigsten und enttäuschtesten Blick an, den ich jemals gesehen hatte. Er stand auf und stellte sich mir gegenüber, versuchte erneut meine Hand zu halten. Doch ich zog sie weg. Ich war selbst überrascht wie entschlossen ich war ihm die kalte Schulter zu zeigen.
Brian versuchte es kein weiteres Mal. Er senkte seinen Blick und ging.
Ich hörte die Tür hinter ihm ganz leise und sanft zuschlagen. Er schien nicht wütend zu sein. Scheinbar hatte ich ihn so verletzt, dass neben Traurigkeit kein Platz mehr für Hass oder Wut war, und diese Erkenntnis fügte mir selbst unendliche Schmerzen zu. Doch ich wusste, dass ich das Richtige tat. Ich konnte nicht alles nur wegen eines Traumes über den Haufen werfen. Ich musste so gut es ging vernünftig bleiben.