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2. Kapitel

Gegenwart

Ihre Großmutter lag abgemagert bis auf die Knochen im Krankenbett des Hospizes „Zum heiligen Lazarus“.

Das düstere Gemäuer aus der Mitte des 18. Jahrhunderts war gründlich saniert und erst vor wenigen Jahren seiner jetzigen Bestimmung übergeben worden. Überreste der ursprünglichen Architektur, die das Gebäude üppig mit Säulen und Gesimsen ausgeschmückt hatte, verliehen der Anstalt ihre altertümliche Ausstrahlung.

Immer, wenn Lisa auf dem Weg zu den Krankenbesuchen bei ihrer Großmutter, durch die im Zwielicht endlos erscheinenden Säulengänge schritt, stellte sie sich vor, wie in den dunklen, geheimnisvollen Ecken die Geister der vergangenen Jahrhunderte ihr Unwesen trieben und sich die Seelen der erst kürzlich hier Verstorbenen dazu gesellten. Aber die morbide Atmosphäre dieses Ortes, einer ehemaligen Krankenanstalt, befand sich durchaus im Einklang mit seiner heutigen Nutzung als Hospiz.

Als sie an diesem Nachmittag gedankenverloren um die letzte Ecke des Säulengangs spazierte und den Blick hob, erschrak sie fast zu Tode. Ganz am Ende des breiten Flures meinte sie eine geheimnisvolle Gestalt zu erkennen. Sie erinnerte an den Sensenmann auf mittelalterlichen Gemälden, als noch die Pest im Lande wütete. Zögerlich ging sie weiter, aber als sie um die Ecke bog, hatte sich die Erscheinung in Luft aufgelöst. Sah sie jetzt schon Gespenster? Vielleicht löste der nahende Tod ihrer geliebten Großmutter Halluzinationen bei ihr aus? Langsam zweifelte sie an ihrem gesunden Menschenverstand, aber sie stand in letzter Zeit wirklich unter Stress. Entschlossen verdrängte sie dieses seltsame Erlebnis und konzentrierte sich auf den bevorstehenden Krankenbesuch.

Lisa dachte, dass die Leitung des Hospizes sich alle Mühe gab, den unheilbar Kranken eine angenehme Umgebung zu bereiten, als sie vorsichtig die Tür öffnete. Obwohl noch die letzten Sonnenstrahlen des Spätsommers ins Krankenzimmer schienen, brannte eine Kerze auf dem kleinen Besuchertischchen still vor sich hin. Darüber hing ein Heiligenbild an der Wand. Es zeigte sie Jungfrau Marie mit dem kleinen Jesuskind auf dem Schoß vor einem goldenen Hintergrund und sollte wohl eine tröstliche Atmosphäre verbreiten. Trotzdem war es etwas Anderes als die Umgebung des eigenen Zuhauses, befand Lisa, als sie die Einrichtung des Zimmers musterte.

Zaghaft trat sie an das Krankenbett, um die Hand ihrer Großmutter zu ergreifen und hielt erschrocken inne.

Sie war zu spät gekommen!

Unendliche Traurigkeit durchflutete sie, als sie in das wächserne Gesicht der Toten blickte. Eilig tastete sie nach dem Puls, aber sie erkannte sofort, obwohl der Körper noch warm war, dass der Sensenmann seine Beute geholt hatte. Unwiederbringlich und Endgültig!

Erst in diesem Moment, als sie ihren ersten Schock überwunden hatte und sich näher herunter beugte, bemerkte sie, dass die Verstorbene ihrer Großmutter zwar stark ähnelte, aber dass sie sich offensichtlich im Zimmer geirrt haben musste, da ihr die Tote fremd war .

Hastig floh sie aus dem Raum und informierte eine Pflegerin, die ihr auf dem Gang entgegeneilte. Dann suchte sie nach dem Krankenzimmer in dem ihre Oma untergebracht war und betrat es mit klopfendem Herzen.

Innerlich inzwischen auf alles gefasst, trat sie zum Bett und tastete vorsichtig nach der Hand ihrer Großmutter. Sie spürte das zarte Pochen der Adern und eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Aber als sie die Hand, die sich kraftlos und trocken wie Papier anfühlte, in der ihren hielt, war Lisa sich schmerzhaft bewusst, dass unweigerlich die Zeit des Abschieds gekommen war.

Ihr Blick schweifte zum Fenster. Der Spätsommer lag über dem Land und durch das geöffnete Fenster des Krankenzimmers strömte ein lauer Sommerwind, der schon den Duft des nahenden Frühherbstes in sich trug.

Der Geruch der überreifen Äpfel und Pflaumen, die stetig von den Obstbäumen auf die Wiesen der Umgebung plumpsten, fand seinen Weg bis in das Zimmer ihrer Großmutter. Die laue Brise weckte in Lisa Erinnerungen an ihre Kindheit, als sie mit ihrer Großmutter zusammen in der Küche am altmodischen Herd gestanden und Apfelmus aus Fallobst eingekocht hatten.

Heimlich haderte Lisa mit dem Schicksal.

Sie liebte ihre Großmutter über alles und wünschte sich sehnsüchtig, dass Gott ihr ein längeres Leben vergönnt hätte. Sechsundsiebzig Jahre war doch heutzutage noch gar nicht so ein hohes Alter.

Lisa kannte sich da bestens aus, schließlich arbeitete sie bereits seit drei Jahren als Altenpflegerin in der Villa "Abendruh", dem besten Seniorenpflegeheim ihrer Heimatstadt. Tagtäglich hatte sie mit viel, viel älteren Bewohnern zu tun. Die meisten Heimbewohner waren achtzig Jahre und älter. Es wohnten sogar drei hundertjährige Patienten auf ihrer Pflegestation.

Sie tröstete sich damit, dass ihre Großmutter ein schönes, erfülltes Leben gelebt hatte und bis zu ihrem schweren Schlaganfall sehr rüstig und munter gewesen war.

Lisa warf einen Blick auf die große Uhr, die über dem Türrahmen angebracht war. Die Zeit verrann unerbittlich. Um 23:00 Uhr musste sie ihren Schichtdienst im Seniorenpflegeheim antreten, bis dahin blieb ihr nicht mehr viel Zeit. Zärtlich hielt sie die Hand ihrer Großmutter, die sich beängstigend zerbrechlich anfühlte, wie die Knochen eines kleinen Vögelchens.

Die bläuliche Lampe über dem Krankenbett flackerte ein wenig. Der Infusionsbehälter, in dem sich schmerzstillende Medikamente befanden, sorgte dafür, dass ihre Großmutter keine Schmerzen verspürte. Lisa hatte sich alle Medikamente, die die alte Dame erhielt, von den behandelnden Ärzten genau erklären lassen. Allerdings war die todkranke Frau dadurch sehr müde. Sie lag mit geschlossenen Augen da, als ob sie schliefe, aber Lisa war sich nicht sicher, was sie mit bekam.

Ein weiterer, verzweifelter Blick auf die Uhr über der Zimmertür, erinnerte Lisa unerbittlich daran, dass sie sich nun, vielleicht für immer, von ihrer Großmutter verabschieden musste.

Sie verharrte still, wie festgefroren, auf dem einzigen Besucherstuhl neben dem Bett. Nun beugte sie sich vor und schob ihr Gesicht vorsichtig in die Nähe des Ohrs ihrer Großmutter, um ihr noch einige Abschiedsworte zu zuflüstern.

Lisa zuckte erschrocken zurück, als ihre Großmutter überraschend die Augen aufschlug und sie mit fiebrig glänzendem Blick anschaute. Die todkranke Frau umklammerte Lisas Hand mit ihren knochigen Fingern und murmelte mit schwacher Stimme einen Satz, an den sich Lisa für den Rest ihres Lebens erinnern würde.

„Mein liebes Enkelkind, ich weiß, dass es mit mir zu Ende geht. Möge dir ein gutes Schicksal beschieden sein. Aber um Eines wollte ich dich inständig bitten, ich trage seit meiner Kindheit ein Familiengeheimnis mit mir herum und ich möchte dass du versuchst, dieses furchtbare Geheimnis zu lüften. Ich fand immer, schon als du noch ein Schulkind warst, dass du über einen wachen Verstand verfügst und nicht jedes Schauermärchen für bare Münze nimmst. Versprich es mir in die Hand. Bitte!“

Totensee

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