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5. Kapitel

„Entschuldige die Störung Großmutter, aber du kannst jetzt in aller Ruhe mit deiner Geschichte fortfahren.“, ermunterte sie die alte Dame.

„Irgendwann sahen wir von meiner Schwester Margot nur noch einen kleinen Punkt in der Ferne und dann gar nichts mehr. Sie ist einfach nicht zurückgekommen. Verschwunden. Wir haben uns die Seele aus dem Leib gerufen. Wir haben geschrien und gebrüllt. Als das alles nichts half, sind wir ins Dorf gerannt und haben Hilfe geholt. Dann sind einige Männer aus dem Dorf, zusammen mit deinem Uropa, hinausgerudert um sie zu suchen. Nichts. Wie vom Erdboden verschluckt. Genau wie es die Legende beschreibt.“

Lisa hörte inzwischen höchst gespannt dieser unglaublichen Geschichte zu und fragte mit angehaltenem Atem nach:

„Und was war mit dem Boot? Ist das wieder aufgetaucht? Oder blieb das auch verschwunden?“

Ihre Großmutter wirkte zerbrechlicher denn je. Lisa bemerkte, wie ihre Lebenskräfte stetig schwanden. Sie hatte in ihrem jungen Leben schon genug alte Menschen beim Sterben begleitet, um die Anzeichen zu deuten. Also drängte sie ihre Großmutter fort zu fahren, sonst würde sie das Ende der Geschichte womöglich nie mehr hören.

„Ja, das kleine Boot ist wieder aufgetaucht. Am nächsten Morgen, in aller Herrgottsfrühe, wurde es gefunden. Das Seltsame war jedoch, dass es wieder vertäut am Steg des Ufers lag, genau wie am Tag zuvor. Wie von Geisterhand. Kein Mensch im ganzen Dorf konnte sich das erklären. Überall wurde herum gefragt, ob jemand das Boot gefunden und an der Anlegestelle angebunden hätte. Aber keiner hatte etwas gesehen oder gehört. Alle waren der Meinung, dass könne nur ein Gespenst gewesen sein. Es gab einfach keine normale Erklärung.“

„Was ist in den Jahren nach dem Verschwinden deiner Schwester geschehen? Hat man ihre Leiche jemals gefunden? Oder blieb sie verschwunden?“, fragte Lisa atemlos nach.

Die geheimnisvolle Geschichte hatte sie nach und nach ganz in ihren Bann gezogen. Aber ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie nun wirklich zum Ende kommen mussten, wenn sie nicht zu viel von ihrer Schicht versäumen wollte. Inzwischen war der heiße Spätsommertag dem Abend gewichen und es war so dämmerig im Raum geworden, dass Lisa die kleine Nachttischlampe anknipste. Ihr müdes Gesicht spiegelte sich in der dunklen Scheibe des Fensters wider.

Mit aller letzter Kraft, wie es Lisa schien, fuhr die todkranke Frau mit ihrer Erzählung fort.

„Ich weiß nicht mehr, was später passiert ist…Ich bin dann weggezogen. Unsere Eltern sind an ihrer Trauer fast zerbrochen. Es war ja nicht das einzige Unglück… und es wurde viel gemunkelt. Die Gerüchteküche kochte… Ich kann mich nur dunkel erinnern, dass es ein Denkmal für die verschwundenen Opfer des Totensees gab, damit die Angehörigen wenigstens einen Ort zum Trauern hatten.

Meine letzte Bitte an dich, meine liebe Enkelin, ist, dass du herausfindest, ob diese Gedenkstätte noch existiert. Ich möchte gerne, dass du dort einen Strauß roter Rosen im Gedenken an deine Großtante nieder legst. Außerdem bitte ich dich inständig darum, die überaus seltsamen Umstände ihres Verschwindens aufzuklären. Ich konnte mich nie, mein ganzes Leben lang nicht, damit abfinden, dass ihr Tod von so vielen Rätseln umgeben ist. Jetzt freue ich mich darauf, ihr im Jenseits wieder zu begegnen.“

Nach diesen Worten, die sie mit immer schwächer werdender Stimme von sich gab, schloss ihre Großmutter die Augen für die Ewigkeit. Nachdem sie ihren letzten Atemzug getan hatte, verlosch auch die Kerze auf dem kleinen Besuchertischchen. Auch sie hatte das Ende ihrer Brenndauer erreicht. Ein zarter Rauchfaden kringelte sich hinauf zur hohen Zimmerdecke.

Lisa erschauerte unwillkürlich, sie fühlte, wie der Sensenmann in diesem Augenblick die Seele ihrer Großmutter ins Jenseits entführte, während ihr Körper als sterbliche Hülle im Zimmer zurückblieb. Mit einer zarten, fast streichelnden Handbewegung schloss sie ihrer Großmutter die Augen. Dann ging sie mit entschlossenen Schritten zum Fenster und zog mit beiden Armen die Fensterflügel weit auf.

„Flieg, Großmütterchen, flieg hinauf in den Himmel.“ Wisperte sie mit heiserer Stimme.

Jetzt konnte Lisa ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie rannen ihr über das Gesicht bis hinunter auf ihr Sommerkleid. Sie blieb noch einige Zeit neben der sterblichen Hülle ihrer Großmutter sitzen. Nach einer kleinen Ewigkeit erhob sie sich und verließ das Zimmer, um der Pflegekraft den Tod ihrer Großmutter zu melden.

Als alle Formalitäten erledigt waren und sie endlich das Hospiz verließ, spürte sie die kühle Nachtluft auf ihrer Haut und erzitterte unwillkürlich in ihrer dünnen Kleidung. Bereits jetzt fühlte sie die große Bürde, die diese letzte Bitte ihrer Großmutter für sie bedeutete, schwer wie Blei auf ihrer Seele lasten.

Unvermittelt überkam sie eine Welle der Übelkeit. Lisa war froh über die schützende Dunkelheit, als sie sich hinter einem Hortensienstrauch erbrach. Mit wackeligen Knien schleppte sie sich zum Parkplatz weiter, wo der Kleinwagen ihrer Mutter auf sie wartete. In der Ferne hörte sie bereits das wütende Donnergrollen, das nach diesem schwülen Tag ein heftiges Unwetter ankündigte. Sie flüchtete vor dem heranziehenden Gewitter ins Innere des Wagens. Gerade als sich ein krachender Donnerschlag, genau über ihrem Kopf entlud, schlug Lisa hinter sich die Autotür zu.

Totensee

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