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7. Kapitel

Bereits eine Woche später saß Lisa im Zug, der sie in die, dem Kloster am Nächsten gelegenen, Kleinstadt fahren sollte. Von hier aus musste sie mit dem Bus weiter reisen. Auch das hatte die Internetseite dem interessierten Leser nicht verschwiegen, dass nämlich die Anreise etwas umständlich und beschwerlich sei. Aber dieser Umstand garantiere die Ruhe und Abgeschiedenheit des Reiseziels.

Lisa schaute verträumt aus dem Fenster des Zuges auf die schnell vorbei fliegende Landschaft, die sich stetig veränderte. Erst allmählich gelang es ihr, die Gedanken an die Arbeit abzuschütteln und sich auf die kommenden Urlaubstage zu freuen. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, nahm sie ihre Ohrstöpsel und hörte ihre Lieblingsmusik, die sie auf ihrem Handy gespeichert hatte.

Als ihr absoluter Lieblingssong gespielt wurde, der sich als Ohrwurm geradezu in ihr Gehirn gefressen hatte, riss sie die Ohrstöpsel abrupt heraus. Durch diesen Song wurden ihre Gedanken unweigerlich in eine andere schmerzhafte Richtung gelenkt. Der Song erinnerte sie zu stark an ihre verflossene Liebe zu ihrem Exfreund David und überflutete sie mit trübseligen Gedanken. Lisa war immer noch verletzt und wütend zugleich über die Geschichte, wie ihr Exfreund sie mit ihrer Freundin betrogen hatte. Letztendlich hatte sie gehandelt und ihm den Laufpass gegeben. Aber sie war, was diese Angelegenheit betraf, wahnsinnig empfindlich, obwohl die Trennung jetzt schon sechs Monate hinter ihr lag.

Lisa schob alle düsteren Gedanken von sich und konzentrierte sich wieder auf die am Zugfenster vorbeiziehende Landschaft.

Erst fuhr der Fernzug durch Felder und Wiesen, dann wurde es langsam hügeliger und waldiger. Als sie auf der letzten Etappe ihrer Zugreise in einen Regionalzug umsteigen musste, zockelte der Triebwagen beschaulich durch eine felsige, romantische Waldlandschaft. In der Ferne konnte Lisa bereits das in der Sonne glitzernde Wasser des schwarzen Vulkansees erahnen. Die ganze Szenerie wirkte friedlich und Lisa konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass hier jemals etwas Schreckliches passiert war.

Als der Zug mit quietschenden Rädern in den kleinen, verlassen daliegenden Kleinstadtbahnhof einfuhr, schulterte sie erwartungsvoll ihren Wanderrucksack und kletterte auf den Bahnsteig. Auf dem Bahnhofsvorplatz trat sie in die warme Sonne des Spätsommers hinaus. Genießerisch atmete sie die würzige Landluft ein, die bereits den Hauch des Frühherbstes in sich trug.

Falls es ihr nicht gelang, irgendetwas Wichtiges heraus zu finden, konnte sie sich wenigstens auf einige ruhige Wandertage freuen. Dieser Gedanke zog ihr durch den Kopf, als sie bereits auf dem Bahnhofsgelände die ersten Wegweiser für die zahlreichen ausgewiesenen Wanderwege erblickte, die hier in der Gegend zu finden waren. Das reinste Wanderparadies versprachen die Wanderbücher.

Sie erspähte die Busstation auf dem verlassen wirkenden Bahnhofsvorplatz und hielt nach dem Fahrzeug Ausschau, das sie direkt zum Kloster bringen sollte.

Endlich fand sie den richtigen Bus und wechselte mit dem Fahrer einige Worte, der offensichtlich gelangweilt hinter dem Steuer hockte und sich über ein Gespräch freute. Sie erzählte ihm, dass sie zum Kloster unterwegs sei, weil sie dort einen Wanderurlaub verbringen wolle.

Er lachte gutmütig und meinte:

„Ja, hier kommen viele erschöpfte Touristen zum Wandern her. Sind alle ganz begeistert von dem Kloster und den Kursen dort. Lauter seltsame Sachen bieten die dort an. Yoga, Töpfern, Meditation und all so ein Zeugs.“

Als sich der Bus nach und nach mit anderen Reisenden gefüllt hatte, brach er das Gespräch ab, legte energisch den Gang ein und fuhr los.

Nach einer Weile kam das mittelalterliche Kloster in Sicht und Lisa reckte ungeduldig den Hals, um einen Blick zu erhaschen. Das düster anmutende Ensemble der mächtigen Bauten lag eingebettet in die wild romantische Landschaft, deren bewaldete Hügelketten sich bis an den fernen Horizont erstreckten. In der Nähe glitzerte eine Wasserfläche durch das dichte Laub der Bäume.

Direkt vor der Klostermauer, auf einem gepflasterten Platz mit einer riesigen Eiche in der Mitte, umgeben von einer schmiedeeisernen Bank zum Rasten, lud der Bus seine menschliche Fracht aus.

Lisa und noch einige andere Passagiere standen plötzlich etwas verloren auf dem Vorplatz herum und wussten erstmal nicht wohin mit sich und dem Gepäck.

Zum allerersten Mal streifte Lisa der Gedanke, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, sich vollkommen allein und schutzlos auf die Spurensuche der unerklärlichen Todesfälle zu begeben. Ganz in den Tiefen ihres Magens machte sich ein Gefühl dumpfer Angst breit, das langsam von ihr Besitz ergriff. Ehe sie sich diesem Gefühl ganz und gar auslieferte, riss sie sich zusammen und beschloss, sich auf die Umgebung zu konzentrieren.

Aus den Augenwinkeln heraus unterzog Lisa ihre Mitreisenden einer heimlichen Musterung. Es handelte sich überwiegend um ältere Herrschaften, wie sie bereits nach einem Blick feststellte. Außer ihrer Person zählte sie noch zehn weitere Gäste. Sie ging jedenfalls stark davon aus, dass es sich, genau wie sie, um neue Gäste des Klosters handelte. Es waren sieben ältere Damen, mit vom Wetter gegerbten Gesichtern und in sportlicher Wanderkluft, dabei. Lisa kam es vor, als ob sie eine Art Club bildeten, so eng wie die zusammengluckten.

Dann beobachtete Lisa noch zwei ältere Herren. Sie wirkten ebenfalls sehr sportlich für ihr Alter und aus den Gesprächsfetzen, die zu ihr hinüberwehten, erfuhr sie, dass es sich um zwei befreundete Männer handelte, die sich hier im Kloster von ihrer Herz-Kreislauf Reha erholen wollten. Sie unterhielten sich über Kardiosport in der Kurklinik und hofften hier auf ruhigere Zeiten.

Der einzige jüngere Klostergast war zumindest annähernd in Lisas Alter. Sie schätzte ihn auf Ende Zwanzig, also höchstens sechs, sieben Jahre älter als sie selbst.

Allerdings entsprach er genau dem Typus Mann, den Lisa heimlich als grässlich unattraktiv einstufte. Er war groß, dürr und braungebrannt wie eine Vogelscheuche auf dem Acker.

Seine brünetten Haare fielen bis auf seine mageren Schultern und das Gesicht verdeckte zum Großteil ein ungepflegter Zottelbart, aus dem seine braunen Augen interessiert in die Welt schauten. Ein riesiger Wanderrucksack türmte sich auf seinem Rücken. Olivgrüne Bermudashorts schlotterten um seine Beine, ein T-Shirt mit dem Logo eines allseits bekannten Naturschutzvereins in Schlammfarbe und robuste Wanderstiefel vervollständigten seinen Look. Ganz offensichtlich ein Naturfreund und Ökofreak. Gekrönt wurde seine ganze Erscheinung noch von einem teuer aussehenden Fernglas, das vor seiner Brust baumelte.

Totensee

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