Читать книгу Totensee - Betty Hugo - Страница 6
Überschrift 1
Оглавление4. Kapitel
Ihre Großmutter hatte niemals, noch niemals in ihrem ganzen Leben auch nur erwähnt, dass sie eine Schwester gehabt hatte. Alle in der Familie dachten, dass sie ein Einzelkind gewesen sei. Ihre Urgroßeltern, die es hätten erzählen können, waren schon seit ewigen Zeiten tot. Lange verstorben und begraben, bevor Lisa überhaupt geboren war.
Langsam dämmerte Lisa, dass möglicherweise mehr hinter dieser Geschichte steckte, als sie anfangs geglaubt hatte. Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen und fasste wieder die Hand ihrer Großmutter.
„Großmutter, liebes Großmütterchen, nicht weinen. Erzähl bitte weiter. Was ist damals passiert?“, beschwor sie die alte Frau.
„An dem Tag, als meine Schwester spurlos verschwand, hat sich eine schwarze Wolke über mein Leben geschoben, die nie wieder verschwunden ist. Bis zum heutigen Tage nicht. Ich habe die Geschichte nie erzählt, weil ich euch nicht damit belasten wollte. Wie gesagt, es war ein heißer Sommer in den Jahren nach dem Krieg. Wir hatten Sommerferien und haben uns den ganzen Tag lang dort aufgehalten. Eines Tages, ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam, erzählte ein älterer Junge aus dem Dorf plötzlich diese gruselige alte Legende über den See. Ach ja, sein Opa hatte sie ihm gerade einige Tage zuvor beim Abendbrot, nach einigen Flaschen Bier, eingeflüstert und ihm richtig Angst eingejagt.“
Erschöpft hielt die Todkranke inne. So lange, dass Lisa dachte, sie wäre eingeschlafen. Inzwischen war sie richtig darauf gespannt, zu hören, was damals vor Jahrzehnten am Seeufer geschehen war. Sie drückte die Hand ihrer Großmutter und drängte:
„Erzähl bitte weiter, ich will die ganze Geschichte hören.“
Minuten der Stille verrannen, in denen Lisa immer angespannter wurde. Dann fuhr die alte Frau endlich fort zu sprechen.
„Der Junge, er hieß Dieter, erinnere ich mich, erzählte, dass der See seit Urzeiten verflucht sei. Der Legende nach handele es sich bei dem schwarzen Wasser des Sees um den Höllenschlund, der immer wieder, über die Jahrhunderte hinweg, die Bewohner des Dorfes in sich hinein gesogen habe. Nicht in regelmäßigen Abständen, oh nein, das nicht, aber immer wieder. Wenn sich alle nach einem Unglück beruhigt hatten, geschah plötzlich erneut etwas Fürchterliches. Dem See war nicht zu trauen. Er war ein Monster, das seinen Tribut forderte, jederzeit auf der Lauer, jederzeit bereit einen unachtsamen Dorfbewohner zu verschlingen.“
„Dieser Dieter war ein gemeiner Junge. Er kam auf die unglückselige Idee, dass wir eine Mutprobe machen sollten. Er stiftete die älteren Mädchen unserer Gruppe an, in einem kleinen Ruderboot, welches am Seeufer vertäut war, hinauszufahren. Immer nur ein Mädchen allein im Boot und nacheinander. Zuerst fuhr ein älteres Mädchen, Ingeborg, hinaus. Ich erinnere mich, dass wir sie nur noch als kleinen Punkt auf dem Wasser sehen konnten. Nach einiger Zeit kam sie wohlbehalten zurück ans Ufer gerudert. Dann folgte ein anderes Mädchen. Nur der Dieter, dieser Feigling, der die Idee hatte, der traute sich nicht. Der blieb die ganze Zeit über am Ufer.
Zuletzt war meine liebe, größere Schwester dran. Sie war eigentlich ein ängstliches Mädchen und musste ihren ganzen Mut zusammenraffen, um sich diese Mutprobe zuzutrauen. Das habe ich ihr angemerkt.
Ich habe ihr noch ins Ohr geflüstert: „Du musst das nicht machen, Margot, der Dieter traut sich doch selbst nicht.“
Aber sie ließ sich davon nicht abhalten. Meine Schwester ist vor Angst zitternd in das Boot gestiegen, es war so eine kleine Nussschale, und weggerudert.“
Plötzlich klopfte es an der Tür des Krankenzimmers und eine Krankenschwester schaute herein. Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck dringender Besorgnis. Ihr Blick huschte zwischen der kranken Frau und Lisa hin und her. Gehetzt stieß sie hervor:
„Es tut mir außerordentlich leid jetzt zu stören, aber ihre Chefin hat auf dem Festnetzapparat der Station angerufen. Drei Pflegekräfte haben sich überraschend krank gemeldet und sie bittet dringend um ihren Rückruf.“
Lisa nickte und die Schwester zog sich erleichtert zurück. Diese Unterbrechung kam Lisa gar nicht gelegen und sie war felsenfest entschlossen, das Gespräch mit ihrer Großmutter zu einem Abschluss zu bringen.
Heute bestand die aller letzte Möglichkeit, dass ihre Großmutter ihr etwas Wichtiges anvertrauen konnte.
Lisa war klar, dass es wirklich dringend war, wenn ihre Chefin Marlies sich auf diese Weise meldete. Ihr Handy hatte sie nämlich absichtlich ausgestellt, um ungestört zu sein .
Sie rief ihre Chefin zurück und versprach, so schnell wie möglich zur Arbeit zu erscheinen. Noch stärker unter Zeitnot als zuvor, atmete sie tief durch und konzentrierte sich wieder auf die Erzählung ihrer Großmutter.