Читать книгу Nalanthia - Bianca Maria Panny - Страница 4

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Graue Wolkendecken hatten sich wie ein unendlich großer Schleier über den Himmel Nalanthias ausgebreitet, der für die Bewohner nur noch wenig Sonnenlicht durchdringen ließ. Kalte Winde kennzeichneten die Tage und kündigten den schon bald kommenden Winter an. Die Schlacht mit den Schalkaanen lag nun drei Monate zurück, und noch immer zeugte ein gewaltiger See aus Eis davon, wie die finsteren Kreaturen damals ihr Ende gefunden hatten. Dieser befand sich unmittelbar vor dem großen Feenwald, ein endloses Grün aus Bäumen und Sträuchern, das sich über mehrere Kilometer sowohl nach Osten als auch nach Westen hin ausbreitete. Auf der anderen Seite des Waldes erhob sich jedoch ein riesiger Hügel aus der flachen Ebene, und auf der Schlossmauer des prachtvollen Bauwerks, das von diesem Hügel getragen wurde und majestätisch in den grauen Himmel ragte, stand gerade ein vierzehnjähriges Mädchen, dessen wacher Blick in die weite Ferne gerichtet war. Der Wind, den der kalte Morgen mit sich brachte, wehte ihm das goldblonde Haar ins Gesicht, doch das hielt es nicht davon ab, weiterhin gebannt Ausschau zu halten. Der Anführer der Feen, der zusammen mit einer kleinen Gruppe aus tapferen Feenkriegern auf eine Reise in das weitaus größere Feenreich Hollundis aufgebrochen war, ließ sich allerdings immer noch nicht blicken. Die Tatsache, dass ihre bereits ungeduldig erwartete Rückkehr länger ausblieb als angenommen, bereitete nicht nur dem Mädchen, sondern auch allen anderen Zauberern im Schloss und auch den zurückgebliebenen Feen allmählich Sorgen.

„Na, Mira? Immer noch keine Spur von ihnen?“ Die freundliche Stimme, die Mira schließlich aus den Gedanken riss, gehörte einer bildschönen, schwarzhaarigen Frau, die sich nun ebenfalls auf die Schlossmauer begeben hatte.

„Nein, nicht die geringste“, erwiderte Mira darauf, bevor sie Nari einen besorgten Blick zuwarf. „Denkst du, ihnen könnte vielleicht etwas zugestoßen sein? Ich meine, wir befinden uns schließlich mitten im…“

„Krieg?“, führte Nari Miras Andeutung zu Ende. „Ach was, denen geht es sicher bestens. Du machst dir zu viele Sorgen, Mira. Bestimmt haben die Feen in Hollundis sie nur mit ihrem ewigen Geschwätz aufgehalten. Und was den Krieg betrifft, hatte Melron womöglich nach seiner Niederlage die Hosen gewaltig voll und ist vor Scham im Erdboden versunken. Es ist immerhin drei Monate her, seit er den letzten Angriff auf uns ausgeübt hat.“ Mira bewunderte ihre Freundin dafür, dass sie in einer derartigen Situation so optimistisch sein konnte. Sie jedenfalls bezweifelte, dass der Kampf gegen die Schalkaane der letzte gewesen war, behielt ihre Vermutung vorerst aber für sich. Die beiden ließen ein letztes Mal ihren Blick in die Ferne schweifen, und als sie zu der Erkenntnis kamen, dass dort wohl auch in den nächsten Stunden nichts Außergewöhnliches passieren würde, beschlossen sie, die Schlossmauer zu verlassen.

„Lass uns lieber hineingehen und nach Cornelius sehen“, schlug Nari der Vierzehnjährigen vor. „Wer weiß, vielleicht hat er inzwischen etwas herausgefunden, das uns weiterhelfen könnte.“

*


Wie erwartet, fanden Mira und Nari ihren Freund in der großen Bibliothek des Schlosses vor, deren ungeheure Ausmaße das Mädchen immer wieder ins Staunen versetzten. Der Mann stand mit dem Rücken an ein hohes Regal gelehnt und überflog gerade die Seiten eines recht dicken Buches. Es war allerdings nicht zu übersehen, dass auch dieses keine wissenswerten Informationen über das Gesuchte beinhaltete, da er keiner einzigen Seite nähere Beachtung schenkte, ehe er das Buch schließlich zuklappte und zurück ins Regal stellte. Als der Mann die Ankömmlinge erblickte, bedachte er sie mit einem knappen Lächeln, das jedoch sofort wieder verschwand, nachdem sich Mira und Nari mit schnellen Schritten zu ihm gesellt hatten. Die beiden sahen ihm an, dass er vor einem Rätsel stand.

„Und Nelchen?“, fragte Nari dennoch. „Immer noch kein Erfolg, was?“

„Sieht ganz danach aus“, bestätigte Cornelius ihre Vermutung. „Bei all den Büchern hier sollte man meinen, wenigstens ein einziges finden zu können, in dem etwas über den Drachenflüsterer nachzulesen ist. Aber nichts. Ich fürchte, die Seherin ist bis heute die einzige geblieben, die das meiste Wissen darüber verfügt.“ Bei den Worten ihres Freundes schüttelte Nari vorwurfsvoll den Kopf. „Ach, Cornelius. Glaubst du etwa immer noch, dass diese alte Tante jemals über irgendetwas das notwendige Wissen verfügt hat? Es liegt doch auf der Hand, dass diese Seherin, wie sie sich selbst nannte, nicht alle Zweige am Baum hatte, wenn du verstehst, was ich meine.“

„ Nari“, versuchte Cornelius, sie zu beruhigen, wurde aber sofort wieder unterbrochen.

„Komm schon, Cornelius. Du denkst doch genauso wie ich. Ich meine, selbst wenn sie damals mit ihrer Prophezeiung die Wahrheit gesagt haben sollte, hätte sie uns doch wenigstens Genaueres über den Drachenflüsterer erzählen müssen. Aber wie du weißt, hat sie uns einfach so im Ungewissen stehen lassen. Und jetzt, da es tatsächlich so weit gekommen ist, kann unsere arme Mira hier nur allein versuchen, das Richtige zu tun, ohne überhaupt zu wissen, wie!“ Die Frau schwieg einen Augenblick, und als Mira und Cornelius immer noch nichts darauf erwiderten, fügte sie hinzu: „Bin ich etwa die einzige im ganzen Schloss, die das erkannt hat?“ Mira konnte nach diesem „Vortrag“ nichts anderes tun als Cornelius einen irritierten Blick zuzuwerfen. Dieser sah genauso sprachlos zurück, bevor er Nari schließlich prüfend betrachtete und endlich wieder den Mund aufmachte. „Nari? Wie viele Tassen Tee hast du heute eigentlich schon getrunken?“

„Nur fünf“, antwortete sie sofort. „ Aber was hat das damit zu tun?“

„Nichts. Überhaupt nichts“, sagte Cornelius leicht amüsiert.

Dann zwinkerte er Mira vergnügt zu, die sich das Lachen verkniff, bevor ihr endlich auffiel, dass Cornelius kleiner Gefährte nirgendwo zu sehen war. „Wo ist eigentlich Nesso?“, wollte das Mädchen wissen.

„Wo soll er schon sein?“, kam Nari dem Mann mit einer Antwort zuvor. „Vermutlich plündert er gerade die Schlossküche leer.“

„Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er dort hinter den Regalen zwei Reihen weiter“, sagte Cornelius zu Mira, ohne auf Naris Bemerkung einzugehen. „Sehen wir lieber mal nach, ob er auch keine Dummheiten anstellt.“ Die drei Freunde begaben sich zu den Regalen, hinter denen Cornelius Nesso vermutete. Dort fanden sie tatsächlich eine kleine Eidechse mit Flügeln vor, die auf einem aufgeschlagenen Buch lag, das sich auf einem Holztisch befand. Der Anblick, der sich ihnen bot, kam für Mira mehr als unerwartet, vor allem die Tatsache, dass Nesso sichtlich bemüht war, die geschriebenen Zeilen Stück für Stück zu entziffern, überraschte sie sehr. „Du meine Güte“, entfuhr es Nari sofort. „ So etwas sieht man vermutlich nicht alle Tage.“

„Das kannst du laut sagen“, stimmte Cornelius ihr zu, ehe er zusammen mit ihr und Mira näher an den Tisch herankam und beobachtete, wie Nesso seinen Kopf hob und seine Freunde mit einem breiten Grinsen bedachte. Mira konnte nicht anders, als ihn sogleich auf das Buch vor seiner Nase anzusprechen. „Ich wusste gar nicht, dass du lesen kannst, Nesso“, sagte sie. „Tja, da siehst du mal, wie sehr du mich unterschätzt hast, meine Liebe“, erwiderte Nesso selbstzufrieden. „ Aber ich habe ja schon immer gesagt, dass ich eine hochintelligente, fliegende Eidechse bin.“

„Nesso wollte mir unbedingt bei der Suche nach Informationen behilflich sein“, fügte Cornelius hinzu. „ Manchmal muss ich wirklich zugeben, dass er ein wahrhaft treuer Gefährte sein kann.“ Nari runzelte jedoch die Stirn und betrachtete die kleine Eidechse misstrauisch. „Ist das so? Hast du vielleicht schon etwas Interessantes herausgefunden, das uns weiterhelfen könnte?“ Nesso wirkte plötzlich ein wenig verlegen. „Äh, nein. Eigentlich nicht. Hier gibt es kein einziges Buch, das Hinweise auf den Drachenflüsterer enthält. Wenn ihr mich fragt, ist das alles reine Zeitverschwendung. Wir sollten lieber etwas essen gehen.“ Nari dachte allerdings nicht daran, locker zu lassen. Dafür kannte sie Nesso einfach viel zu gut. „Lässt du mich dieses Buch mal sehen?“, bat sie die Eidechse stattdessen, ehe sie schließlich selbst danach griff. Sofort warf sich Nesso auf die aufgeschlagenen Seiten und klammerte sich daran fest. „Aber das ist doch alles nur langweiliges Zeug!“, versuchte Nesso die Frau davon abzuhalten, weshalb auch Mira und Cornelius allmählich misstrauisch wurden. Nari schüttelte ihn allerdings von dem Buch ab und betrachtete die Seiten, die er versucht hatte, zu verbergen, ehe sie die fett gedruckte Überschrift laut vorlas, sodass die anderen den Inhalt leicht erraten konnten.

„Wie man am schnellsten die beste Apfelcremetorte der Welt kreiert.“

Mit einem selbstgefälligen Grinsen hielt die schwarzhaarige Frau ihrem Freund das Backrezept unter die Nase, der sprachlos auf das Bild starrte, auf dem eine zweistöckige, reichlich verzierte Apfelcremetorte zu sehen war.

Beim Anblick Nessos, der sich sichtlich am liebsten unter den Holztisch verkrochen hätte, konnte Mira nur mit Mühe einen Lachanfall unterdrücken. Seit sie Nesso zum ersten Mal begegnet war, hatte er sich kein bisschen verändert. „Soso“, sagte Nari schließlich triumphierend. „ Das macht deiner Meinung nach also ein treuer Gefährte? Stundenlang Bilder in einem Backbuch anstarren und sie auch noch vollsabbern?“ Cornelius warf der Eidechse einen mehr als wütenden Blick zu, bevor er endlich seine Stimme wieder fand. „Nesso? Würdest du mir freundlicherweise verraten, was eigentlich in dir vorgeht?“ Die Eidechse sah beschämt zu Boden und ließ ihre kleinen Flügel hängen. „Was soll ich bloß mit dir machen? Wir müssen herausfinden, wie ein Zauberer wie Melron am besten aufzuhalten ist, und was machst du? Du denkst wieder mal nur ans Essen!“

„Was nebenbei bemerkt vielleicht sinnvoller wäre, als es sich anhört“, warf Nari zur großen Verwunderung ihres Freundes ein.

„Was willst du damit sagen?“, wollte Cornelius von ihr wissen, doch Mira war inzwischen schon bekannt, was Nari über die Sache mit Melron dachte. „ Ich sage dir jetzt, was ich auch Mira schon gesagt habe. Es könnte durchaus sein, dass Melron es sich nach unserem Sieg über die Schalkaane anders überlegt hat. Drei Monate, und noch immer kein Anzeichen von ihm. Das ist doch eigenartig, findest du nicht?“ Cornelius teilte ihre Meinung allerdings nicht. „Darauf würde ich mich lieber nicht verlassen, Nari. Ich würde es lediglich als die Ruhe vor dem Sturm bezeichnen. Melron führt etwas im Schilde, da bin ich mir sicher. Die nächste Gefahr wird schneller über uns hereinbrechen, als uns lieb ist. Melron und aufgeben? Das passt einfach nicht zusammen, so schön es auch klingt.“ Der Mann schwieg einen Moment, während Mira innerlich spürte, dass ihr Freund mit seiner Vermutung mehr als richtig lag. Es stellte sich nur die Frage, wann genau der besagte Sturm losbrechen würde.

„ Also wenn ihr mich fragt“, wagte Nesso es, wieder den Mund aufzumachen, „sollten wir alle in die Schlossküche gehen. Vielleicht gibt es sogar Kuchen.“

„Gute Idee“, sagte Nari sarkastisch. „ Und dort werfen wir dich dann höchst persönlich in den Kochtopf und machen aus dir Eidechsensuppe!“ In diesem Moment war im ganzen Schloss der Klang von Trompeten zu vernehmen, der offenbar wichtigen Besuch ankündigte. Schnell eilten die Freunde zu den Fenstern der Bibliothek, von denen aus man einen guten Blick auf den großen Feenwald hatte. Mira konnte dahinter mehrere schwarze Kutschen erkennen, die von fliegenden Pferden gezogen wurden und nur wenige Augenblicke zuvor auf festem Boden gelandet waren. „Die Feen!“, rief Nari aufgeregt. „ Die Feen sind endlich zurückgekehrt!“

Nalanthia

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