Читать книгу Von Wegen - Birgit Pölzl - Страница 6
GEORG Ich musste Irene wiedersehen
ОглавлениеSie stand vor dem Schalter für verlorenes Zeug und trug die große Ledertasche umgehängt, die ich von Kreta kannte; sie streckte mir die Hand entgegen, wie denn der Flug war und ließ meine Hand, wie es mir gehe, welche Pläne und so weiter und ließ Pausen – Wörter, Satzfragmente, Summen, Rauschen. Ihr Haar hatte sie unter eine Mütze geschoben, hübsch war sie, dünner, ein wenig fahrig, als sei sie auf dem Sprung – vielleicht waren es die Sneakers, vielleicht war es die Mütze, vielleicht auch schlug der Freudeengel seine Flügel; sie öffnete ihren Beutel und holte zwei Tickets für die Schnellbahn heraus, eingeladen sei ich, eingeladen; was ich da bitte mit mir schleppe, sie taxierte meinen Koffer, der mich so smart, first class begleitet hatte im andern Leben, dann im Atelier herumgestanden war. Sind Bücher drin, und Laptop, Tusche, Pinsel, Kram – ich will ja hier nicht Urlaub machen. Die gleichen Piercings trug sie wie auf Kreta, vamos, sagte sie wie auf Kreta; das Anarchisten-A am Hals gleich unterm Ohr war neu.
Immer weiter hätte ich fahren können und die Bewegung ihrer Schulter spüren an meiner, diesen Ruck, den sie mir weitergab, beim Anfahren und beim Bremsen oder wenn sie ihren Arm hob, mir Thissio auf dem Plan zu zeigen, Thissio, wo wir aussteigen würden. Sie kniete vor mir, steif, mein Schwanz war steif, den sie in ihren Mund und auf und ab der Lippenring und Häuser, Kleinbetriebe samt Gerümpel, Gärten, Brachen flogen vorüber und leckte das Zungentier, he, musst ihm dein Ticket zeigen, musst dein Ticket zeigen, sagte sie und deutete zum Mann, der vor mir stand. Ja, sorry, gleich, ich versuchte meinen Fahrschein aus der Hosentasche zu ziehen, steif, musste aufstehen, halbsteif und bot einer Rabenfrau, die zustieg, meinen Platz an, schwarzes Kopftuch, schwarze Bluse, schwarzer Rock. Die Leute redeten, ich starrte meinen Koffer an und heiß, Irene, geil – wie peinlich, angeregt, Irene unterhielt sich angeregt und ich verstand kein Wort und schaute aus dem Fenster.
Leute stiegen zu, den Spalt mit Obacht überschreitend zwischen Bahnsteigkante und Waggon, gemächlich waren die Leute hier, als wären sie entschleunigt oder depressiv verstimmt, auf jeden Fall ein wenig antriebslos. Ein Hagerer stieg zu, begann zu deklamieren, laut und monoton und sammelte mit offener Hand den Lohn für die Performance ein; ich schaute an dem Hageren vorbei und musterte Touristen, die in khakifarbenen Shirts und khakifarbenen Hosen mir gegenüber saßen, als seien sie Abenteurer und durchquerten ne Gefahrenzone: Ihre Trolleys hielten sie wie scharfe Hunde an gestreckter Hand. Ich sah den Hageren nicht an, der wieder deklamierte und nach Pisse stank und Alkohol, die andern schauten wie ich an ihm vorbei, nur die Rabenfrau legte 50 Cent in seine geschwollene Hand und mir war es peinlich, auch das schmierige Getue des Performers, seine schleimigen Bezeugungen.
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Thissio, sagt Irene, die aus dem Waggon sprang, sorry, sagte ich, sorry, mit dem Koffer an die Leute stoßend; grüne Linien liefen über die Waggons, ich blieb kurz stehen, ein Hindernis, an dem vorbei die Leute drängten.
Draußen stellte ich den Koffer ab, Himmel, wie heiter. Just for tourists, sagte Irene, und ich mit meinem smarten first class Koffer an der Hand, nein, dieses Licht scheint auch auf uns. Athanasios-Kirche, sagte Irene und zeigte auf den Kuppelbau, wie Augenbrauen, sagte ich und deutete auf die gemauerten Bögen – jetzt grinste auch sie. Frauen und Kinder lagerten auf dem Rasen vor der Kirche inmitten von Müll und zerschlissenen Kinderwagen, Roma, sagte Irene, von vielen angefeindet.
Ich musste meinen Koffer tragen – zu viele Kanten, zu viele Sprünge – und spürte sein Gewicht, besonders, wenn ich ihn vor meinen Körper schwenkte, um die Leute passieren zu lassen auf den schmalen Trottoirs, Junge in Sneakers und Jeans, Alte in schwarzen Trevira-Hosen und Schoßen bis unters Knie, auch pendelte die Tasche, schlug an den Schenkel, als verlangte sie Einlass, als ermahnte sie mich. Irene ging vor mir den Fassaden entlang, zweistöckig die Häuser, bescheiden, ärmlich; im Parterre boten Läden Möbel und Kleinzeug feil; Stöße von Sesseln, Töpfen, Münzen, Pfannen, Krimskrams stapelten sich neben den Türen, keine Sau kauft etwas, sagte Irene und wich einem Paar aus – dann sprangen Lücken auf: Läden, die geschlossen waren, die Eingänge vernagelt, von Graffitis überzogen und Obdachlose davor auf übereinander gelegten Kartons. Schau, sagte Irene, wie die Frau dort drüben ihre Tasche berührt, das machen Obdachlose oft, weil sie nicht glauben können, dass sie auf der Straße sitzen, manchmal nehmen sie die Taschen und fahren zum Hafen oder sie mischen sich unter Touristen.
Wir bogen ab und gingen einem Zaun entlang, ich musste kurz stehenbleiben, aufs Gras zu schauen, das wie Flaum um die Zypressen wuchs und an den freigelegten Fundamenten dichter wurde, lichtgrüne Säume bildend in den Fugen, lichtgrüne Inseln zwischen den Quadern; weiß und rosa blühten Kräuter zwischen den Stümpfen, dürre Blätter hingen an Platanen wie wackelnde Kinderzähne, ach Jakob, ach Elena. Irene blieb stehn am Ende des Zaunes und beobachtete mich, der alte Friedhof, sagte sie. Ich nickte, erzählte von Maja. Dem Vater ins Auto gerannt. Dem Vater einfach ins Auto gerannt. Das muss man sich vorstellen.
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Aufruhr an den Wänden, Explosion an den Wänden, Revolution, fuck EU, Leidensmänner Leidensfrauen, gebückt, bemützt, mit großen Augen, Zocker, Fies- und Finsterlinge, zynisch grinsend; das A im Kreis ging wie ne Saat auf an den Wänden, rot und schwarz und weiß; ans Herz gingen die Schönen aus Spiralen und Wellen, die ihre Lider über teichgroße Augen senkten; Molotow-Cocktails explodierten, Stiefel zertraten Männer und Frauen, Granaten wurden gezündet, Clowns jonglierten, verwandelten sich in Monster, töteten Kinder, Roboter sprengten Häuserzeilen, Roboter standen Kopf, ließen Schrauben, Muttern, Lager, Kabelteile sausen, Herzen daneben, Parolen, Blümchen, Kürzel, Balken und – peng peng – explodierte die Welt, griffen Chimären, Mutanten nach Menschen, verleibten sie ein, schwangen Arbeiter Fahnen, die das Konterfei von Marx berührten; grinsten kapitalistische Fratzen, lächelten neoliberale Ikonen mit Säcken voll Euroscheinen, reckten Kapitalisten obszön ihre Wänste, Weltkugeln gleich, steckten Mönche ineinander, gierig, geil, Pinguin, Pinguin lachte und nirgends tauchte Superman auf, riesig die A, verzogen, verzerrt – die Schenkel ragten über den Kreis. Ruinen standen zwischen besprayten Fassaden, die Dächer eingefallen, die Öffnungen verplankt, Sträucher wuchsen aus den dachlosen Teilen, Brennnessel, Kräuter.
Vor Plakaten, die beschrieben, wer an der Krise verdient und wie man sich vor Tränengas schützt, blieb Irene stehen und übersetzte – so ungefähr – für mich. Augen am besten durch eine dicht schließende Brille schützen. Linsen raus. Und eine Maske nehmen, um die Atemwege zu schützen oder fein gewebte Tücher – sie müssen trocken sein und oft genug gewechselt werden.
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Den Arm hätte ich gerne um Irene gelegt, wäre gern stehengeblieben, hätte mein Gesicht gern an ihres gelegt. Irene blieb stehen, wir wollen die ganze Scheiße nicht, wir wollen das schöne Leben. Und das ist im Kapitalismus nicht zu haben. Wir wollen den scheiß kapitalistischen Alltag nicht, du jeden Tag aufstehen, Untertan; du jeden Tag arbeiten von früh bis spät, Untertanin, und essen, wenn wir sagen und scheißen, wenn wir sagen und Liebe machen, wenn wir sagen und am Sonntag länger schlafen, damit du fit bist für den Montag, Untertan; du bist emanzipiert, wenn du dich unterwirfst, Untertanin, wie blöd ist der Feminismus eigentlich, dass er die Volltime-Arbeitskacke als Befreiung sieht.
Und ich. Auf dem Ginthof haben wir das schöne Leben versucht, Irene. Und sie. Euch ging es nur um euer eigenes schönes Leben.
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Weihnachtsmänner mit Sprengstoffgürtel, Clowns mit Bomben und Arbeiter mit starrem Blick, ein Weihnachtsmann am Feuerchen mit amputiertem Bein, ERHEBT EUCH, KÄMPFT, Schlieren, Kürzel, Linien, REVOLUTION, groß ein Polizist mit Schweinskopf, Kappe und Knüppel, Gesichter hinter Masken, Merkel mit Mickymaus-Ohren, Eurodisney darunter, ein Auge, riesig, daneben, hyperreal, und Leidende in pathetischen Posen aus den Herzschlag-Fantasy-Zonen mit Zeichen auf der Stirn, Leidende, die gebückt den Schlag erwarteten, Kinder, auf die ne Mauer stürzte, und Marilyn Monroe und Putin darüber.
It’s me, sagte Irene und zeigte auf eine Figur ohne Gesicht mit einem Molotow-Cocktail in der erhobenen Linken, die habe sie letzte Woche gesprayt, das Schwarz rinne leider aus dem Gesicht. Wir werden siegen, Georg, wir werden uns mit den Ausgebeuteten vernetzen und siegen. Ja, sagte ich, das ist so ein Ding mit der Solidarität. Und sie. Für die meisten gehe es ums Überleben. Das sei die Scheiße, dass die meisten ums nackte Überleben kämpften und dabei glaubten, sie müssten schön brav sein, dann bekämen sie ein paar Brosamen ab. Sie leisteten viel Aufklärungsarbeit.
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-70% stand auf dem Täfelchen, das an einer süßlich lächelnden Nymphe mit blauviolett verfärbter Brust und blauviolett verfärbtem Schenkel hing; echt krass, ich berührte die Marmorfigur, wie’n Riesenhämatom; Irene beobachtete mich, hob ihren Arm, legte ihn der Nymphe um die Schulter, kommt, ihr Mächtigen, ich mache die Beine breit, und wenn ihr mich prügelt, mache ich sie breiter, schlagt ein auf mich, da ist noch was drin, schlagt weiter ein auf mich.
Wie ein Aufziehgeschöpf wiederholte sie die Sätze, schmiegte sich an die steinerne Schöne, hör bitte auf, sagte ich und sie grinste abschätzig, deklamierte auf Griechisch weiter. Passanten blieben stehen, ich berührte sie, komm, bitte, sie schüttelte mich ab, schrie ihre Botschaft weiter die Gasse hinunter, hör endlich auf. Ein Grüppchen bildete sich, eine Traube von Hörlustigen, zustimmend grinsend manche, ablehnend die meisten, neugierig alle auf einen Skandal, ein Skandälchen.
Kam ein Herr aus dem Geschäft, untersetzt, gepflegt, packte Irene, stieß sie von der Figur, die unverändert süßlich lächelte. Ich legte den Arm um sie, gehen wir, Irene stieß mich weg. Der Taschenriemen rutschte mir von der Schulter, ich blieb kurz stehen, Irene ging alleine weiter.
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Die Wohnung erinnerte an die Creative Power von low-cost Zonen und an die Eleganz von etwas, das nicht groß inszeniert ist, Superwoman spazierte aus den Wänden, Superwoman stand auf Lichtschaltern und Steckdosen, flog über den Plafond, stand lässig auf den schmalen Simsen. Da versteht wer was von Perspektive. Hat ne Freundin gemalt, sie lebt in Iraklio. Die Regale waren aus Ziegeln und Brettern improvisiert und überall Bücher, CDs und Pläne von Städten mit anarchistischem Drive, Berlin, Madrid, Locarno, Barcelona, Bologna; die Sessel, der Esstisch waren grün und blau lackiert, auch das Tischchen weiter links im Raum vor der durchgesessenen Couch, Zyperngras stand auf dem Tisch, im Regal, auf der Fensterbank. Auf der Fensterbank. Auf der Fensterbank. Saß dort ein Puppenpaar Hand in Hand, die Nabel rosarot gestickt.
Käse, Joghurt, Wasser, Brot – sei alles für mich, auch den Schrank im Schlafzimmer könne ich verwenden, Handtücher und Bettwäsche lägen dort, sonst sei er leergeräumt.
Sie nahm den Plan, der auf dem Esstisch lag, ringelte Granikou ein, da seien wir jetzt, ringelte Thissio ein, da seien wir ausgestiegen, hinter der Station lägen der Thissio Park, die Agora, die Akropolis, Filopappou – alles, was Touristenherzen höher schlagen lasse, da sei Monastiraki, die Central Station, da sei ein Spar-Markt und da Exarchia, wo sie wohne. Ist das nicht deine Wohnung? Nein, die Wohnung gehöre einer Freundin, die zu ihr gezogen sei, dafür bekomme sie die Hälfte der Mieteinnahmen. Das Zimmer neben dem Eingang sei versperrt, da habe ihre Freundin persönliche Sachen gelagert. Sie müsse jetzt weg, wir könnten übermorgen gemeinsam frühstücken. Ja, gern. Okay. Und wo? Sie komme um zehn.
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Von der Fensterbank winkte das Puppenpaar, grinste. Superwoman flog an der Zimmerdecke, Superwoman lehnte an der Wand, ich konnte Irene riechen, ihr Duschgel, ihr Deodorant, Salbei, Citrus, oder es war Scheuermilch – sie haben geputzt, wahrscheinlich haben sie geputzt und gevögelt, sicher haben sie geputzt und gevögelt. Warum hat sie mich eingeladen, warum hat sie gesagt, ich könne gerne kommen. Okay, ich hatte gefragt. Aber sie hat ja gesagt, ja, gern, klar, und auch ne Wohnung habe sie für mich.
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In die Markise fuhren, dass es knatterte, die Böen, ein Gewehr war die Markise, ein Markisengewehr; zu Schichten hatte der Wind den Dreck geblasen, zu Wellen und Kürzeln, einen Frauenkörper aus Dreck hatte der Wind geblasen und mit Taubenkot schraffiert, jetzt wars ein Männerkörper, Blätter hingen an den Untersetzern wie Treibgut im Lee und Tauben gurrten, ohne dass sie Ästchen, Blättchen brachten wie dem Noah nach der Flut; dafür brachte der Wind ein Amalgam aus Rauschen, Quietschen, Hupen von den Straßen rauf, Sirenen auf und ab, und zerrte am Lorbeer, an der Bougainvillea, am Oleander, an Pflanzen, die ich nicht kannte, zerrte er stärker.
Gehen, einfach weggehen, eine Nachricht hinterlassen, sorry, bin wohl nicht willkommen, oder: sorry, komme scheinbar ungelegen, der Schlüssel liegt unter dem Fußabstreifer, oder: den Schlüssel hab ich bei den Nachbarn abgegeben.
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Berge lagen wie Leiber zwischen Himmel und Stadt, Leiber, die zu zittern begannen, wenn ich lange drauf schaute; das Licht schärfte die Konturen der Häuser, weiße Quader in unterschiedlichen Höhen, die sich bis an die Flanken der Leiber ausdehnten. Jakob und Elena würde ich an der Hand nehmen, auf keinen Fall dürften sie allein hier raus. Wolltest du nicht länger bei uns bleiben, Papa? Hat sich was ergeben, Jakob, ist wichtig für meine Arbeit. Es war deine Idee, Papa, auf dem Ginthof zu wohnen. Ich weiß, Elena.
Frei lassen hatten sie das Zimmer wollen, das wir mit Maja und Anna geteilt hatten, frei lassen, Papa, wir waren hintereinander am linken Rand des Pfads gegangen, wo man weniger tief in den Matsch einsank. Es war eine Art Heimholung gewesen, wenn auch nur für kurze Zeit. Elena hatte die Schüssel für Maja vorsichtig ins Gras gestellt, die Hände ausgeschüttelt und über die Wiese zum Ginthof geschaut, im Winter habe sie Tannennadeln und Mistelzweige in die Schüssel gegeben und zu Weihnachten Hanuman auf eine Kugel gemalt, der leider wie ein Hund ausgeschaut habe. Jakob hatte das Nest in der Hand gehalten, das er für Maja gewunden hatte, Maja sei ja nur funkenklein und habe keinen Körper oder fast keinen Körper. Den Ginthof hatten wir von schräg oben und von weiter weg und dann immer größer und immer weniger von oben (so hatte es Jakob ausgedrückt) gesehen und von Sonne beschienen, vielleicht war deshalb ein Quäntchen mehr Dopamin über die Synapsen getanzt und hatte Beine und Gedanken an Schwere verlieren lassen, vielleicht hatten wir den Ginthof deshalb von der hellen Seite her gesehen und Sätze gesagt wie: der First vom Wohnhaus hat sich nicht weiter gesetzt, oder: auf den Dächern wächst Moos wie im Fichtenwald, oder: heil geblieben sind die Dächer, bis auf die Handvoll Ziegel, die unterm First wie lockere Zähne hängen.
Am Abend waren wir am Kamin gesessen. Da hat das rote Pferd sich einfach umgedreht und hat mit seinem Schwanz die Fliegen weggeweht / die Fliege war nicht dumm, sie machte summ summ summ und flog mit viel Gebrumm ums rote Pferd herum, das weiße, das blaue, das laute, das freche, das gelbe, das leise, das schnelle Pferd – Jakob und Elena hatten ihre Vorschläge ins Refrain-Ende gerufen, wie mit Maja, nur dass sie sich nicht in die Haare geraten waren darüber. Maja hätte durch die Tür kommen können, so ein Gefühl hatten wir, und sich zu uns setzen und deins zu Jakob, deins zu Elena sagen, und wir hätten Majas Schiedsspruch beherzigt.
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Ein Mann trat auf den Balkon im Wohnblock gegenüber, zündete sich eine Zigarette an und starrte auf das Wiesenstück, aufs Häuschen, aufs Kabäuschen, das wie ein Keil zwischen den Wohnblöcken lag, blies Rauch aus, starrte aufs Satteldach und auf die Mauern, die von Efeu überwachsen waren, starrte auf die Sträucher ums Häuschen und auf den Tisch unterm Baum. Eine Frau trat aus der Tür zum Mann, der wieder an der Zigarette sog, stützte ihre Hände aufs Geländer, starrte ebenfalls hinunter; sie zogen ihre Köpfe ein und schoben ihre Schultern hoch und trugen ausgewaschne Shirts, der Mann blies eine Schwade aus, als wollte er das Fähnlein sein, das in den Himmel steigt, dann dämpfte er die Zigarette aus und starrte runter wieder wie die Frau.
Tauben landeten flügelschlagend, ein Tauben-, ein Traumpaar, das ich verjagte, auch stampfte ich auf, auch schien der Wind darüber zahm zu werden. Ich ließ mich auf den beigen Polstersessel nieder und legte meine Füße aufs ovale Tischchen.
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Mein Herz war aufgegangen, oder es war Irenes Begehren, vielleicht hatte Irenes Begehren meinen Körper erschaffen, als sie zugepackt, sich auf mich gesetzt, mich gedrängt und das Drängen dann gedehnt und gewiegt, neu gebettet hatte.
Als ich leb wohl gesagt hatte, ciao, hatte ich eine Bewegung gespürt, eine Herzbewegung, eine Heftigkeit, als höbe sich momentlang ein Schleier, nicht vorbeugen, Vorsicht, gib Acht. Danke, hatte ich gesagt, danke, dann hatte ich mich umgedreht, war die Stiege hinuntergegangen, Schmetterlingsbeine, die Flügel verklebt; den Kopf hatte ich gesenkt gehalten, nicht an den Fels zu stoßen, der durch die hintere Wand in die Wendelkammer, den Stiegenschacht stieß; in der Küche hatte der Putz über den Küchenkasten geblüht, Geschirr sich im Spülbecken gestapelt, bräunlich Wülste, Häufchen, Schlieren drauf, auf dem Tischchen ein Laptop, ein Zeitungsstoß, am Fenster der weinrote Ast einer Bougainvillea, ein Mast dahinter mit kurz geratenen Armen, Ärmchen und weißen Isolatoren drauf, über die zwei Leitungen liefen: Striche gegen den Himmel; drunter ein Mauerstück und tiefer, viel tiefer, das geriffelte Meer. War es, als greife der Ast der Bougainvillea herein, als wolle der Ast mir die Hand geben und Glück wünschen zur Erkenntnis, dass in der Erlösungsbedürftigkeit die Verwandtschaft aller begründet sei, die Verwandtschaft von allem, und Erlösen das Lebensspiel sei, als Möglichkeit in die Wiege, in die Luft gelegt, und man dazu dünne Haut brauche, oder es rückt einem jemand zu Leibe, vielleicht rückt einem auch ein Ast zu Leibe: Die Farben waren neu, oder ich sah anders, das Rot der Pelargonien, das Hibiskusrot, das Orangenbaumgrün, das Gelb und das Rosa der Rosen, und alle Farben prangten an vieljährigem Holz, verästelt und knorrig das vieljährige Holz, eigensinnig wie die Gelenke der schwarz gekleideten Frauen, die das blecherne Läuten ins Kirchlein rief. Ich war die Mauern entlang gegangen, die Mäuerchen, die, lehmverputzt und weiß getüncht, abgrenzten und verbanden, den verwaisten Rohbau mit den Schutthaufen vor der Tür und das Paradiesgärtlein im Vorhof daneben und weiter war ich gegangen, die notdürftig instandgehaltenen Häuser entlang, die Ruinen und restaurierten Fassaden mit blauen Fensterläden und blauen Türen.
Ich hätte Ziegel von den Dächern pflücken können, ich hätte mit dem Daumen ein Kreuz über den Scheitel der Bögen oder ein X über die Schwellen schlagen können, ich hätte von Dach zu Dach springen oder den schwarz gekleideten Frauen die Kopftücher lösen können, ich hätte singen können, mich hinlegen mit ausgebreiteten Armen, ich hätte weinen, eine Bahn ausrollen und darauf Linien ziehen können, Schriftähnliches, das alles sagte ohne Belang, ich hätte umkehren können, um mit Irene zu leben, ein Aktivist in einem Abbruchhaus, Flugblätter druckend, an Demonstrationen teilnehmend, nein, das hätte ich nicht können.
Eine unbefestigte Straße war ich entlang gelaufen, die nach einem windschiefen Stall verzweigt war: graubraun hatte sie Richtung Berge gezeigt und kalksteinfarben zum Meer. Ich war geflohen, nein, ich hatte ein Ticket, ja.
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Oft hatte der Wind auf dem Ginthof mich an Kreta erinnert, als sei der Wind, der Fichtenäste wiegte und Spreißel und Späne aufwirbelte, ein Kind des Inselwinds, der über Hänge, Kämme, Plateaus und Terrassen gefegt war, an Abbrüchen, in Schluchten, an Schründen getobt und das Meer gepeitscht hatte, als sei er irr; auch in mir hatte es Verwirbelungen gegeben – vielleicht war ich deshalb, ohne mich zu sichern, die Kalkplatten an den Haken vorbei hinaufgeklettert, vielleicht hatte ich mich deshalb gefühlt wie einer dieser Exzentriker, die sich befähigen, erledigen, wie einer der Himmelstänzer und Wahnwitzigen, die Proben aufs Exempel, den Selbstekel, machen müssen. Dreißig Meter über dem Schluchtgrund war mit einem Mal klar gewesen, dass es kein Zurück gab. Zehn Meter nach oben einen Riss entlang, kein besonderer Schwierigkeitsgrad, wenn da nicht das Zittern gewesen wäre vor Erschöpfung und Angst. Zitterpappel, Espenlaub, Nähmaschine. Da hatte ich Irenes Gesicht gesehen – so nah, so herznah –, dass ich tief ein- und ausatmen hatte können und den nächsten Tritt, den nächsten Griff suchen, da hatte mir Irenes Gesicht geschienen, dass ich mich hochziehen hatte können, Sukkulenten wuchsen aus dem Riss, und wieder ein Tritt und wieder ein Griff, weiter oben sternförmige Blüten, was ist Sanftmut, Georg, ein Stein hatte sich gelöst, war gefallen, aufgeschlagen, dass es laut hallte, dann die weit auseinander liegenden Griffe, wo ich die Beine weit spreizen hatte müssen hataber hataber abakadabra hataber Kraft, um den Oberkörper über die Kante zu drücken und hinauszugreifen und dieses Bäumchen, dieses Krüppelbäumchen, zu erwischen, an dem ich mich halten und aus der Wand hatte ziehen können.
Dann war ich dagelegen, feinkomisch klar im Kopf, ganz leer geräumt; die Hänge hinauf ist mein Blanksein gegangen, zu Irene, den Kindern, ins Allgemein.
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Oft hatte meine Sehnsucht Irene gerufen. Über Terrassen, die zum Meer hin abfielen, war sie gekommen, Gerste hat man hier angebaut, jetzt liegen die Terrassen brach. Irene hatte zu den Terrassen gehört, Irene hatte zu den Platanen gehört, Irene hatte nicht zum politischen Programm gehört, das sie vertrat. Doch, hatte sie schon. Außerdem war es kein Programm, außerdem war es ein Glaube, Irene glaubte an die Freiheit, Irene glaubte, dass es nur der Freiheit bedürfe, damit alles zum Guten sich wende.