Читать книгу Die vergessenen Siedler - Birgit Scheele - Страница 5

Die Chauken- Die Wesermarsch im Jahr 332 n.Chr.

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Schlagartig erwachte Theda. Sie zitterte und eiskalter Schweiß lief ihr übers Gesicht. So tief saß der Schrecken in ihren Knochen. Wie gebannt starrte sie an die Decke ihres Zimmers und lauschte. Es regnete. Seit Wochen fiel der Regen auf die Festung der Chauken nieder. Der kalte Westwind trieb immer wieder neue Regenwolken in das Land. So war es fast jedes Jahr, wenn sich der Sommer dem Ende neigte.

Langsam fuhr sie sich mit ihrem langen, dünnen Fingern über ihre Augen und registrierte, dass sie im Schlaf geweint haben musste. Vorsichtig setzte sie sich auf die Bettkante ihres massiven Eichenholzbettes und atmete tief durch. Sie hasste Träume, die von Erlebnissen aus ihrer Kindheit handelten und sich anfühlten als passierte es wirklich.

Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, ging sie zu ihrer Kleidertruhe, die gleich neben ihrem Bett stand. Sie zog sich langsam ihr dunkelrotes Wolloberkleid über ihr weißes Leinenkleid und befestigte die Träger des Kleides auf Schulterhöhe mit bronzenen Bügelfibeln. Vorsichtig legte sie sich eine Perlenkette aus Bernstein um und dazu noch eine blaue Glasperlenkette. Um ihre Hüfte band sie sich einen breiten Stoffgürtel, an dem ein Stoffbeutel hing, der mit kleinen Tierknochen befüllt war. Diese dienten ihr als Orakel. Zusätzlich trug sie noch ein schlichtes Messer bei sich und einen Beutel mit ihren Alltagsgegenständen, wie Haarnadeln, einen Kamm aus Knochen und verschiedene Nähnadeln. Schnell schlüpfte sie noch in ihre einfachen Lederschuhe und begann ihr prächtiges rötliches Haar zu pflegen und zu flechten. Eigentlich hatte sie dunkelbraunes Haar, nur versuchte sie sich ihre Haare in regelmäßigen Abständen mit Hilfe von Talg und Asche aufzuhellen. Leider erzielte es bei ihrer Mähne nicht den gewünschten Effekt und ihre Haare wurden eher rötlich.

Der Traum hatte sie sehr mitgenommen. Ihre Kindheit. Wenn sie sich an etwas nicht erinnern wollte, dann daran.

Ihre Eltern schoben sie bei Ulfmarr ab und starben nur wenige Tage später bei einem Sturm. Einen Sturm, den sie vorhergesehen hatte. Ulfmarr erkannte schnell Thedas seherischen Gaben und nahm sie unter seinen persönlichen Schutz. Als sie erwachsen war, ernannte er sie als seine Seherin und zur Hohepriesterin der Chauken.

Nicht jeder wusste ihre Fähigkeiten zu schätzen. Darunter Arn, Ulfmarrs Leibwächter und engster Vertrauter. Noch nie hatte Theda jemanden getroffen, der so ein kaltes Herz besaß, wie dieser Hüne. Seitdem er Theda kennengelernt hatte, schien er nur ein einziges Ziel in seinem Leben zu haben. Er wollte sie brechen. Sie irgendwie loswerden. Dummerweise war nur Ulfmarr im Weg, der ganz vernarrt in sie war.

Vor einigen Wochen hatte es Arn irgendwie geschafft, sie der Schadzauberei zu verdächtigen und während ihrer Gefangenschaft bis zur Verhandlung, überfiel er sie in ihrer Unterkunft. Er hatte an ihr seinen ganzen aufgestauten Frust ausgelassen, sie getreten, geschlagen und missbraucht.

Mittlerweile waren ihre Wunden verheilt, doch ihr Geist litt noch sehr unter diesen Erfahrungen. Es war gar nicht so sehr die Tatsache, dass Arn ihr Gewalt angetan hatte. Nein, erschreckend war, dass niemand, nicht einmal Ulfmarr, ihr geglaubt hatte. Allerdings, warum sollte er auch? War sie doch nur eine einfach Halbfreie in Ulfmarrs Diensten.

Niemand legte sich freiwillig mit Arn an. Er hatte unter den Chauken einen bestimmten Ruf, wodurch sie alle eine gewisse Angst vor ihm hatten. Arn besaß auch eine dementsprechende Statur, die auf jeden Siedler sehr respekteinflößend wirkte. Bisher hatte er nie einen Zweikampf verloren.

Theda war nun Anfang zwanzig und erst vor Kurzen hatte sie die Gerichtsverhandlung, das Thing, hinter sich gebracht. Nur dank Arnodd flog auf, dass Arn andere Männer bezahlt hatte, damit diese gegen sie aussagten.

>Arnodd, er müsste bald hier in Fabiranum ankommen<, überlegte sie mit einem dankbaren Lächeln im Gesicht.

Ulfmarr hatte einige Dorfherren zu sich in die Festung eingeladen, um mit ihnen über die Siedlungen der Chauken zwischen der Ems und der Weser zu sprechen. Was genau es dort für Probleme gab, hatte sie noch nicht gehört. Selbst Ulfmarr erzählte ihr nicht alles.

Arn war, obwohl er mit seinen falschen Anschuldigungen die heiligen Gesetze des Things gebrochen hatte, noch immer Ulfmarrs rechte Hand. Der Fürst schätzte Arns Stärke, seine Loyalität und seine Entschlossenheit im Kampf. Bei den Gedanken ihn heute sehen zu müssen, biss sich Theda wütend auf ihre Lippen. Ihm hatte sie so viel Leid zu verdanken, während sie hier in ihrem Zimmer eingesperrt gewesen war.

Nur einmal in ihrem Leben hatte sie einen Schadzauber gewirkt. Es war ein Fluch, den sie über Arn ausgesprochen und mit ihrem Blut besiegelt hatte. Einen Fluch, welcher ihn in den Wahnsinn treiben und verhindern sollte, dass er sich vermehrt. Das hatte ihr eine gewisse Genugtuung verschafft! Er hatte es ihr nicht gestattet jemals wieder Glück zu empfinden, also sollte es ihm genauso ergehen. Einzig die Begegnungen und die Gespräche mit ihren Göttern, hatten geholfen ihre körperlichen und geistigen Wunden einigermaßen zu lindern.

Aber auch die besten Gespräche schafften es nicht, ihre Erinnerungen daran auszulöschen. Manchmal überfielen die Erinnerungen sie mitten am Tag und oft träumte sie von Arns grausamen Taten. Sie fühlte dann alles genauso, wie an dem Abend, als er zu ihr kam. Die Schmerzen, als sie gegen die kalte Wand gedrückt wurde, die Schmerzen als er sie peinigte und die Schmerzen, die sie in ihrem Inneren wahrnahm. Theda schüttelte angewidert ihren Kopf, als wolle sie so die grausigen Gedanken abschütteln.

Langsam ging sie zu ihrem selbstgebauten Priesterstab der an der Wand lehnte. Er war aus massiven Eichenholz gefertigt und vorsichtig strich sie über die feinen Ornamente, die sie mühevoll in das Holz geschnitzt hatte. Ein bleicher Rehbockschädel, den sie im Moor gefunden hatte, verzierte das Ende ihres Stabes. Die Namen ihrer wichtigsten Götter hatte sie in Runenschrift in das Holz eingeritzt.

Sie fühlte, wie sie sich immer mehr veränderte und spürte, wie sich der Hass in ihr ausbreitete. Ein Hass auf Arn und auf die vielen anderen Menschen, die sie für Reichtum verraten hatten. Und gleichzeitig fürchtete sie sich so zu werden, wie derjenige, den sie am meisten verabscheute. Sie liebte niemanden und sie konnte niemanden lieben. Sogar Ulfmarr nicht. Und das, obwohl er stets gut zu ihr gewesen war.

Plötzlich hörte sie vor ihrer Tür Schritte. Unbewusst verkrampfte sie sich.

>>Theda? Ulfmarr möchte mit dir essen, bevor seine Gäste eintreffen<<, rief jemand, vermutlich einer von Ulfmarrs Sklaven, vor ihrer Tür.

Theda wandte sich von ihrem Stab ab.

>>In Ordnung. Ich bin gleich da<<, erwiderte sie gleichgültig und horchte, wann sich der Kerl von ihrem Zimmer entfernte und sie bedenkenlos vor ihrer Tür treten konnte, ohne das sie jemanden begegnen könnte.

Langsam schlich sie sich zur Tür und atmete tief durch. Wie jeden Morgen hatte sie Angst davor, was ihr am Tag alles zustoßen könnte.

Eske, die Frau des Dorfherren Arnodd von ungefähr achtunddreißig Winter, ließ ihren Blick über die Dorfwurt wandern. Arnodd war seit gestern im Fabiranum zu einer Versammlung geladen. Gerne hätte sie ihn unter irgendeinen Vorwand begleitet, doch sie musste ihn hier vertreten.

Das Gehöft des Dorfherren befand sich am Rand der Dorfwurt Fallward, ins Landinnere hinein gelegen. Wie alle Herrengehöfte in der Wesermarsch. Die Bauweise war überall die Selbe. Lange Wohnstallhäuser mit ihrem Speicherhaus waren halbkreisförmig um einen großen Dorfplatz angeordnet. So hielten die Häuser die steifen Brisen des Nordwestwindes einigermaßen zuverlässig stand. Das Herrengehöft umfasste deutliche mehr Häuser, als ein normaler Hof. Mehrere Ställe, eine riesige Versammlungshalle, Vorratsspeicher, Handwerkshäuser und ein großes Langhaus standen den Bewohnern des Herrengehöftes zur Verfügung. Jedes Gebäude war mit Keilen gegen das Einsinken in den Boden gesichert und jeder Hof war durch einen Flechtzaun von seinem Nachbargrundstück abgegrenzt. Ein einziger Dorfbrunnen, der am Rande des Dorfplatzes lag, versorgte die Siedler mit Wasser.

Eske fröstelte und fasste sich an ihrem Nacken. Schon seit einigen Tagen schmerzte er und eine bleierne Müdigkeit verriet ihr, dass ihr wieder einer dieser heftigen Kopfschmerzanfälle bevorstand. Innerlich rang sie mit sich, in das Moorgebiet zu gehen. Es war gerade Ebbe und die Marschlandschaft mit ihren Gräben und Prielen war gut passierbar. Im Sumpf wuchs eine Pflanze, die ihr helfen konnte.

Doch nicht nur wegen der Wurzel wollte sie noch schnell in das Moor gehen. Sie hoffte dort noch jemanden zu treffen. Einen Heiler, den die Chauken vor einigen Jahren verstoßen hatten. Am Rande des Moores hatte er sich eine kleine Kate aufgebaut und versuchte dort zu überleben. Eske hoffte, er lebte noch immer dort. Allerdings war das Wetter heute sehr ungemütlich und eigentlich ideal für einen gemütlichen Abend am warmen Herdfeuer.

Eske eilte in das Herrenhaus zurück und durchsuchte alle Regale, Töpfe und Schalen nach dem Kraut. Missmutig stellte sie fest, dass sie leider schon alles von der Wurzel aufgebraucht hatte.

>Mist<, fluchte sie und nahm sich einen Korb und einen langen kräftigen Stock von der Wand. Der massive Eichenstock half ihr, schneller die Gräben in der Marsch zu passieren, doch da hatte sie nicht mit der alten Aaltje gerechnet.

Aaltje, Arnodds Mutter, hatte sich in einer Ecke des Hauses gesetzt und bereitete die gewaschene Schafwolle für die Verarbeitung vor.

>>Du willst nicht wirklich noch los, oder?<<

Aaltje blickte von dem Eimer auf und beobachtete Eske genau. >>Du willst ins Moor? Allein?<<, setzte die alte Dame nach.

Eske blieb wie erstarrt stehen. Sie hatte Aaltje gar nicht bemerkt.

>>Ja, allein. Dann bin ich schneller unterwegs.<<

Eske war sichtlich genervt und würdigte der Alten keinen Blick. Sie verlor zu viel Zeit! Sie fühlte, wie ihre linke Hand kribbelte und sich ihre Finger teilweise taub anfühlten. So war es immer, bevor die heftigen Kopfschmerzen begannen. >>Ohne den Saft des Huflattichs, überlebe ich die Schmerzen nicht!<<

Aaltje hatte keinerlei Verständnis und schüttelte den Kopf. Die rüstige Alte, sie mochte um die sechzig Winter alt sein, war gesundheitlich noch sehr gut zu Wege. Sie besaß noch alle Zähne und ihre Knochen schmerzten noch nicht. Sie war klein. Wohl die kleinste Siedlerin von Fallward, doch sie wusste, wie sie sich durchsetzten konnte.

>>Das ist Unfug und das weißt du! Leg dich in dein Bett und nach ein paar Tagen geht es dir wieder gut. Ob mit oder ohne Wurzelsaft. Wir kennen das ja schon von dir<<, schimpfte Aaltje und zupfte an der Wolle, >>Die Luft draußen riecht nach Gewitter. Vergiss nicht, du hast Verantwortung!<<

Aaltje wurde das Gefühl nicht los, das die Dorfherrin etwas verheimlichte. >>Oder was hast du wirklich vor?<<

Eske sah sie für einige Augenblicke einfach nur an. Mit einem Blick, der durchbohrender nicht sein konnte, doch Aaltje wich dem nicht aus. Es war wie ein Zweikampf. Nur mit den Augen.

>>Ich bin gleich wieder da.<<

Eske blieb stur und ließ die alte Aaltje zurück.

Der Regen hatte den Boden so weit aufgeweicht, dass Eske die Dorfwurt beinahe herunterrutschte. Sie hob ihr Wollkleid mit einer Hand ein wenig an und eilte so schnell wie möglich über die Ackerfelder in der Marsch, wobei sie immer wieder knöcheltief in den aufgeweichten Boden einsank. Die Marsch war durch kleinere Gräben und Priele durchzogen, aber dank ihres dicken und stabilen Stockes, konnte sie diese an schmalen Stellen gut passieren.

Mit Schrecken stellte sie fest, dass die Dämmerung bereits einsetzte. Als sie das Moor fast erreicht hatte, hörte sie in der Ferne ein leises bedrohliches Donnergrollen. Hatte die alte Aaltje also doch recht behalten. Schaudernd lief sie so schnell wie möglich zum Sumpfgebiet.

Der Regen gewann an Stärke und der Wind frischte plötzlich auf, als vor ihr das düstere Moor auftauchte. Ihre dicke Wollkleidung hielt die Nässe kaum noch ab.

Leider war es das kleinere Übel. Im Moor war es bereits so dunkel, dass sie fast nichts mehr erkennen konnte. Eske stockte und blieb sofort stehen. Eine Krähe rief aus einer Baumkrone zu ihr runter, als wollte sie Eske warnen, den Sumpf zu betreten. Sie zweifelte. Das Moor war nachts besonders tückisch. So viele zwielichtige Wesenheiten trieben dort ihr Unwesen.

Es donnerte erneut. Lauter und lang anhaltender. Unsicher, sah sie zurück nach Fallward. Wäre sie nur zu Hause geblieben. Ihr Platz, bei solchem Wetter, war am warmen Herdfeuer. Dort hätte sie Aaltje bei der Wolle helfen können. Allerdings wollte Eske der Alten den Triumph nicht gönnen, wenn sie ohne Pflanze nach Hause käme. Vielleicht fand sie auch die Kate des Verstoßenen und konnte dort verweilen, bis das Gewitter weitergezogen war.

Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Sie fühlte, wie der Schmerzanfall nahte. Vor ihren Augen erschien bereits diese typischen farblichen Linien, manchmal auch ein flimmernder schwarzer Kreis. Sie wusste, dass diese Anfälle auch wieder vorbeigingen. Nur das war leichter gesagt als getan, denn jetzt stand sie hier, vor einem schaurigen Moor und ein Gewitter zog auf.

Die Windböen rauschten durch die hohen Birkenbäume, die unter den Böen verdächtig ächzten. Ängstlich umfasste sie ihr Schutzamulett. Vielleicht hätte sie den Wesenheiten eine Opfergabe mitbringen sollen. Ein Geschenk, damit sie das Moor auch wieder verlassen dürfte. Die Frage ist nur, hätten die Naturgeister und die Geister der Menschen, die im Moor verunglückt waren, ihre Gabe akzeptiert? Diese Wesen waren oft übel gelaunt und blieben lieber unter sich. Kein Siedler betrat ohne ein Schutzamulett den Sumpf. Die Geister wirkten Zauber. Zauber, die dafür sorgten, dass der Verstand des Wanderers wirr wurde und dieser nie wieder den Weg aus den Mooren fand.

Eske schluckte stark, als wollte sie auf diese Weise ihren Herzschlag beruhigen, den sie in ihrem Hals spürte. Es war die Magie, die sie hier fühlte. Nirgendwo konnte sie die Welt hinter dem Schleier intensiver wahrnehmen. Sie gab ihrem goldenen Amulett einen kleinen Kuss und versteckte es wieder unter ihrer Gewandung, bevor sie weiterging.

Unsicher betrat sie die nassen Holzbohlenwege, die das Moor durchzogen. Eske war in Friesland in einer sehr ähnlichen Landschaft aufgewachsen und als sie mit elf Jahren nach Fallward kam, waren ihr die Gefahren der Moore mehr als vertraut. Vorsichtig ging sie tiefer in die Sümpfe hinein.

Kein Wind rauschte mehr durch die Bäume, kein Abendvogel sang sein Lied. Eine unheimliche Stille breitete sich in den Sümpfen aus, die nur durch ein tiefes Donnergrollen unterbrochen wurde.

Eske schauderte und hoffte, dass der Donnergott Thunar ihr wohlgesonnen war und sich noch ein bisschen Zeit ließ, damit sie wieder rechtzeitig nach Hause kam. Unbewusst ging sie schneller und musste aufpassen auf dem nassen Holz nicht auszurutschen. Sie zitterte und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Alles in ihr schrie danach sofort umzukehren, sich in Sicherheit zu bringen. Aber sie wollte nicht aufgeben! Nur noch ein paar Schritte und sie hatte die Stelle erreicht. Dort an einem bestimmten Sumpfloch wuchsen immer ausreichend von diesen Pflanzen.

Ihre Beschwerden wurden langsam stärker. Mittlerweile war ihr schlecht, der ganze Bauch fühlte sich eklig an. Angst stieg wieder in ihr auf, sodass sie sich ablenken musste, um nicht dem Gefühl der Flucht nachzugeben. So dachte sie an ihre Kindheit zurück, an Zeiten in denen noch alles in Ordnung war. Ihre Gedanken gingen zurück, als sie hier bei den Chauken heimisch wurde. Erinnerungen an schöne unbekümmerte Zeiten. Die Zeit, als sie Arnodd geheiratet hatte und somit als Friesin bei den Chauken aufgenommen wurde. Sie lächelte und erinnerte sich an die Vergangenheit der Friesen und Chauken. Berichte über vergangene Zeiten, die von Generation zu Generation weitergeben wurden.

Hier in der Marschlandschaft war es schon immer oft nass und kalt. Es war kaum vorstellbar, dass Menschen hier leben konnten. Doch das taten sie. Vor Jahrhunderten oder gar vor Jahrtausenden siedelten sich die ersten Siedler in einer Landschaft an, die absolut lebensfeindlich war. Die meiste Zeit im Jahr war es dunkel, kalt und regnerisch. Selbst die Sommermonate waren oft nass. Häufig starben viele Siedler an Krankheiten und litten unter schlechten Ernten. Die Marsch war dennoch fruchtbar und dank der Nordsee waren die Fischernetze der Siedler immer ausreichend befüllt. Ihre Handelsbeziehungen reichten weit in das Land hinein und über die See. Sogar mit dem römischen Reich tauschten sie ihre Waren. Regelmäßig machten sich Händler mit Bernstein, Haaren, vorzugsweise helles Haar, und Getreide auf den langen, beschwerlichen Weg zum Rhein.

Das Land der Chauken, welches sich von der Ems bis zur Elbe erstreckte, hatte schon viel Blut gesehen. Schreckliche Kriege tobten in der Marsch und in den nahe gelegenen Mooren. Vor Generationen mussten die Chauken und die Friesen, die das Küstengebiet vom Rhein bis zur Ems bewohnten, ihr Knie vor Rom beugen und Tribut an sie zahlen.

Eskes Volk, die Friesen, ließen sich das nicht lange gefallen und lehnten sich gegen die Ausbeutung Roms auf und erkämpften sich ihre Unabhängigkeit zurück. Gemeinsam mit den Chauken und den Segen ihrer Götter, vertrieben sie die Römer aus ihrem Landen.

Die Römer hatten sich an den Rhein zurückgezogen, dort wo sie sich ihre Grenzbefestigung, den Limes, errichtet hatten. Nur ein alter römischer Handelsplatz, das Fabiranum, zeugte noch von der Besetzung.

Nun war der Handelsplatz unter der Herrschaft der Chauken und die Festung von Ulfmarr, Fürst der Chauken, besetzt. Von dort aus herrschte er über die Siedler der Wesermarsch, kümmerte sich um die Handelsbeziehungen mit den anderen Stämmen und Römern.

Eske fühlte, wie sie langsam wieder ihre innere Ruhe fand. Die Erinnerungen an die alten Geschichten und Legenden der ruhmreichen Schlachten, lenkten sie von ihrer Furcht ab. Die ersten Blitze zuckten in der Ferne und durchbrachen die Dunkelheit. Sie legte einen Schritt zu und erreichte endlich ihre Sammelstelle.

Eske blieb wie erstarrt stehen und rieb sich die Augen. Mit Schrecken sah sie, dass dort eine kleine Kate stand!

>Was?<

Verwirrt fasste sie sich an den Kopf. Ihre Sammelstelle und das Sumpfloch waren verschwunden und genau an der Stelle stand das kleine Reetdachhaus. Eigentlich musste die Kate weiter nördlich am Rande des Moores stehen.

Das kleine Haus war einem Langhaus sehr ähnlich. Nur viel kleiner. Kein Vieh wohnte hier. Es war nur für eine Person erbaut worden. Es musste das Haus des Einsiedler sein. Wer sollte sonst hier so abgeschieden leben? Viele schaurige Geschichten ranken sich um den alten Mann. Er mied die Siedlungen der Chauken, so gut er konnte und lebte von dem, was die Marsch, die Wälder und das Moor ihm bieten konnten.

Einst tauchte er in Fallward auf und bekam das Gastrecht. Schnell stellte sich heraus, dass er viel wusste. Zu viel. Er beherrschte die Heilkünste, kannte viele wirksame Rituale für der Götter und schon bald sagten ihm viele Siedler Zauberkräfte nach. Er wurde den Bewohnern unheimlich und sie verjagten ihn aus Fallward. Es hieß, er habe versucht, in anderen Wurtensiedlungen Anschluss in die Gemeinschaft zu finden, aber es wollte ihn keiner aufnehmen.

Eske starrte wie gebannt auf die Kate, die dort eigentlich gar nicht hingehörte. Ein schwacher Lichtschein flackerte am Eingang der Hütte. Vorsichtig trat sie näher heran und wollte hineinsehen. Fast zärtlich klopfte sie gegen einen Holzbalken und trat ein.

>>Jemand da?<<, flüsterte sie unsicher.

Als niemand antwortete, betrat sie die Kate. Im Feuerschein sah sie sich unsicher um, die sehr übersichtlich eingerichtet war. Auf einigen Holzregalen standen ein paar wenige Holzschalen und Tongefäße. Einige menschenähnliche, kleine Figuren verzierten die Regale. Auf den Boden standen einige Fässer voll mit Getreide. Es gab noch nicht mal ein Bett oder ein Strohlager. Nichts, was als Platz zum Schlafen herhalten konnte.

Ein leises Donnergrummeln riss sie aus ihren Gedanken. Sie musste weiter. Irgendetwas stimmte hier offensichtlich nicht. Das Gewitter kam näher. Die Figuren auf den Regalen, warfen einen unheimlich Schatten an die Wände. Eske musste nach Hause. Sie hatte keine andere Wahl. Das Gewitter kam zu schnell näher. Der Huflattich musste noch warten. Aaltje hatte recht. Sie hätte nie herkommen dürfen! Alles andere kam ihr plötzlich unwichtig vor.

Schnell wandte sie sich zum Gehen, als ein weiterer Donnerknall die Hütte erschütterte.

>>Ich an deiner Stelle, würde lieber nicht mehr nach draußen gehen!<<, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihr.

Eske zuckte vor Schreck zusammen und drehte sich sofort um. Ihr wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht, als sie am Feuer einen alten Mann sitzen sah, der gerade an einer Holzfigur arbeitete. Er sah sie nicht an, sondern schnitzte vertieft weiter.

Eske beobachtete ihn aufmerksam.

>>Das… das ist unmöglich. Hier war niemand<<, flüsterte sie und ging langsam zum Feuer, jederzeit bereit, aus der Hütte zu fliehen. Ob dies tatsächlich der Alte war, den sie damals aus den Siedlungen vertrieben hatten, vermochte sie nicht zu sagen. Wo kam der so plötzlich her? Er hatte etwas Unheimliches an sich! Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Durch seine dunkelbraunen Gewänder, wirkte er im Schein des Feuers, wie ein fürchterlicher Alb, der nachts die Albträume brachte.

>>Was ist? Setzt dich ans Feuer und wärme dich auf!<<, forderte er sie mürrisch auf und deutete mit seinem knochigen Finger auf einen Sitzplatz am Feuer.

Eske zögerte, doch langsam kam sie näher und setzte sich zu ihm. Sie hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging oder ob ihr der Verstand nur etwas vorgespielte. Aber es war mehr als unklug, wenn sie bei diesem Wetter den Rückweg nach Fallward antrat.

Sie spürte, wie langsam ihre Kopfschmerzen einsetzen. Es war erst nur eine Art Druck an der Schläfe, der sich nun langsam zu einem pochenden Schmerz weiterentwickelte. Es fiel ihr schwer, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr Bauch rumorte. Innerlich verfluchte sie sich, dass sie so stur gewesen war und unbedingt heute gehen wollte. Sie atmete tief durch und sah auf seine Holzfigur in seiner Hand. Mit irgendetwas musste sie sich ablenken.

Endlich erkannte sie, an was er gerade so konzentriert arbeitete. Es war offensichtlich ein Mann, der eine Art Keule in seinen starken Händen hielt. Scheinbar stellte er sich so den Donnergott Thunar vor. Eske war überrascht, wie er auf Feinheiten achtete. Zögernd sah sie sich genauer in seinem Zuhause um. Plötzlich merkte sie, dass ihre Augen wahnsinnig schmerzten. Kurz hielt sie sich ihre Hand an die Augen und sah wieder zu den Figuren hoch. Er schien viele solcher Götterfiguren zu schnitzen und sie alle wirkten so lebensecht, als ob sie jeden Moment erwachten.

>>Wo kommst du so plötzlich her? Hier war keiner als ich die Hütte gefunden habe.<<

Endlich hatte sie den Mut gefasst, das zu fragen, was sie schon die ganze Zeit beschäftigte.

>>Ich war die ganze Zeit hier. Du hast nur nicht genau hingesehen.<<

Er sah sie kurz ausdruckslos an und widmete sich wieder dem Donnergott zu.

>>Und was führt eine junge Frau in der Abenddämmerung ins Moor?<<, fügte er schnell an, wahrscheinlich nur um vom Thema abzulenken. Er sah auf und starrte sie mit einem durchdringenden Blick an, als ob er ihre Gedanken lesen wollte. Sein strenger Blick ruhte auf ihr, während er seinen Thunar fest in seinen Händen hielt.

Eske machte dieser Blick nervös und sie wich dem aus. Langsam fuhr sie sich zittrig durch ihr langes, nasses Haar und zögerte. Sie bemühte sich ihre ruhige Fassung zu bewahren und erklärte ihm, weshalb sie so spät noch das Dorf verlassen hatte.

>>Und du müsstest dann der alte Gaius sein<<, schlussfolgerte sie ruhig, >>wo warst du all die Jahre? Ich kann verstehen, wie es dir damals erging. Ich, als Friesin, war selbst fremd hier. Die Fallwarder akzeptierten mich nur, weil Arnodd mich heiratete. Teilweise sind sie mir gegenüber noch immer sehr misstrauisch und einige meinen sogar, ich habe Arnodd verzaubert.<<

Er sah sie nur kurz fragend an, schüttelte den Kopf und widmete sich wieder seinem Thunar zu.

>>Was bedeuten schon Namen. Ich trage so viele. Und du machst dir etwas vor!<<, stellte er ruhig fest, >>du wolltest alleine sein. Immer, wenn dir alles zu viel wird, kommst du hierher und genießt die Stille des Moores. Deinen Siedlern gibst du vor, Kräuterpflanzen für deine Kopfschmerzen zu sammeln, dabei suchst du hier im Stillen deine Ruhe.<<

Eske sah ihn wie ertappt an. Sie biss sich auf die Unterlippe und fuhr sich mit ihrer Hand traurig über ihre müden Augen. Er hatte teilweise recht. Ihre Tochter war vor einigen Jahren im Moor ums Leben gekommen. Seitdem suchte sie regelmäßig das Moor auf. Vielleicht in der Hoffnung, sie hier wiederzusehen. Sie hatte schon viele Kinder gehen lassen müssen, nur ein Sohn von insgesamt acht Kinder hatten ihr die Götter gelassen. Noch immer belastete sie der Tod ihrer jüngsten Tochter sehr. Sie fühlte, wie sich ihr Herz verkrampfte, wenn sie sich daran erinnerte.

>>Meine… meine Tochter kam hier ums Leben. Sie wurde sechs Winter alt. Hier habe ich das Gefühl, ihr Nahe zu sein und ich hoffe die Götter schenken mir auf meine alten Tage noch eine Tochter. Ich würde alles dafür geben. Und ich hoffe, du kennst einen Zauber, wie das möglich gemacht werden kann.<<

Sie schluckte ihren Kummer runter und sah, wie ihre Hände zitterten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Der Einsiedler sah sie lange an. Plötzlich konnte sie so etwas, wie Mitgefühl in seinen trüben, blauen Augen erkennen. Vorsichtig nahm er ihre Hand in seine, um sie zu beruhigen.

>>Wir sollten der Muttergöttin Frija opfern<<, überlegte er und legte seinen Thunar zur Seite.

>>Ich möchte dir gern helfen, da ihr mich damals als Gast bei euch aufgenommen habt, wenn auch nur kurz. Nur Frija ist, neben ihrem Mann Woden, eine sehr mächtige Göttin. Ihre Hilfe hat einen gewissen Preis.<<

Eske blickte auf und sah ihm entschlossen in seinen Augen, während sie unbewusst ihre Hand auf ihren Unterbauch legte. Hoffnung spiegelte sich in ihrem Gesicht.

>>Mir ist kein Preis, kein Opfer zu hoch!<<, entschlossen sah sie ihn an, >>ich würde Frija alles geben!<<

Ein Blitz erleuchtete die Hütte und ein gewaltiger Donnerknall krachte durch das Moor. Der Wind fegte durch die Kate. Augenblicklich erlosch das Feuer. Die alte Hütte knarrte verdächtig. Erschrocken schaute Eske zum Ausgang der Kate, bereit jeden Moment aufzuspringen, um nach draußen zu fliehen.

Die vergessenen Siedler

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