Читать книгу Die vergessenen Siedler - Birgit Scheele - Страница 6
Fallward
ОглавлениеDas Gewitter hatte Fallward fast erreicht. Der Wind frischte an der Küste merklich auf und verwandelte sich innerhalb von Augenblicken zu einem heftigen Sturm. Die Windböen peitschten durch die Siedlung und über die Dächer der Langhäuser hinweg. In der Siedlung brach Chaos aus. Die Menschen ließen sofort ihre Arbeiten stehen und liegen. Sie sicherten ihre Boote, ihre Langhäuser und allen voran ihre Vorratsspeicher. Die Siedler holten das Vieh von den Weiden und trieben es in die Ställe zurück. Kleine Hagelkörner prasselten als eine Art Vorbote des Unwetters auf Fallward und seine Einwohner nieder. Befehle wurden in den kleinen Sturm gebrüllt, die sogleich im Heulen des Windes erstickten. Die Reetdächer kämpften gegen die Böen und drohten abgerissen zu werden. Das Vieh in den Ställen lärmte, doch niemand fand Zeit die Tiere zu beruhigen.
Die alte Aaltje beobachtete das Geschehen in Fallward. Sie war viel zu alt um noch großartig mit anzupacken. Ihre Stimme hatte nicht mehr die Kraft, gegen den Sturm anzukommen. Langsam verließ sie das Grundstück des Herrenhofes und schlich sich mit ihrem Stock durch die Siedlung. Ihren dicken Wollumhang hatte sie eng um ihre Schultern gelegt und hielt ihn fest. Sie sah an jedem Hof das gleiche chaotische Bild. Tiere flohen vor Panik aus ihrem Stall und wurden wieder eingefangen. Kinder schrien und wimmerten vor Angst.
Langsam ging sie durch Fallward und blieb am Rand der Siedlung stehen. Mittlerweile hatte der Hagel aufgehört. Ein leises Grummeln durchzog immer wieder den Himmel. Kleine Blitze zuckten durch die schwarzen Wolken. Aaltje gehörte wohl zu den wenigen Siedlerinnen, die dieses Wetter liebten. Nachdenklich ließ sie ihren Blick über die aufgewühlten Wogen der Nordsee schweifen.
Aaltje lebte bereits über sechzig Winter hier in Fallward. Hier war sie aufgewachsen. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie sie als Kind im Watt unterwegs gewesen war und dort Muscheln und Krebse gesammelt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie an heißen Sommertagen in der Nordsee gebadet hatte, wie sie von ihrer Mutter alles Wichtige für das Leben auf einem Hof gelernt hatte. Sie erinnerte sich an kalte Wintertage und spannende Geschichten am Herdfeuer. Das waren noch schöne ruhige Zeiten gewesen. Zeiten, in denen die Chauken zusammenhielten und bei Problemen füreinander da waren. Aber nun stellte sie immer mehr fest, dass sich die Dorfgemeinschaften veränderten und der Stamm sich zerstritt. Ihr Sohn Arnodd wollte gemeinsam mit vielen anderen Siedlern zum Beginn des nächsten Sommers Fallward verlassen, um in Britannien ein neues Leben zu beginnen. Ins Emsland drangen die Friesen immer weiter vor und übernahmen in den letzten Jahren etliche Siedlungen der Chauken. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis die Friesen über die Weser setzen.
Aaltjes Herz verkrampfte sich, wenn sie daran dachte, ihr geliebtes Zuhause verlassen zu müssen. Sie sah an sich runter und stellte fest, dass sie immer dünner und faltiger geworden war. Ihre Kleider hielten nur dank der Bronzefibeln auf ihren Schultern zusammen. Wahrscheinlich würde sie eine Reise nach Britannien gar nicht überstehen.
>>Hier steckst du! Hast du Eske gesehen?<<
Aaltje wurde aus ihren düsteren Gedanken gerissen und drehte sich kurz zu der vertrauten Stimme um. Sie musterte ihre Tochter Beeke kurz und sah wieder zu den Wogen der Nordsee, welche rauschend gegen das Ufer brandeten. Der Regen störte sie nicht. Sie fand es schön die Kräfte der Natur hautnah zu erleben.
>>Im Moor.<< Aaltje lächelte verschmitzt und kuschelte sich in ihrem dicken Wollumhang. >>Glaube ich.<<
Entsetzt schaute Beeke zum Himmel auf und kräuselte ihre Stirn.
>>Wie bitte?! Sie kann vor der Dämmerung nicht einfach fortgehen! Und dann auch noch in das Moor?!<<
Über ihr blitzte es in den Wolken. Die grauen Wolken türmten sich zu schwarzen Gebilden auf und Beeke fragte sich besorgt, was sich dort oben wohl wirklich zusammenbraute.
Aaltje folgte Beekes Blick und lächelte ruhig.
>>Tja, ihre Entscheidung. Sie wird schon wiederkommen. Sie macht das doch öfter.<<
>>Als Frau des Dorfherren ist es ihre Pflicht, hier zu sein und… Was stehst du eigentlich bei diesem Sauwetter hier am Wasser? Du holst uns den Tod ins Haus!<<
Vorwurfsvoll sah Beeke zu ihrer alten Mutter und packte sie am Arm. >>Komm, wir müssen ins Haus gehen!<<
Aaltje konnte sich ein heimliches Grinsen nicht verkneifen. Beeke, war ihre jüngste Tochter und ungefähr im selben Alter, wie Eske.
>>Das Unwetter kommt aus dem Südosten. Findest du das nicht auch sehr ungewöhnlich? Schau, wie die Flut mit dem Sturm kämpft? Ich habe es schon immer geliebt, den Naturgewalten zuzusehen.<<
Aaltje sah verträumt den schäumenden Wogen zu, wie diese gegen die Wurt prallten und dort brachen. Aber nach einigen Augenblicken rieb sie sich müde ihre kleinen verblassten Augen.
>>Doch, du hast Recht. Wenn wir hier stehen bleiben und uns durchregnen lassen, holt uns tatsächlich noch der Tod!<<
Gemeinsam mit Beeke, eilte die Alte durch die Siedlung zurück. Für ihr hohes Alter war sie noch erstaunlich gut zu Fuß. Sie brauchte zwar einen Stock, weil sie sonst Rückenschmerzen bekam, aber sonst kam sie noch flott durch die Siedlung.
Am Dorfbrunnen blieb sie stehen und ließ ihren Blick über die Siedlung und die Marsch schweifen. Allmählich machte sie sich Sorgen. Die Flut hatte ihren Kampf gegen den Sturm gewonnen und überschwemmte die umliegenden Äcker. Die Gräben und Priele waren schon langer übergelaufen.
>Hoffentlich hatten es alle Siedler rechtzeitig in die Häuser geschafft<, fuhr es der Alten durch den Kopf. Beeke fasste sie am Arm und wollte Aaltje weiterziehen, da stockte die alte Dame plötzlich und sah ihre Tochter verwirrt an. >>Wo wollten wir noch gleich hin, Beeke?<< Beeke starrte sie entgeistert an, da sie ihren Ohren nicht traute. Aaltje mochte körperlich gesund sein, doch ihr Geist wurde zusehends schwächer. Beeke ließ es sich nicht anmerken, aber diese Erkenntnis machte sie traurig. Sie wollte ihre alte Mutter nicht beunruhigen. Sie riss sich zusammen und nahm wieder Aaltjes Arm. >>Na, nach Hause. Komm!<<, erinnerte Beeke sie ungeduldig und zog ihre Mutter weiter über den großen Dorfplatz, zu dem Herrenhaus. Völlig durchnässt setzten sie sich an die Feuerstelle und zogen ihren nassen Wollumhang aus. Als das Gewitter die Fallward erreicht hatte, zogen sich alle Siedler in ihre Häuser zurück und setzten sich an die warme Feuerstelle in ihren Langhäusern. Keiner wagte es zu sprechen, sondern alle lauschten dem unheimlichen Donnergrollen. Jeder Siedler war jederzeit bereit fluchtartig das Haus zu verlassen, falls der Blitz in das Reetdach einschlug und es entzündete. So harrten sie aus und lauschten dem Heulen des Windes. Normalerweise war in Fallward immer viel los. Der Dorfplatz war selten verlassen. Männer bewachten die Wurt, Kinder spielten auf dem Dorfplatz, wenn sie nicht gerade auf den Felder oder bei den Tieren helfen mussten. Nachbarn stritten sich an ihren Zäunen und Hühner liefen zwischen den Höfen herum. Doch nun wirkte die Siedlung wie ausgestorben. Ein greller Blitz schoss erneut durch die Siedlung. Ein lauter Donnerschlag folgte. Die Bewohner des Herrenhauses und sogar die alte Aaltje erschraken sich. Meistens zog ein Gewitter schnell weiter, doch dieses hier, hatte Ausdauer.
>>Wieso zieht Thunar nicht weiter? Wenn sein Blitz unsere Vorräte erwischt…<<, murmelte Beeke verzweifelt.
>>Er zieht gleich weiter. Bestimmt. Wir müssen Geduld haben und ihm vertrauen.<< Aaltje versuchte sich entspannen. Sie vertraute den Göttern. Wieso sollten sie Thunar erzürnt haben?
>>Du hast gut reden!<< Plötzlich stand Beeke auf, legte sich einen trockenen Wollumhang über die Schultern und befestigte ihn mit einer Ringfibel.
Besorgt beobachtete die Alte ihre Tochter.
>>Was hast du vor?<<
>>Thunar ein Opfer bringen. Er hat mir schon einmal alles genommen. Ich kann das nicht noch einmal durchmachen. Nicht nochmal!<<
Aufgeregt kontrollierte Beeke, ob ihr Langmesser noch am Gürtel befestigt war. >>Wenn ein Blitz unsere Vorratsspeicher erwischt, kommen wir nicht über den langen Winter!<<
>>Beeke! Es ist zu...<<
Es brachte nichts. Beeke ignorierte Aaltje und verließ eilig das Langhaus. Entschlossen kämpfte sie sich durch den Hagel zu den gegenüberliegenden Stall.
Aaltje und die anderen Mitglieder des Haushaltes, standen auf und liefen zum Ausgang des Hauses. Sie schauten zu, wie sich Beeke durch den Sturm in den Stall kämpfte und mit einem Huhn in den Händen wieder hinaus eilte.
Unbewusst fasste sich Aaltje ans Herz.
>>Komm her!<<, rief sie Beeke verzweifelt zu.
Nervös stand Aaltje am Eingang des Hauses und beobachtete mit klopfenden Herzen ihre Tochter.
>>Beeke!<<
Dicke Hagelkörner schlugen Beeke entgegen. Ihr Gesicht schmerzte. Am liebsten wäre sie sofort zurück ins Haus gegangen, um sich an das warme Feuer zu setzen, doch das kleine Ritual für Thunar war ihr zu wichtig.
Sie kämpfte sich an dem Rand der Siedlung, während das Huhn in ihrer Hand mit lautem Gegacker und kräftigen Flügelschlägen eifrig protestierte. Die Flut war mittlerweile hoch aufgelaufen und einzelne Wellen schlugen über den Rand der Wurt hinaus. Entschlossen hielt sie das Huhn in den Regen und zog ihr schlichtes Langmesser. Eine schnelle Handbewegung und sie hatte ihm die Kehle durchtrennt. Das warme Blut lief über ihre Hände und tropfte in die grauen Wogen der See.
>>Thunar! Gott des Donners und der Ernte.
Herr über das Wetter,
Beschützer der Erde!
Verschone unser Heim und unsere Ernte.<<
Beeke brüllte förmlich die Anrufung in den Sturm. Mittlerweile waren ihre Hände und ihr Gesicht durch die Hagelkörner ganz rot. Ehrfürchtig ließ sie sich auf die Knie fallen, um Demut vor dem Donnergott zu zeigen. Die Blitze zuckten über sie hinweg. Tiefes Donnergrollen folgte den Blitzen. Kurzentschlossen warf sie noch schnell das ganze Huhn in die Fluten und stand langsam auf. Ihr langes helles Haar triefte vor Nässe, von ihrer Kleidung ganz abgesehen. Sie zittere vor Angst. Es war nur eine kleine Anrufung gewesen, die Priester oder Arnodd konnten dies viel besser. Hoffentlich erhörte Thunar sie trotzdem. Sie wagte einen Blick auf das unruhige Meer. In dem Moment schlug ein gewaltiger Blitz in die Nordsee ein. Ein ohrenbetäubender Knall folgte ihm.
Beeke erschrak. Sie war geblendet, doch das hinderte sie nicht daran voller Angst zum Haus zurückzulaufen.
Am Eingang des Herrenhauses wurde sie von zwei Sklavinnen empfangen. Sie nahmen ihr den nassen Umhang ab und begleiteten sie ans Feuer, um ihr dort einen trockenen Wollumhang zu reichen. Beeke nahm ihn ohne ein Wort an sich, wickelte sich darin ein und setzte sich. Schnell zog sie die durchnässten Lederschuhe aus und streckte ihre Hände und ihre Füße den wärmenden Flammen entgegen. Ihre Mutter setzte sich sofort neben sie.
>>Was hast du dir dabei gedacht? Das ist Sache der Priester oder des Dorfherren, die Götter anzurufen! Dir hätte da draußen sonst was passieren können!<<
Wütend funkelte Aaltje sie an. Die Alte hatte sich auf einen Holzhocker gesetzt und nahm sich einen Eimer Schafwolle. Ganz nebenbei funkelte sie ihre Tochter an.
>>Sieh dich an! Du triefst vor Nässe! Na, wer holt jetzt den Tod ins Haus?!<<
>>Es geht um das Wohl der Siedlung. Wir können es uns nicht leisten Vorräte zu verlieren! Fallward hat keinen eigenen Priester, der Dorfherr ist bei Ulfmarr und Eske ist übrigens noch immer verschwunden. Ich habe durch Thunar schon so viel verloren!<<
>>Deswegen musst du aber nicht dein Leben riskieren! Thunar zieht auch ohne Ritual weiter. Der bleibt nie lange an einem Ort.<<
>>Mein… Leben…<<, spottete Beeke enttäuscht. >>Ich möchte nie wieder hungern!<< Beeke fuhr sich durch ihre nassen Haare. >>Es wäre Eskes Aufgabe gewesen. Aber die treibt sich natürlich wieder sonst wo herum! Sie muss Arnodd vertreten, wenn er unterwegs ist,<< erwiderte sie zickig, >>aber das tut sie nicht.<<
>>Das du jede Gelegenheit nutzt, um gegen sie zu stänkern! Niemand geht bei diesem Wetter raus. Weder Arnodd, noch Eske. Wenn, hätte Arnodd irgendein Opfer von hier genommen und es ins Feuer geworfen. Wahrscheinlich Bier oder Getreide<<, erwiderte Aaltje. Sie war sichtlich enttäuscht von Beeke und widmete sich wieder der Wolle zu.
Im Moor war es bei Sturm, durch die umstürzenden Birkenbäume, mehr als gefährlich. Erst recht in der Dunkelheit. Nur ein falscher Schritt könnte den Tod bedeuten. Was Arnodd wohl zu Eskes Alleingang sagen wird?
>>Hoffentlich geht es ihr gut. Wenn ihr etwas zustößt, wird Arnodd uns dafür verantwortlich machen.<< Aaltje sah besorgt zu ihrer Tochter und zu den Bediensteten des Hofes. Die Halbfreien und die Unfreien. Alle sahen schweigend in die Flammen.
Beekes Blick verfinsterte sich. Das fehlte ihr noch, sollte Arnodd sie für irgendwas, was Eske getan hatte, verantwortlich machen.
Damals, vor ungefähr zwanzig Jahren, war sie gegen die Hochzeit von Eske und Arnodd gewesen. Diese Friesin war einfach anders und das konnte sie nicht leiden. Die zukünftige Herrin über die Fallward litt oft unter heftigen Kopfschmerzanfällen, verbunden mit Sehstörungen und starker Übelkeit. Das war ein schlechtes Zeichen. Ein Zeichen, dass ein Fluch auf Eskes Familie lastete. Und dann war sie auch noch eine Friesin. Eine Fremde. Sie war eh der Meinung, dass sich die Friesen zu sehr in die Belange der Chauken einmischten. Immer mehr Friesen verheirateten sich mit Chauken und mit der Zeit war schon fast das ganze Gebiet zwischen der Ems und der Weser in deren Händen. Beeke fürchtete, dass den Siedlungen in der Wesermarsch irgendwann das gleiche Schicksal bevorstand.
Anfangs hatte sie beschlossen, Eske wenigstens zu akzeptieren, sich vielleicht sogar anzufreunden. Doch mit den Jahren hasste sie diese Frau immer mehr. Obwohl diese Friesin scheinbar verflucht war, fiel ihr das Glück nur so zu. Arnodd liebte sie, sie bekam wundervolle Kinder und sie waren reich.
All das war Beeke bisher vergönnt. Sie hatte zwar einst in eine reiche Familie eingeheiratet. Lebte mit ihrem Mann viele Jahre in Flögeln. Eine Siedlung nordöstlich von Fallward gelegen. Sie waren keine Dorfherren, aber sie besaßen einen großen Hof mit einigen Unfreien.
Aber Reichtum ist vergänglich. Ein Unwetter, viel stärker als dieses, suchte Flögeln heim und beschädigte ihren Hof schwer. Der Vorratsspeicher brannte ab und das Feuer griff auf ihr Langhaus über. Zwar konnte ein Großteil von ihrem Besitz gerettet werden, doch viele Tiere kamen in den Flammen um.
So erging es vielen Siedlern in ihrem Dorf und sie lernten, wie schlimm Hunger sein konnte. All ihr Besitz und auch ihre Dienerschaft tauschten sie damals gegen Nahrung ein und als sie dachten, es geht im Frühsommer aufwärts, verstarb ihr Mann an den Folgen einer eitrigen Verletzung am Bein, die er sich bei der Feldarbeit zugezogen hatte. Von niemanden bekam sie Hilfe, weder von anderen Siedlern aus Flögeln, noch von ihren Halbbruder Arnodd. Wenigsten bot er ihr eine Bleibe im Herrenhof an. Alleine mit ihrer Tochter konnte sie ihren eigenen Hof nicht mehr bewerkstelligen. So nahm sie Arnodds Angebot an und verließ mit ihrer einzigen Tochter ihre Heimat. Doch nur ein Winter später verstarb das einzige Kostbare, was ihr noch geblieben war, an einem Fieber. Seitdem hatte Beeke niemanden mehr, außer ihrem Halbbruder Arnodd und ihrer Mutter Aaltje.
Beeke seufzte und sah ins Feuer. Sie hatte mehr als einmal überlegt sich erneut zu verheiraten. Arnodd hatte genug Besitz um eine Hochzeit zu zahlen, nur mit ihren knapp vierzig Wintern war es schwer einen geeigneten Mann zu finden. Außerdem glaubte sie nicht daran nochmal Mutter werden zu können. Nur, was war eine Chaukin ohne Kinder? Was blieb von ihr, wenn sie einst sterben musste? Und wer half ihr, wenn sie einst so gebrechlich wurde, wie ihre Mutter Aaltje? Und warum nur spielten ihr die drei Schicksalsgöttinnen so übel mit, während diese verfluchte Eske immer Glück hatte?
Beeke sah gedankenverloren in das Feuer. Ob ihre Vorfahren irgendetwas getan hatten, was die Götter verärgert hatte und dies noch immer auf ihr lastete? Nur, wie konnte sie das verändern? Sie hatte es mit dem kleinen Ritual nur gut gemeint. Hätte Eske das Huhn geopfert, wäre sie mit Sicherheit nicht zurechtgewiesen worden.
Tja, Eske war anfangs noch sehr nett gewesen, doch mit der Zeit hatte sie sich verändert. Gerade in den letzten Jahren, nach dem Tod ihrer jüngsten Tochter. Arnodds Frau hatte sich nach diesem Schicksalsschlag immer öfter in die Einsamkeit des Moores zurückgezogen, sprach seltener und aß kaum noch. Ebenso häuften sich ihre heftigen Kopfschmerzanfälle, die Eske manchmal drei Tage oder mehr in ihr Bett zwangen.
Beeke hatte seit einiger Zeit schon versucht, Arnodd von einer Trennung zu überzeugen, aber er hielt treu zu seiner Gemahlin. Vielleicht hatte sie ihn verzaubert.
Heute war der Bogen endgültig überspannt. Sie hatte sich einfach davon geschlichen, obwohl sie hier ihre Pflichten hatte! Sie wusste, wie Arnodd auf solche Aktionen reagierte.
Diese Stille im Haus machte sie noch unruhiger. Sie wollte sich von ihren düsteren Gedanken ablenken.
>>Was für ein Abend. Das macht hungrig!<<, unterbrach Beeke die entsetzliche Stille und sah zu den Sklaven rüber.
>>Verteilt die Reste von dem Getreidebrei und schenkt Bier aus!<<
Unsicher sah die kleine Marje, eine Unfreie von ungefähr siebzehn Wintern, abwechselnd zwischen Beeke und Aaltje.
>>Aber das Gewitter…<<, merkte sie schüchtern an.
Beeke sah sie mit einem mahnenden Blick an. >>Wenn ich sage, dass du das Essen verteilen sollst, dann hast du dies gefälligst sofort zu erledigen!<<, herrschte sie die Kleine unfreundlich an, die sich darauf eilig an die Arbeit machte und die Schalen holte.
Aaltje verdrehte nur genervt ihre Augen und als Marje an ihr vorbeieilte, hielt sie die Kleine am Ärmel fest.
>>Mach dir keine Sorgen. Thunar zieht gleich weiter<<, beruhigte Aaltje sie freundlich, >>hör´ hin, es wird schon leiser.<<
Marje schaute die Alte verwirrt an, aber dann hörte sie genauer hin. Tatsächlich legte sich der Gewittersturm und der Regen wurde langsam immer leiser. Der Donner verstummte und allmählich wurde Fallward von dem fahlen Mondlicht erhellt.
Marje nickte Aaltje schüchtern zu und sorgte mit den anderen Sklaven dafür, dass alle etwas zu essen und zu trinken bekamen. Aaltje wollte nichts zu sich nehmen und reichte ihre volle Schüssel an Marje weiter.
Beeke traute ihren Augen nicht und hätte sie gerne vor allen zurechtgewiesen. Der Respekt vor ihrer Mutter hielt sie zurück. Das konnte nicht ihr Ernst sein! Erst widersprach Aaltje ihr vor allen Bewohner des Hauses und dann gab sie der jungen Sklavin auch noch ihr Essen.
Fassungslos aß Beeke ihren Brei und trank einen großen Becher Bier aus. Als sie ihr Mahl schweigend beendet hatte, zog sie sich ihre Holzschuhe an und trat darauf gemeinsam mit den anderen Bewohnern des Hauses nach draußen. Sie wollten sehen, was der Sturm angerichtet hatte.
Die Besitzer der anderen Gehöfte taten es ihnen gleich. Sie zündeten Fackeln an und binnen Augenblicken wurde ganz Fallward erhellt.
Der erste Überblick ließ die Einwohner aufatmen. Die Vorratsspeicher waren scheinbar unbeschädigt und die Dächer hatten dem Sturm erfolgreich getrotzt. Der Regen hatte den Boden in einen Sumpf verwandelt.
>>Mutter? Kommst du kurz mit?<<, bat Beeke Aaltje ruhig, während sie sich eine Fackel nahm. Aaltje nickte und nahm sich ihren Stock. Mit erhobenen Hauptes ging Beeke über den Dorfplatz durch die Siedlung an das Ufer der Nordsee. Im Fackelschein sahen sie, wie sich das Meer langsam zurückzog. Möwen kreischten in der Ferne und etliche Vögel suchten die Marsch nach kleinen Meerestieren ab, die das Wasser zurückgelassen hatte.
Sie hatte so eine Wut in sich, dass sie ihre nasse Kleidung nicht spürte.
>>Das ist mein Verdienst. Nur ganz allein meiner. Thunar hat das Opfer angenommen und seine Blitze haben uns verschont! Irgendwann werden die Siedler meinen Einsatz zu schätzen wissen. Und ich hoffe du auch!<<
Beeke sah ihre Mutter nicht an, sondern beobachtete stur die rauschenden Wogen der See.
Aaltje erwiderte nichts und schüttelte nur den Kopf. Sie atmete tief die kühle Meeresluft ein und streckte sich, sodass ihr Rücken knackte.
>>Du bist wütend, weil ich vorhin was gesagt habe.<< Gelassen stützte sie sich auf ihren Stock und beobachtete ihre Tochter.
Beeke wäre fast laut geworden, aber sie beherrschte sich. Noch.
>>Wie kannst du mir vor den Sklaven in den Rücken fallen und mich zurechtweisen?! Was ist in dich gefahren? Das hättest du mir sagen können, wenn wir alleine sind<<, fuhr Beeke sie wütend an.
Aaltje seufzte und schüttelte enttäuscht den Kopf.
>>Mir gefiel es nicht, wie du mit ihnen umgehst. Behandle sie gut und du wirst in ihnen treue Weggefährten finden!<<
Beeke sah sie nun doch direkt an.
>>Wir haben für sie gezahlt und wir können sie jederzeit wieder verkaufen. Sie sind keine Freunde oder Weggefährten. Die haben hier gar nichts zu melden!<<
Aaltje sah sie enttäuscht an und räusperte sich.
>>Du wärst selbst fast so geworden wie die. Wenn du uns nicht gehabt hättest, wärst du damals mit Glück bei einer fremden Sippe untergekommen. Und glaub nicht, dass sie dir viele Rechte zugestanden hätten. Und wie möchtest du dann von deinen Herrschaften behandelt werden?<<, mahnte Aaltje sie und fuhr fort, >>denkst du, dir passiert das nicht, weil du Arnodds Halbschwester bist? Arnodd hat jederzeit das Recht dich fortzuschicken. Was unterscheidet uns also von denen auf die du spuckst?<<
Aaltje sah zu der See vor sich und sah in den weiten dunklen Horizont. Einige Sterne zeigten sich zwischen den Wolken.
>>Beeke. Unsere Familie ist nicht groß. Wir brauchen treue Freunde und Weggefährten auf die wir uns verlassen können. Die Sklaven sollen uns nicht fürchten. Gerade wir Frauen sollten in schwierigen Zeiten zusammenhalten und uns nicht an zicken.<<
Beeke musste lachen und schüttelte den Kopf.
>>Das ist Blödsinn. Du wirst wirr im Kopf.<<
Sie lachte wieder.
>>Niemand ist zu seinen Sklaven nett.<<
Aaltje verzog keine Miene, sondern zeigte nur auf die See.
>>Das ist unser wahrer Feind, Beeke. Die See kann dir binnen Augenblicken alles nehmen, was du je besessen hast. Dein Besitz, deine Familie, dein Heim, alles. Dann bist du nicht besser als die kleine Marje. Das ist etwas, was die Chauken schnell vergessen. Denk bitte darüber nach. Arnodd und Eske haben es verstanden.<<
Aaltje ging langsam zurück. Sie war furchtbar müde, doch vor allem war sie es leid sich vor Beeke zu erklären. Im Haus entledigte sie sich ihrer nassen Kleider und zog sich ein trockenes Leinenkleid über. Erschöpft legte sie sich in ihr Bett, welches mit Stroh ausgestattet war und deckte sich mit einem Wollumhang zu. Sie hoffte, Beeke würde es eines Tages verstehen.
Beeke hatte das Gespräch nur noch wütender gemacht. Aus Wut schmiss sie die Fackel in die See und stampfte zurück in das Haus. Immer verglich sie jeder mit Eske! Ärgerlich biss sie sich auf die Lippen.
Im Haus setzte sie sich einfach auf Eskes Bettseite. Wenn diese durch ihre Abwesenheit glänzte, konnte sie wenigstens das gemütliche Bett für sich einnehmen. Schnell legte sie ihren Umhang ab, löste die Fibel von ihrem dunkelblauen Wollkleid und legte sich in ihrem Unterkleid, welches aus feinen Leinen gewebt war, in das Bett. Erleichtert hörte sie, dass ihre Mutter bereits tief schlief.
Plötzlich bemerkte sie die skeptischen Blicke der Sklaven.
>>Was gibt es hier zu gucken?<<, zischte sie die acht Diener an. >>Arnodd und Eske sind nicht hier, also kann ich deren Bett benutzen!<<
Marje fasste erneut den Mut sich zu äußern.
>>Wir sollten die Herrin suchen gehen…<<, schlug sie schüchtern vor, wagte es aber nicht Beeke anzusehen.
Beeke setzte sich sofort auf.
>>Sollten wir?<<, entgegnete sie zornig, >>kein normaler Mensch verlässt bei Dunkelheit die Siedlung! Es ist zu gefährlich da draußen.<<
Langsam beruhigte sie sich.
>>Es war Eskes Entscheidung. Ihre allein. Sie wird wahnsinnig. Nur so lässt sich ihr Alleingang erklären.<<
Beeke legte sich wieder hin und drehte sich zur Wand des Hauses um.
>>Morgen in der Früh suchen wir nach ihr.<<
Manchmal stellte sie sich vor, wie es wäre, wieder einen eigenen Hof zu haben. Doch dies war unmöglich. Einer allein konnte einen Hof nicht bewirtschaften. Diese Erfahrung hatte sie schon in Flögeln machen müssen.
Verunsichert legten sich die anderen Bewohner des Hauses auf ihre Schlafstätten. Eine Schlafstätte, die nur aus ein Haufen Stroh bestand. Sie genossen nicht die Vorzüge eines stabilen Bettes mit einem gemütlichen Kopfkissen, welches mit Wollgras aus dem Moor gefüttert war. Keiner wagte es, sich noch leise zu unterhalten.
Langsam kehrte in Fallward Ruhe ein und die Siedlung wurde nur durch das kühle Mondlicht erhellt. Nur wenige, einige halbfreie Burschen, blieben wach und hielten am Dorfrand Wache. Ihren Speer und ein Schild hatten sie stets griffbereit. Einige besaßen zusätzlich eine Axt und Bögen mit angerosteten Pfeilen. Es kam nicht selten vor, dass nachts Siedlungen überfallen wurden und wer wusste schon, was dort draußen im Dunkeln lauerte.