Читать книгу Die vergessenen Siedler - Birgit Scheele - Страница 8
Das Fabiranum
ОглавлениеMit einem wachsamem Blick stand Arnodd auf den hölzernen Gang hinter dem Palisadenwall. Die Festung der Chauken, das Fabiranum, lag nicht weit von Fallward entfernt. Zu Pferd dauerte der Weg keinen halben Tag. Stolz sah er in die Ferne, dort wo sein Dorf lag. Ein Gewitter tobte sich gerade an der Küste aus. Das war ungewöhnlich. Meistens zogen die Unwetter von der See auf.
Nachdenklich strich er sich über seinen dunklen Bart. In seiner rechten Hand hielt er einen Tonbecher der mit Bier gefüllt war, doch er trank kaum etwas davon. Seit einem Tag war er hier bei einem Treffen mit den anderen Herren der Dorfwurten der Wesermarsch. Nun fand im Hof eine große Feier statt. Doch er durfte und wollte sich nicht, wie so viele andere Siedler, betrinken. Während der Verhandlungen und Besprechungen musste er klar im Kopf sein. Ihm war eh nicht nach Feiern zumute.
Es stand nicht gut um die Siedlungen in der Wesermarsch. Die Ernten waren zwar reichlich, doch der Winter mit dem nasskalten Wetter machten viele Siedler krank. In den vergangenen Jahren hatten sie so viele Siedler wegen Fieber verloren, wie nie zuvor. Es fehlte vor allem aber der Nachwuchs. Viele Kinder starben in ihren ersten Lebensjahren.
Nun stand erneut der Winter vor den Toren und es war wieder nur Regen und eisige Kälte in Sicht. Die Sorgen um die Zukunft seiner Siedler ließen ihn schon seit einiger Zeit schlecht schlafen. Vor einigen Jahren reiften in ihm ein Plan heran, seine Dorfwurt aufzugeben um nach Britannien zu auszuwandern. Einige Sippen aus anderen Stämmen taten dies bereits. Doch was würden seine Ahnen davon halten? Sie haben um dieses Land gekämpft, es verteidigt und für was? Damit er die Küste nun doch aufgegeben musste?
Bisher hatte er nur Gutes aus Britannien gehört. Gutes Wetter, fruchtbare Böden und es war nicht so dicht besiedelt. In seinen Augen, lag dort die Zukunft der Chauken.
Arnodd ließ sein Blick über die riesige Hafenanlage wandern. Über die lange Ringwallanlage und über die große Festung. Was musste dieser Ort nur für Holzressourcen fressen? Allein diese Lage. Mitten im Sumpf und an den westlichen Rand der Siedlung grenzte der Wald, den Ulfmarr schon sehr gelichtet hatte. Wie konnten die Erbauer des Fabiranums die Festung im Sumpfgebiet errichten? Zwar verwendeten sie robustes Eichenholz, aber ewig hielten die Bohlen der Feuchtigkeit auch nicht stand.
Das Fabiranum war, durch seine gute strategische Bauweise, uneinnehmbar. Gleich hinter dem Eingang befanden sich zwei große Gebäude als Massenunterkünfte für seine Arbeiter und Krieger und ihren Familien. In der Mitte lag eine riesige ehemalige Waffenkammer, die nun als zu Hause für einige Familien diente und daneben befand sich das Herrenhaus. Mittlerweile hatte sich Ulfmarrs Sippe auch sehr ausgedünnt, weswegen nur noch er, seine Hilfskräfte und seine Krieger mit ihren Familien bei ihm lebten. Am Rande der Festung befanden sich die Vorratsspeicher und ganz am Ende der Siedlung lagen die Ställe und Wasserspeicher mit kleineren Handwerksgebäuden. Das war alles kein Vergleich zu den einfachen Langhaussiedlungen der Chauken, die auf kleinen Erdhügeln errichtet waren. Der Hügel, also die Wurt, waren ihr einziger Schutz gegen die Sturmfluten, die ab und an die Wesermarsch überschwemmten.
Ein bedrohliches Knarzen der Holzbretter verriet ihm, dass jemand den Wall betreten hatte. Kurz drehte er sich um und entdeckte am anderen Ende Theda, die langsam auf ihn zu ging. Sie wohnte seit ihrer Kindheit in Ulfmarrs Haushalt und er ernannte sie, wegen gewissen magischen Fähigkeiten, im Laufe der Jahre zu einer Hohepriesterin der Chauken.
Arnodd lächelte ihr kurz zu und sah wieder in die Ferne. Er möchte das kleine zierliche Ding, obwohl sie gewisse unheimliche Züge hatte. Sie behauptete Wesen aus der jenseitigen Welt sehen zu können und manchmal traf sie sich angeblich persönlich mit Woden, den einäugigen Gott. Arnodd wusste nie so recht, was er von ihr halten sollte. Eigentlich hielt er nie viel von Sehern oder Seherinnen, aber Theda hatte ihn schon mehrmals überzeugt. Möglicherweise lag dies an dem durchdringenden Blick ihrer kristallblauen Augen, der keinen Widerspruch zuließ. Vielleicht auch daran, dass sie in ihren Vorhersagen stets richtig lag. Allerdings beobachtete Arnodd in letzter Zeit, dass ihre Fähigkeiten nachließen. Auch ansonsten war sie viel unsicherer und ängstlicher als früher.
Er hoffte, Theda wurde bald wieder zu ihrer alten Stärke zurückfinden, bevor auch den anderen Siedlern ihre Schwäche auffiel. Einige wenige Siedler mochten sie, aber die meisten fürchteten sich vor ihr und ihren Prophezeiungen. Und genau wegen dieser Furcht, ließen die Siedler sie zufrieden.
>>Arnodd, ich kam noch gar nicht dazu mich bei dir zu bedanken. Für deinen Beistand vor dem Gericht.<<
Theda trat langsam neben Arnodd und sah ihn aufmerksam an.
Aber Arnodd winkte sofort ab.
>>Ich tat das, was meine Pflicht war. Arn hat mit seinem Bestechungsversuch, das ganze Thing entehrt. Das durfte ich nicht zulassen. Ich möchte die Götter nicht gegen meine Sippe aufbringen.<<
Arnodd sah sie ruhig an und räusperte sich.
>>Versteh´ mich nicht falsch, ich traue dem ganzen seherischen Kram nicht, aber Arn traue ich noch weniger. Was hat er eigentlich gegen dich? Warum wollte er dich so offensichtlich loswerden?<<
Theda zuckte mit den Schultern und sah ihn ratlos an.
>>Ich weiß nicht. Vielleicht Neid?<<, seufzte sie nachdenklich, >>vielleicht Neid auf mich und Ulfmarr.<<
Arnodd hob eine Augenbraue und horchte auf.
>>Inwiefern?<<, hackte er interessiert nach. Das fehlte ihm auch noch, das sein Neffe seine Lieblingspriesterin zur Frau nahm. Sie hatte weder Familie noch Vermögen. Sie war nichts und er brauchte eine Frau, die eine große vermögende Familie besaß, die seine Position festigen konnte.
>>Oh, ähm nicht auf diese Weise.<<
Theda räusperte sich verlegen und atmete tief durch. Sie wandte sich von ihm ab und sah schüchtern zu Boden.
>>Ich… ich werde niemals heiraten… Das wird nicht mein Schicksal sein<<
Arnodd sah sie besorgt an. Irgendwas hatte Theda doch. So war sie früher nicht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie diese einfache Frage so aus der Fassung brachte.
>>Ist alles in Ordnung?<<, erkundigte er sich.
Ein entferntes Räuspern lenkte Theda ab. Sie zuckte vor Schreck zusammen und wagte nicht, sich nach dem Geräusch umzudrehen.
Arnodd sah an ihr vorbei und beobachtete, wie Ulfmarr und sein Leibwächter Arn den Wall betraten. Täuschte er sich oder verkrampfte sich Theda immer stärker, je näher die zwei Herren kamen.
>>Theda? Ist alles in Ordnung?<<, wiederholte er besorgt, aber so leise, dass Ulfmarr und Arn ihn nicht verstehen konnten.
Hektisch sah sich Theda um.
>>Ich bin nur müde. Ich ziehe mich zurück.<<
Übereilt rannte sie an Arnodd vorbei, bevor die Männer ihn erreicht hatten und verschwand schnell aus deren Sichtfeld.
>>Arnodd! Hier steckst du also!<<
Ulfmarr, ein junger kräftiger Mann mit dunklen Vollbart und ungefähr fünfunddreißig Winter alt mit hellbraunen Haar und grüne Augen, ging auf ihn zu und stellte sich neben ihm. Lässig stützte er sich auf den Palisaden ab. Selbstverständlich war sein Leibwächter Arn bei ihm, der Theda grinsend hinterher sah. Arn überragte Ulfmarr um zwei Köpfe und war unter den Chauken allgemein als Hühne bekannt und im etwa selben Alter war, wie Ulfmarr. Er trug stets dunkelgraue Farben, was aus ihm eine wahrhaft furchteinflößende Erscheinung machte.
>>Du feierst nicht mit uns<<, stellte Ulfmarr fest, >>was ist los? Und was wollte Theda von dir?<<
>>Theda? Sie hat sich nach meiner Familie erkundigt.<<
Arnodd seufzte und deutete mit seinem Trinkbecher zu den Gewitterwolken, die langsam Richtung Nordsee abzogen.
>>Hoffentlich hat das Gewitter nicht unsere Vorräte für den Winter zerfetzt.<<
Arnodd versuchte die beiden Herren von Theda abzulenken. Ihm gefiel Arns Grinsen nicht, mit dem er Theda beobachtet hatte. Nachdenklich fuhr er sich durch seine zotteligen Haare.
Ulfmarr lachte und lehnte sich lässig gegen einen Holzbalken und klopfte seinen Onkel amüsiert auf die Schulter.
>>Du machst dir zu viele Gedanken! Deswegen ziehen wir doch in vier Wochen nach Westen zu den Friesen und holen uns von ihnen was wir für den Winter brauchen. Das Gebiet zwischen der Ems und Weser war immer in unseren Händen. Wir holen uns uns zurück, was uns gehört.<<
Arnodd schüttelte mürrisch seinen Kopf und fasste mit einer Hand gegen seine Stirn.
>>Ich sagte bereits, es wäre besser, wenn wir gegen die Langobarden ziehen. Die Friesen sind ein Küstenvolk wie wir. Mit einem gemeinsamen Feind. Die Nordsee. Irgendwann könnten wir die Hilfe der Nachbarn brauchen. Die Friesen haben den Küstenabschnitt gewaltfrei übernommen. Unser Stamm vermischte sich in all den Jahren mit ihnen. Dabei sollten wir es belassen. Du wirst nicht genug Sippen finden, die dich unterstützen.<<
Er sah seinen Neffen ernst an. Ulfmarrs Schlachtpläne waren in seinen Augen Unsinn.
>>Wir könnten statt deiner Schlacht lieber alte Handelsbeziehungen und Bündnisse auffrischen. Und im Winter losziehen? Es sterben schon so viele Siedler durch Krankheit und Hunger und du willst eine Schlacht?!<<
Ulfmarr sah ihn lange und abschätzend an. Er beschloss, Arnodd zu beschwichtigen und redete ruhig und besonnen auf ihn ein.
>>Du glaubst doch nicht wirklich, was du da von dir gibst. Hast du vergessen, wie sie uns vor ungefähr zwanzig Wintern angegriffen haben. Bei Handelsbeziehungen wirst du doch nur betrogen. Wir müssen uns anfangen zu behaupten, sonst geht unser Stamm unter.<<
Arnodd schwieg. Alles war besser als Krieg. Er wollte nicht noch mehr Siedler verlieren. Arnodd hatte in der Vergangenheit anderen Nachbarstämme ausgeholfen, wenn sie in Not waren, wodurch er einen guten und ehrenhaften Ruf erhalten hatte. Er war schon seit jeher der Meinung gewesen, dass die Siedler an der Küste nur überleben konnten, wenn sie zusammenhielten. Leider vertraten diese Meinung längst nicht alle.
Als Arnodd noch jünger war, dachte er anders. Erst im Laufe der Jahre und mit der Geburt und den Verlusten seiner Kinder, bevorzugte er friedliche Lösungen zu finden. Vielleicht wurde er im Alter einfach träger. Arnodd wich Ulfmarrs provozierenden Blick aus und sah wieder in die Ferne.
Langsam verlor Ulfmarr die Geduld und schlug mit der Faust gegen einen Holzbalken.
>>Arnodd, die Mehrheit hat entschieden. So sind unsere Gesetze!<<, warf er Arnodd wütend entgegen.
Arnodd sah ihn ausdruckslos an und nickte. Kurz sah er unmerklich zu Arn, der die ganze Zeit schweigend und mit seinem eiskalten Blick auf ihnen herabsah. Er war sich sicher, dass diese Entscheidung ebenso manipuliert war, wie Thedas Verhandlung. Aber dafür hatte er keine Beweise.
Ulfmarr ließ sich nicht ablenken.
>>Kann ich mich auf Fallwards Unterstützung verlassen?!<<, hackte Ulfmarr nach, als Arnodd ihn einfach weiter ignorierte.
Nach einigen Augenblicken sah Arnodd Ulfmarr herablassend an und räusperte sich.
>>Kann ich mich denn darauf verlassen, dass du mir die ausgehandelte Beute überlassen wirst? Und das du uns nach dem Julfest nach Britannien ziehen lässt, gemeinsam mit einigen anderen Siedlern?<<
>>Natürlich. Ich halte mein Wort<<, entgegnete Ulfmarr ernst, >>übrigens, für deinen Sohn Eyk ist es der erste Raubzug. Wir haben abgemacht, dass er an meiner Seite kämpfen wird.<<
Arnodd fiel fast die Kinnlade runter. Gerne hätte er Ulfmarr gepackt, ihn gegen die Wand des Wehrturmes gedrückt und ihm den Hals umgedreht. Doch er griff nur unbemerkt nach seinem Schwert an seinem Gürtel. Er beherrschte sich und funkelte Ulfmarr bedrohlich und angsteinflößend an. Auch Arnodd musste sich an die Gesetze halten und auf Mord stand die Todesstrafe. Doch das sein Neffe ihn so vorführte, machte ihn rasend.
>>Wer ist 'wir'?! Er wird an meiner Seite kämpfen, damit ich ihn im Blick habe!<<, zischte er Ulfmarr entgegen, >>er ist mein Sohn!<<
>>Braucht er noch deinen Schutz?<<, witzelte Ulfmarr provozierend, >>Arn und ich haben das besprochen, wer sonst?<<, fügte Ulfmarr gleichgültig, ganz nebenbei an.
Arnodd schubste ihn energisch zur Seite.
>>Arn hat sich nicht in unsere Familienangelegenheiten einzumischen! Eyk befindet sich in meinem Gefolge! Und somit werde ich, und nur ich, entscheiden, wo seine Position in der Schlacht ist!<<, raunzte er Ulfmarr wütend an.
Ulfmarr hob beschwichtigend seine Hände und trat auf ihn zu. >>Ja, ja… Ist schon gut. Hauptsache Fallward unterstützt uns!<<
Arnodd grummelte und wandte seinen Blick von Ulfmarr ab.
>>Ulfmarr? Du solltest deinen Arn heiraten. Ihr seid doch eh immer zusammen!<<, spotte Arnodd abfällig und endlich, zeigte Arn eine Reaktion. Schlagartig bekam dieser einen roten Wutkopf und wollte seine Axt ziehen, doch Ulfmarr hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
>>Du machst dich lächerlich, Onkel!<<
>>Findest du? Unter den Siedler entstehen schon gewisse Gerüchte über euch beiden. Verständlich. Er begleitet dich überall hin und manchmal frage ich mich, ob du ihn auch zum Kacken mitnimmst<<, witzelte Arnodd und sah beide triumphierend an.
Für Ulfmarr und Arn war allerdings eine Grenze überschritten. Sie ließen sich provozieren und Arn zog seine Axt. Arnodd tat es ihm gleich und zog schnell sein Schwert, doch da wurden sie von einem lautem raschelnden Geräusch vor den Toren abgelenkt. Ein würgendes Hustengeräusch hallte durch die Hafenanlage. Im Fackelschein erkannten sie einen gebrechlichen alten Mann, der bei Toren herumschlich. Die drei Streithähne entspannten sich und beobachteten den Fremden.
>>Das ist nur der komische Kauz aus dem Moor. Der lungert hier schon den ganzen Abend vor unseren Toren. Der ist immer dort, wo es reichlich Essen und Trinken gibt. Es ist derselbe, den dein Vater Valdr vor einigen Jahren verdächtigte deinen Bruder getötet zu haben. Merkwürdig wir dachten alle, der ist verstorben. Nachdem seine Hütte abgebrannt war, hatte ihn niemand mehr gesehen. Nun taucht der plötzlich wieder auf<<, schmunzelte Arnodd.
>>Ich hörte, du hast ihn vor etlichen Jahren aus Fallward gejagt. Warum hast du ihn damals nicht einfach beseitigen lassen?<<
Arnodd horchte auf und sah Ulfmarr fassungslos an.
>>Wieso sollte ich ihn töten? Er hat nichts getan, was eine Tötung rechtfertigte. Er hat sich zu lange auf unsere Kosten durchgefressen und deswegen haben ihn einige Männer aus der Siedlung vertrieben. Der Mordverdacht verlief sich damals. Es stellte sich heraus, dass mein Halbbruder Valdr wahnsinnig geworden war und der Tod seines Sohnes ein Unfall gewesen war.<<
Ulfmarr erbleichte. Er konnte sich an all das so gut erinnern, als sei das erst gestern geschehen. Sein Vater Valdr hatte das alles nicht verkraftet und wurde wirr im Kopf. Ulfmarr erinnerte sich an die Verzweiflung, die er damals gefühlt hatte. All die Verantwortung die er plötzlich hatte. Er gab dem Alten die Schuld, einfach nur, weil irgendjemand Schuld haben musste! Als er damals den Einsiedler holen wollte, schlug ein Blitz in die Unterkunft des alten Gaius ein und die Kate brannte nieder. Der Alte war verschwunden.
Manchmal befürchtete Ulfmarr, dass diese Gegend hier verflucht war und alle irgendwann früher oder später dem Wahn verfielen.
>>Tja, nun ist er wieder bei uns und er frisst sich in allen umliegenden Siedlungen durch, immer mit dem dezenten Hinweis auf das Gastrecht!<<, entgegnete Ulfmarr genervt, >>ich schicke ihn fort. Er muss endlich lernen, dass er damit nicht weiterkommt. Wir müssen an uns denken und in erster Linie müssen wir unsere Familien versorgen. Wir haben sowieso alle viel zu wenig für den Winter.<<
Arnodd nickte. Wenigstens darüber waren sie sich einig.
>>Möglicherweise ist er nur ein Fremder der dem Alten von damals zum Verwechseln ähnlich sieht. Der alte Gaius dürfte schon gar nicht mehr leben<<, vermutete Arnodd nachdenklich.
>>Egal wer das ist. Er hat hier nichts zu suchen<<, beschloss Ulfmarr mürrisch und klopfte mit der Hand gegen einen Holzpfeiler. Pfeifend machte er sich auf den Weg zu den Toren. Arn warf Arnodd einen mahnenden Blick zu und folgte Ulfmarr.
Arnodd beobachtete den Fremden, der langsam auf die Tore zu schritt. Ihm schauderte. Im Schein der Fackeln erkannte er den alten Gaius von damals. Der Alte war ihm unheimlich und musste schon uralt sein, aber war das ein Grund ihn so zu behandeln? Schon damals hatte er innerlich starke Gewissensbisse gehabt, als er ihn fortschicken musste. Das Gastrecht war eine heilige Sache. Niemand durfte Reisende und Fremde fortschicken.
Der Gedanke an den einäugigen Gott Woden schoss ihm plötzlich durch den Kopf. Für viele andere Stämme war mittlerweile er der Hauptgott. Es hieß, dass Woden einst sein Auge gab, damit er aus der Quelle der Weisheit trinken durfte. Woden, der sich am Weltenbaum erhängte, um die Magie der Runen zu erlernen. Ein Gott der viel reiste, um noch mehr Wissen zu sammeln. Sein Sohn war Thunar, der Gott des Donners und Wodens Frau war Frija, die Schutzgöttin der Familie und Göttin des Schicksals. Es hieß, dass sich Woden und Frija sogar manchmal unter den Menschen mischten. Sie sollen oft die Welt bereisen und selber als Fremde die Siedlungen besuchen.
Viele Siedler von den Angelsachsen brachen in den letzten Jahren vermehrt nach Britannien auf. So war es kein Wunder, dass Woden für viele Reisende eine Art Hauptgott geworden war. Einige Stämme glaubten sogar, das nicht Tiwaz, der Kriegsgott, über den Ausgang einer Schlacht entschied, sondern Woden. Wie auch immer, sie sollten besser keinen der Götter verärgern!
Arnodd hörte, wie Ulfmarr bei den Toren Fabiranums angekommen war und zu dem Alten ging. Auch wenn der Einsiedler schon lange in den Mooren lebte und für alle ein sonderbarer Kerl war, er war jemand der Hunger und Durst litt. Jemand der sie um Hilfe bat!
Schmunzelnd beobachtete er Ulfmarr, Arn und den Alten. Ulfmarr hatte sein Schwert gezogen und fuchtelte damit vor dem Bettler herum. Arn hatte seine Hand um seinen Dolch gelegt. Jederzeit bereit diesen zu ziehen und zu benutzen.
Der Einsiedler fasste es ziemlich gleichgültig auf, drehte sich um und ging zurück in die dunkle Wildnis.
Arnodd runzelte die Stirn und sah, wie Ulfmarr sein Schwert zurück in die Lederscheide an seinem Gurt steckte und klopfte sich zufrieden in die Hände. Er hörte, wie er mit Arn beschloss zur Feier zu gehen.
Kopfschüttelnd lehnte Arnodd sich gegen einen Holzbalken und beobachte die finsteren Wälder in der Ferne. Nacheiner Weile des Grübelns seufzte er schließlich und eilte von dem Wall hinunter zu den Unterkünften. Von seinem Proviant nahm er einen großen Laib Brot und machte sich eilig auf den Weg zu den Toren. Er wollte dem Alten wenigstens ein bisschen was abgeben.
Vorsichtig nahm er eine Fackel von den Toren ab und schlich den Waldpfad entlang, den auch der Fremde genommen hatte.
>>Hey, warte!<<, rief er laut in den Wald.
Hastig sah er sich um, so gut es bei den Lichtverhältnissen möglich war. In jeder Richtung leuchtete er den Wald nach dem Fremden ab. Ohne lange zu zögern, ging er tiefer in den Wald hinein. Holz knackte unter seinen Füßen. Laub und alte Bucheckern knisterten und knackten unter seinen Lederschuhen. Eulen riefen ihm zu.
Er glaubte nicht an die ganzen Wesen in den Wäldern, mit denen die alten Weiber den Kindern Angst machten. Sooft war er nachts gemeinsam mit anderen Chauken in der Wildnis unterwegs gewesen und nie war er dort irgendwem oder gar irgendetwas begegnet! Außer einigen Wildtieren natürlich.
Hier und da knackte und raschelte es. Es war eines, mit mehreren Männern in den Wäldern unterwegs zu sein und was anderes, nachts alleine im Wald zu sein. Ein kalter Schauer lief ihm über dem Rücken, als er aufmerksam die schwarzen Umrisse der Bäume betrachtete und jedes Knacken im Unterholz wahrnahm.
Der Alte konnte noch nicht weit weg sein! Er leuchtete den Boden nach Spuren ab, doch er fand nichts! Es war, als hätte die Finsternis den Fremden einfach verschluckt.
Arnodd rief erneut nach ihm, doch nur die Eule antwortete auf sein Rufen. Resigniert wandte er sich zum Gehen.
Plötzlich stand der Alte vor ihm!
Vor Schreck sprang Arnodd einen Satz zurück und hielt ihm erschrocken die Fackel entgegen. Es war tatsächlich Gaius, der damals unter Mordverdacht gestanden hatte! Das faltige Gesicht, die paar zerzausten Haare auf seinen Kopf. Er war es, daran bestand kein Zweifel mehr.
>>Du hast mich gerufen?<<, vergewisserte sich der Alte ruhig.