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V. Leidenschaft fürs Mittelmaß

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Der 30. April 1988 hatte meine Leidenschaft auf die Stufe eines Stadiongängers gehoben. Ich wusste nun, dass meine Anwesenheit der Mannschaft Glück brachte, und kannte seit jenem Tag das Gefühl, vom Betze „gerufen“ zu werden. Zwar setzte ich meinen Drang in den letzten Spielen der laufenden Saison nicht mehr in die Tat um und verfolgte die den Klassenerhalt perfekt machenden Siege bei Waldhof Mannheim, gegen Homburg und gegen Mönchengladbach am Radio, doch dachte ich fortan nicht mehr an den FCK allein, sondern immer zugleich auch an sein Stadion.

Ich baute den Betzenberg quasi in meinen Alltag ein, und um ihn immer schön vor Augen zu haben, bastelte ich ihn zunächst einmal aus Papier. Ungewöhnlich daran war die Tatsache, dass ich im normalen Leben Bildende Kunst und ganz speziell Basteln verabscheute. Doch hier ließ ich Sorgfalt walten, malte das grüne Spielfeld maßstabsgetreu und setzte geschätzte 38.000 Pünktchen auf die Zuschauerränge. Ich vergaß auch das Dach nicht, versah die Westtribüne mit großen rot-weißen Fahnen und bemühte mich sehr, die Neigung der Flutlichtmasten einigermaßen detailgetreu hinzubekommen. (Psychologen werden ihre Freude daran haben, dass ich die großen Fahnen und die vier Flutlichtmasten so liebte.) Der papierne Betzenberg thronte ab sofort über meinem Bett.

Nach der Europameisterschaft im eigenen Land, bei der Wolfram Wuttke viel zu selten eingewechselt worden war, kamen die Sommerferien und mit ihr die schreckliche fußballlose Zeit. Meine Sommerferien waren meistens langweilig, denn in Urlaub fuhren wir eher sporadisch, und die Anwesenheit Gleichaltriger im Dorf hielt sich um diese Jahreszeit in überschaubaren Grenzen. Natürlich gab es ein Freibad in der nicht weit entfernten Kreisstadt, doch mein Fahrrad fand nur selten den Weg dorthin. Meist bedurfte es der Motivation anderer, um mich meinen Tagträumen zu entreißen und hinaus ins wirkliche Leben zu ziehen. Auf größere Menschenansammlungen konnte ich in der Regel verzichten. Lieber spazierte ich durch den Wald, dachte dabei an dieses und jenes, und zwischendurch blitzte mir immer wieder der Betzenberg durchs Hirn. Ich hörte mich den Stadionsprecher imitieren. Auf Kassette nahm ich auf, wie ich die Mannschaftsaufstellung von Bayern München verkündete und mich zeitgleich selbst ausbuhte, um dann bei der des 1. FC Kaiserslautern in Jubel auszubrechen.

Die Sitte, dass der Stadionsprecher nur den Vornamen der Spieler ausruft und das Skandieren der Nachnamen den Fans überlässt, war damals nur im Eishockey üblich und wurde, ich mag mich täuschen, in der Fußball-Bundesliga erstmals im März 1989 bei der Partie 1. FCK gegen Bayern München angewandt. Bei jenem Spiel feierte ich mein Debüt in Block 7. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Udo Scholz, wie er vor der Westkurve stehend das neue System erklärt und ein paar Probedurchgänge durchführt: „Mit der Nummer eins im Tor Gerry …“ „Ehrmann!!!“ „Die zwei trägt unser Kay …“ „Friedmann!!!“ „Mit der drei kommt zu uns Tom …“ „Dooley!!!“ „Und auch der Nummer vier wünschen wir viel Glück, unserem Axel …“ „Roos!!!“ Usw. Bis heute hat sich das Imitieren des Stadionsprechers (des früheren, nicht des aktuellen) in meinen Verhaltensweisen niedergeschlagen. So verspüre ich, wann immer ich irgendwo einen Gong höre, das drängende Bedürfnis, in Scholz’schem Singsang „Spielerwechsel beim 1. FC Kaiserslautern“ zu rufen, was, wenn ich ihm nachgebe, je nach Situation zu amüsierten oder irritiert-anklagenden Blicken in meiner Umgebung führen kann. Auch Werbesprüche aus dieser Zeit sind mir in Fleisch und Blut übergegangen und werden von mir, obwohl sie verständlicherweise niemand hören will, immer wieder gern rezitiert: „Immer dann, wenn’s ums Geld geht, gehen wir zur Stadtsparkasse. Denn über zwanzigmal in Ihrer, in unserer Stadt, finden Sie Ihre, unsere Stadtsparkasse.“ „Was für die Pfalz der FCK ist für die Pfälzer die PPA.“ „OKI Computerdrucker. Der ideale Partner auch für Ihr Büro.“ „Zum einmaligen Flair des Fritz-Walter-Stadions passt …“ Die Produkte waren mir zweitrangig, wichtig für mich war die Tatsache, dass ich mich zum Zeitpunkt des Wahrnehmens dieser Werbesprüche auf dem Betzenberg befand.

Ein kleiner Lichtblick in den trägen Sommerwochen des Fußball-Entzugs waren meine regelmäßigen Anrufe beim Sportinformationsdienst. Nur hier kam man zeitnah an die Ergebnisse der Intertoto-Runde, die nach Trainingsauftakt das Erste waren, was einem Orientierung über den Leistungsstand des eigenen Teams liefern konnte. Die Intertoto-Runde war eine Art UI-Cup in bedeutungslos. Bestimmt würde heute jedes zweite Spiel davon live im DSF übertragen und von eigens eingeflogenen Experten analysiert werden. Damals wurden weder Experten um ihre Meinung gebeten, noch gab es Fernsehsender, die ihre Daseinsberechtigung darin sahen, unbedeutende Vorbereitungsspiele mittelmäßiger Mannschaften zu übertragen. Ein bisschen fühlte ich mich während der Saisonvorbereitung wie Sportreporter Bruno Moravetz bei den Olympischen Winterspielen 1980 in Lake Placid. Genau wie für ihn damals Behle von der Bildfläche verschwunden war, vermisste ich in den Sommerferien meinen 1. FC Kaiserslautern, der sich unter flirrender Hitze anscheinend in Luft aufgelöst hatte. Nicht auszudenken, was ich ohne Telefon getan hätte … Schön, von einer neutralen Bandstimme zu hören, dass mein 1. FCK gegen Servette Genf ein 1:1 geholt hat – unschön, nicht zu wissen, wer der Torschütze war. Vielleicht würde man es am nächsten oder übernächsten Tag in der Zeitung erwähnt finden.

Irgendwann war es dann endlich so weit: Der Jahreskicker für die neue Saison erschien. Wie ein Junkie schlurfte ich über heißen Teer zum Supermarkt, um mir für sechs Mark das herrlich dicke Hochglanzheft zu kaufen. Zu Hause machte ich es mir im Schatten wunderbar bequem und bemühte mich redlich, den Artikel über den 1. FC Kaiserslautern nicht als Erstes zu verschlingen. Stattdessen fing ich – wie normale Leser – auf den vorderen Seiten an, doch viel zu schnell hatten sich meine Finger durch das Dickicht gewühlt und die verbotenen Blätter aufgeschlagen. In der Regel las ich den Artikel über meinen Verein etwa zehn- bis zwanzigmal. Es ist für mich deshalb auch überhaupt keine Leistung zu behaupten, die Kicker-Schlagzeile vor der nun anstehenden Saison 1988/89 sei „Stabel stärkt die Stabilität“ gewesen, denn sie war es, genau wie es ein Jahr zuvor „Nagelprobe für den Nachwuchs“ und ein Jahr danach „Ein Rucksack für Roggensack“ waren.

Heute erfüllt es mich mit Schrecken, wie viele kostbare Jugendstunden ich mit glasigen Augen auf Mannschaftsfotos gestarrt habe. Was hätte ich nicht alles in der Zeit erleben können, in der ich genüsslich die neuen Trikots, die neuen Trainer, die neuen Spieler, deren vorherige Stationen, Geburtsorte und Körpermaße verschlang? Was wäre ich für ein stabiler und souveräner Mensch geworden, wenn ich nicht immer wieder in höchste Siege, höchste Niederlagen, meiste Spiele, meiste Tore, ewige Tabellen und Spielpläne abgetaucht wäre? Heimlich gebe ich dem Fußball die Schuld an meiner bis heute recht inaktiven Lebensweise. Heimlich glaube ich sogar, ohne Fußball bereits Nobelpreisträger, Olympiasieger oder wenigstens reich zu sein. Das Zeug dazu zu besitzen, bilde ich mir schon immer ein, aber wenn ich ehrlich bin, entspricht diese irrationale Einschätzung der eigenen Person genau dem Charakter des an Zahlen und Ereignisse gebundenen Fußballtheoretikers. Meine Welt ist es zu wissen, dass ich während des 6:0-Auswärtssieges des 1. FCK in Saarbrücken am Ende der Saison 1985/86 das Auto meines Vaters gewaschen habe. Interessiert das jemanden? Interessiert es irgendwen, dass ich weiß, dass Andy Brehme ursprünglich Kfz-Mechaniker war, Ronnie Hellström 1968 das Abitur bestanden und Klaus Toppmöller das letzte seiner 108 Tore für den FCK am 8. September 1979 gegen Schalke geschossen hat? Lässt sich jemand davon beeindrucken, dass ich ohne zu überlegen die bisherigen FCK-Trikotwerbungen in der chronologischen Abfolge aufzählen kann? (Für diejenigen, die sie zu kennen glauben, als Bestätigung: Campari, Streif, Portas, Karlsberg, Trigema, Oki, Crunchips, Deutsche Vermögensberatung.) Denkt jemand gerade an die Trainer nach Feldkamps erster Amtsperiode? (Wer es tut, lasse sich sagen: Kröner, Weise, Krafft, Bongartz, Stabel, Roggensack, Feldkamp, Zobel, Rausch, Krautzun, Rehhagel, Brehme, Gerets, Jara, Henke, Wolf, Rekdal, Sasic – von den Interimstrainern ganz zu schweigen.) Die erschütternde Wahrheit ist, dass erhebliche Bestandteile meines Lebens aus Spielen, Ergebnissen und rot-weißen Fahnen bestehen und niemand, aber auch wirklich niemand aus der normalen Welt auch nur ansatzweise die Tragweite meines durch Fußball blockierten Verstandes zu erfassen vermag. Obwohl ich schon immer lieber auf der Couch gelegen habe, als etwas zu leisten, kann ich mich verstellen und während der passiven Phasen gewöhnlicher Alltagskommunikation so tun, als würde ich zuhören. Das Kicker-Abonnement, das mir mein Vater Ende der achtziger Jahre zu Weihnachten schenkte, gab mir die Möglichkeit, zumindest zweimal pro Woche meinen Trieben auf gesellschaftlich akzeptierte Weise nachzugehen. „Lesen bildet“, glaubt man gemeinhin – dass ich das christliche Lektüregeschenk meines Taufpaten nicht anrührte, war da nur ein Schönheitsfehler.

Vor dem ersten Spieltag der Saison 1988/89 tauchte Franco Foda als Studiogast in der Mittwochsziehung der Lottozahlen auf. Für mich geschah dieses Ereignis völlig überraschend. Es versetzte mich drei Tage vor Saisonbeginn in die Stimmung, die ein wohlgelaunter Fanblock 15 Minuten vor Anpfiff eines wichtigen Spiels versprüht. Ich fieberte dem Saisonstart entgegen, der samstagsmittags dann sogar in einer 1:0-Führung auf dem Gladbacher Bökelberg gipfelte. Was danach kam, war das „Karriereende“ des Sergio Allievi. Zwar spielte er hinterher noch mehrere Jahre im Profifußball, bis zum Sommer 1990 beim 1. FCK und später u.a. bei Dynamo Dresden, doch Torgefahr sollte dieser schnelle Stürmer nur noch selten ausstrahlen. Sein Selbstvertrauen hatte er im Juli 1988 auf dem siedend heißen Gladbacher Bökelberg gelassen, wo es ihm aus fünf Metern Entfernung nicht gelungen war, das leere gegnerische Tor zu treffen. Tragisch, dass statt einer 2:0-Führung und zwei goldenen Auswärtspunkten am Ende eine 1:4-Niederlage zu Buche stand.

Es sind die wahrhaft bitteren Momente im Leben eines Fans, wenn der Überraschungssieg so greifbar scheint und dann doch nur das Lamentieren über vergebene Chancen oder fragwürdige Schiedsrichterentscheidungen bleibt. Natürlich kann es einem mit Abstand auch für Sergio Allievi leid tun, der vor allem in seinem ersten Lautern-Jahr mit tollen Dribblings und spektakulären Toren aufhorchen ließ. Doch im entscheidenden Moment denkt ein Fan nicht an den armen Spieler, der die Chance vergeben hat, sondern an den charakterlosen Raffzahn, der unfähig ist, das zu tun, wofür er gekauft wurde, nämlich Tore zu schießen. Allievi habe ich persönlich als sympathischen Sportler in Erinnerung, aber zu viel mehr hat es in der Endabrechnung bei ihm dann doch nicht gereicht.

Komisch, dass es oft einzelne, kleine Geschehnisse sind, die ein Leben so oder so laufen lassen. Gehe ich einmal nach links statt nach rechts, falle ich einem Amokschützen zum Opfer oder begegne der großen Liebe. Besonders grotesk die Tatsache, dass Menschen, die Jahre, mitunter Jahrzehnte ihre Funktionen tadellos erfüllt haben, sich durch eine einzige Unbeherrschtheit ins Abseits manövrieren können. Auf einmal ist der honorige Bürger kriminell geworden und der Minister zur Witzfigur. Der Torjäger haut den Ball in die Wolken und weiß irgendwann nicht einmal mehr, wie er seine Schnürsenkel binden soll. Das Leben ist ein Fußballspiel, und am besten kommen diejenigen hindurch, die in den entscheidenden Momenten das Gehirn ausschalten. Sergio Allievi hat seines angelassen.

Die Niederlage in Gladbach ließ mich so schnell nicht los. Wir waren gut, wir waren besser als erwartet, und doch hatten wir verloren. Abstand gewann ich dadurch, dass ich begann, kurze analysierende Spielberichte zu verfassen. Ich schrieb sie in mein ursprünglich dem Skisport gewidmetes Album mit dem Titel „Skispringer Finnlands und anderer Länder“. Die komplette Saison 1988/89 dokumentierte ich auf diese Weise und nährte dadurch wie auch durch meine nun regelmäßige Kicker-Lektüre mein Hirngespinst, einmal als Sportjournalist zu arbeiten. Wenn ich mir die heutige Medienlandschaft insbesondere in der Sportberichterstattung anschaue, bin ich allerdings froh, es nicht geworden zu sein. Was haben sie bloß aus unserem Fußball gemacht? Klar ist es ein Geschäft, und logisch braucht ein Geschäft Öffentlichkeit – wie sonst wäre ich wohl zum Fan geworden? Aber die Medienwelt verfolgt zu selten noch ihren Bildungsauftrag, dem ein plaudernder Harry Valerien trotz des vermeintlich einfachen Gesprächsthemas „Sport“ noch gerecht wurde. Heutige Fernsehjournalisten sind sich zu sehr der Tatsache bewusst, wie viele Fußballsüchtige es in unserer Gesellschaft gibt. Und statt diese Süchtigen zu therapieren oder ihnen zumindest einmal im Jahr eine achtwöchige Sommerpausen-Entgiftung zu gönnen, liefert die Medienmaschinerie ihnen rund um die Uhr das Teufelszeug frei Haus. Mich macht es krank, auf der Couch liegend im Deutschen Sport Fernsehen zu versinken und endlose Diskussionen über anstehende Trainerentlassungen oder Wohnorte diverser Bundestrainer zu verfolgen. Ich hasse es, mich nicht von der Montagabend-Zweitligapartie Braunschweig gegen Aachen lösen zu können, in die ich zufällig reingezappt habe. Ich könnte kotzen, wenn ich sehe, dass auf eben diesem Privatsender zwei Tage vor der WM-Gruppenauslosung eine Probe-WM-Gruppenauslosung durchgeführt wird, über die dann im Nachhinein ernsthaft (!) diskutiert wird – nach dem Motto „so könnte es laufen“. Immer wieder Mikrofone vor hochgejubelten Millionären, deren improvisierte Pressekonferenzen (etwa zum Thema „Wechsel zu Real Madrid oder Verbleib bei Bayern München“) vollkommen aussagefrei und es trotzdem wert sind, einer anderthalbstündigen Talkrunde den Startschuss zu geben. Natürlich ist DSF ein Paradies für Fußballjunkies. Wo sonst könnte man Sendungen sehen, die zum Beispiel die Saison 1993/94 aus Sicht des 1. FC Kaiserslautern zum Thema haben? Aber DSF hat den Fußball zerstört, genau wie es die SAT.1- Fußballshow Ran getan hat. Allein schon die Art, in der die zusammengeschnittenen Spielberichte kommentiert werden. Wo es früher emotionslos hieß: „Pirrung über links“ – Pause – „gibt hinein zu Sandberg“ – Pause – „und der schiebt ein zum 1:0“, heißt es heute in sich selbst feierndem Singsang: „Marcelinho, Marcelinho, Mar – ce – linhooooo“ – „und“ – Pause – „hinein“ – Pause – „ins“ – Pause – „Vergnügeeeeen!!!“ (Und einmal in Zeitlupe, und zweimal in Zeitlupe und dreimal und viermal und fünfmal in Zeitlupe aus Zuschauer-, Stürmer-, Trainer-, Torwart- und anderer Torwartsicht, und immer wieder den jubelnden Schützen, wie er Flickflack schlagend Richtung Eckfahne wirbelt, sich den Zuschauern den Rücken kehrend mit den Daumen auf die Trikotnummer deutet und schließlich mit zwei Kollegen eine brillante Tanzchoreographie darbietet.) Was daran schlechter ist? Jedes Wort, das man über Fußball zu viel verliert, ist schlecht (definitionsgemäß auch dieses Buch). Auf die Spitze getrieben hat es Ran mit seiner Flut an irrelevanten Statistiknews, wie: „Siebenmal hat er es in dieser Saison mit dem linken Fuß aus einer Distanz von mehr als 16 Metern versucht, erst einmal hat er getroffen – sein erstes Feldtor seit dem 17. März 1998, damals noch im Trikot von 1860 München und, Duplizität der Ereignisse, ebenfalls in Hamburg. Mit 72,4 Prozent gewonnenen Zweikämpfen wäre er aber auch ohne sein Tor mehr als wichtig für die Mannschaft.“ Ich habe übrigens nicht kontrolliert, ob 1860 München am 17. März 1998 tatsächlich in Hamburg gespielt hat, und ich gebe zu, dass mir das Jonglieren mit vermutlich unwahren Beispielfakten Bauchschmerzen bereitet.

Fußballfans finden es in der Regel schmeichelhaft, wenn in irgendwelchen Zusammenhängen der Name ihres Lieblingsvereines genannt wird. Wir horchen auf, wenn der Kommentator eines Länderspiels sagt: „Und herein kommt Vratislav Lokvenc vom 1. FC Kaiserslautern.“ Wir mögen es, wenn es anderswo heißt: „Und nächste Woche folgt dann das schwere Auswärtsspiel auf dem Betzenberg.“ Wenn ich ein kleines intimes Geheimnis verraten darf, so gefällt es mir sogar, den Ortsnamen „Kaiserslautern“ auf irgendwelchen Straßenschildern zu lesen. (Zuweilen brechen in solchen Situationen, insbesondere wenn ich alleine im Auto unterwegs bin, diffuse Gesangsfetzen aus mir hervor. Aber eigentlich passiert das auch, wenn ich den Ortsnamen gerade nicht lese.)

Früher, als alles noch besser war, wusste man die Erwähnungen des eigenen Vereinsnamens noch mehr zu schätzen, denn abgesehen von den Straßenschildern tauchten Ausdrücke wie „Kaiserslautern“ oder „1. FCK“ nur in einem relativ eng abgesteckten Rahmen auf. In Ekstase versetzte mich „Wetten, dass …“ mit Frank Elstner, das Anfang der achtziger Jahre einmal aus Kaiserslautern übertragen wurde. Eine der vorgeschlagenen Saalwetten lautete originellerweise „Wetten, dass Sie es nicht schaffen, heute Abend die Fußballprofis des 1. FC Kaiserslautern auf die Bühne zu bringen?“. Es versteht sich von selbst, dass die Affenliebe der Pfälzer zu ihrem Verein den wirklich guten Alternativ-Wettvorschlägen keine Chance ließ. Am Ende standen die Spieler dann relativ gelangweilt auf der Bühne und ließen sich für den nachmittäglichen Bundesliga-Sieg gegen den Karlsruher SC beklatschen. Ich erinnere mich, dass der Satz: „Bei Briegel ist die Kuh gestriegelt“, johlenden Applaus bewirkte und die Bodenständigkeit unseres Nationalspielers auf Sympathie weckende Weise hervorhob.

Neben der sportlichen Schmach eines möglichen Abstiegs aus der Königsklasse ist es gewiss auch der kontinuierliche Rückgang an öffentlichem Interesse der in einem Fan das Gefühl verstärkt, seinen Verein und damit einen Teil seiner Seele verloren zu haben. Welcher überregional agierende Journalist macht zum Beispiel heute noch die wenigen Hansel, die es mit dem KFC Uerdingen halten (früher: Bayer 05), froh, indem er an das legendäre 7:3 im UEFA-Cup gegen Dynamo Dresden erinnert? Ganz zu schweigen von Namen wie Peter Loontiens oder Ludger van de Loo, deren Erwähnung heute bestenfalls noch auf einer Retroparty alter Sportschau-Fetischisten für Erheiterung sorgen könnte. Wenn der Verein stirbt, stirbt zuletzt auch die Erinnerung. Fortuna Düsseldorf, Europacup-Finalist 1979, kann mit den Toten Hosen gemeinsam ein Lied davon singen.

1988/89 war meine letzte Saison als aktiver Fußballer. Zwar war es für ein Karriereende mit 15 Jahren ein bisschen früh, doch ich hatte erkannt, dass das Wesen des aktiven Fußballspielers nicht meinem eigenen Wesen entsprach. Der Fußball in der Bezirksklassen-Jugendmannschaft wurde meines Erachtens von den örtlichen Verantwortungsträgern für zu ernst befunden. Ganz im Gegensatz zum Fußball im Fritz-Walter-Stadion, den man, auch mit der größtmöglichen Objektivität betrachtet, gar nicht ernst genug nehmen konnte. (Denjenigen, der den Spruch „Fußball ist die schönste Nebensache der Welt“ in selbige gesetzt hat, möchte ich gerne einmal kennenlernen …)

Symptomatisch, dass ich die Ergebnisse meiner eigenen Mannschaft aus jener Zeit nicht mehr weiß, die des FCK aber schon. Einzig den 5:3-Pokalsieg gegen eine höherklasssige Mannschaft habe ich in Erinnerung, zumal wir den zwischenzeitlichen 0:3-Rückstand erst in der letzten Minute der regulären Spielzeit durch einen Foulelfmeter egalisierten. (Mit Sicherheit weiß keiner außer mir noch, dass ich es war, der die den Elfmeter vorbereitende Flanke in den gegnerischen Strafraum geschlagen hatte. Ohnehin scheint es meiner Art zu entsprechen, Vorlagen zu geben, Menschen auf Ideen zu bringen, von denen hinterher keiner mehr wissen will, dass ich sie als Erstes gehabt hatte. Ein tragisches Schicksal, dem jemand – sofern er bescheiden ist – langfristig nur entgehen kann, indem er seine eigene Tollheit in nobelpreisverdächtigen Werken verewigt, damit die anderen, die den größten Teil des Tages mit sich selbst beschäftigt sind, zumindest für einen kurzen Moment neidvoll auf sein tapfer flackerndes Lichtlein hinüberblicken.)

In der Saison 1988/89 spielten wir in der Regel samstags, weswegen an Betzenberg-Besuche zumindest in der Hinrunde nicht zu denken war. Stattdessen lernte ich, mit anderen Jungs unter der Dusche zu stehen und nach guten Spielen ein vom Trainer gesponsertes Bier zu trinken – es ging schließlich nicht nur darum, gegen den Ball zu treten, sondern auch Mann zu werden. Im Grunde Zeitverschwendung, denn die Fahrten ins Fritz-Walter-Stadion hätten sich in diesem Halbjahr meistens gelohnt. Es war eine klassische FCK-Saison, in der das Gros der Heimspiele, im Gegensatz zum Gros der Auswärtsspiele, erfolgreich verlief: 6:0 gegen die Stuttgarter Kickers, 3:0 gegen Eintracht Frankfurt, 6:1 gegen den VfB Stuttgart. (Von letztgenanntem Spiel hängt in einer mir bekannten Kneipe noch die Schlagzeile einer mir ebenfalls bekannten Boulevardzeitung an der Decke: „Drei Tore – Kohr Weltklasse!“).

Im Spätwinter nahm ich dann eine Verletzung zum Anlass, mich still und heimlich aus dem Vereinsfußball zu verabschieden. Mein Vater nannte mein Verhalten damals „unsportlich“, denn ich ließ mich an der Haustür verleugnen, um im Wohnzimmer auf der Couch liegend in Ruhe Radio hören zu können. Irgendwann gab ich mir dann einen Ruck, ging zu unserem Jugendwart und sagte ihm, dass ich nach wie vor gerne Fußball spielen, aber dass es mir im Verein keinen Spaß mehr machen würde. Ich bin mir sicher, er verachtete mich für dieses memmenhafte Gefasel. Doch ich war frei. Frei vom Vereinsfußball. Frei für den 1. FC Kaiserslautern.

Das Leben ist ein Fußballspiel

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