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IV. „Das ist der Betzenberg!“ – Rettung 1988

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Ich weiß nicht, ob es „normal“ gewesen wäre, sich nach diesem durchaus traumatischen Erlebnis bewusst vom Fußball zu distanzieren. Tatsache war das Gegenteil, denn mein fiebriges Mitleiden nahm in der gleichen Weise zu, in der die spielerische Qualität des 1. FC Kaiserslautern abnahm. Die Mannschaft schlug sich in den folgenden Heimspielen zwar nicht immer schlecht, verlor aber bis in den Spätherbst hinein ausnahmslos jede Auswärtspartie und nach der 3:2-Niederlage in Homburg schließlich auch Trainer Bongartz, dessen Nachfolger Josef Stabel mit weiteren verlorenen Spielen gegen Nürnberg und in Mönchengladbach gleich die in ihn gesetzten Hoffnungen auf null zurückfuhr.

Kaiserslautern war nach der Hinrunde Letzter, was niemanden außer mir groß zu stören schien, denn irgendwann musste nach vernunftgesteuerter Auffassung ja auch einmal Schluss sein mit dem Vierteljahrhundert Erstligafußball in der Provinz. (Ich begreife bis heute nicht, warum Niederlagen und Abstiegsgespenster in Kaiserslautern stets vom wissenden Nicken der Experten begleitet werden, während sensationelle Wiedergeburten und irrationale Gewinne der Deutschen Meisterschaft zunächst geleugnet, solange sie noch vermieden werden können, angezweifelt, irgendwann mit fadenscheinigen Erklärungen abgetan und schließlich, kaum dass sie Wirklichkeit geworden sind, wieder vergessen werden.)

Am letzten Novemberwochenende wurde meine Schwester 22 Jahre alt und feierte an ihrem Studienort in Mittelhessen. Es war der Herbst, in dem der des unlauteren Ehrenworts überführte schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel tot in der Badewanne aufgefunden wurde. Auch mich hatte diese Nachricht betroffen, vermittelte sie mir doch eine unschöne Ahnung der tatsächlichen Dimensionen von Lüge und Verzweiflung in unserer Gesellschaft. Doch ich müsste meinerseits lügen, wenn ich behaupten würde, der Geburtstag meiner Schwester oder die Nachwirkungen des Barschel-Todes hätten meine Emotionen an diesem Wochenende entscheidend geprägt. Entscheidend war der Besitz eines Autoradios und damit verbunden die Möglichkeit, während der mehrstündigen samstäglichen Anreise über rheinland-pfälzische und hessische Autobahnen die Berichte von den Bundesliga-Plätzen zu verfolgen. Frank Hartmann und Amateur Jürgen Lutz, der Bruder des späteren zweifachen Deutschen Pokalsiegers und Meisters Roger Lutz, schossen die Tore zum sensationellen Auswärtssieg im Frankfurter Waldstadion. Wer Fan ist und den Abstiegskampf kennt, kann verstehen, was der Auswärtssieg eines abgeschlagenen Teams an einem tristen Nachmittag im Spätherbst für die geschundene Seele bedeutet.

Mein Wochenende jedenfalls war gerettet, das von Fritz Walter übrigens auch, denn er sprach am Abend im Fernsehen von zwei wichtigen Punkten „im Kampf um den Abstieg“, und es störte mich nur unwesentlich, dass er nicht „Kampf gegen den Abstieg“ sagte. Würde Fritz Walter heute noch leben, könnte er sich – im Gegensatz zu meiner Schwester – wenigstens an den Tag ihres 22. Geburtstages erinnern, denn nichts ordnet die Vergangenheit besser als Fußballspiele. So weiß ich beispielsweise ganz genau, dass ich den euphorisch gefeierten 3:0-Triumph gegen den 1. FC Köln eine Woche später, es war ein knackig kalter Wintertag, Tischtennis spielend beim Nachbarsjungen verfolgte. Gebettet in der wohligen Watte samtenen Siegestaumels torkelte ich nach verlorenem Tischtennismatch dem Christfest entgegen.

Glück ist trügerisch. Glück ist kurz. Um mich der Härte dieser Erkenntnis und gleichzeitig auch den Rattenfängern der Glückseligkeit zu entziehen, beschloss ich irgendwann in meinem späteren Leben, nicht mehr glücklich sein zu müssen. Nur wer auf Glück verzichten konnte, konnte Versicherungsvertretern, verführenden Frauen und religiösen Fundamentalisten mit einem klaren und entschiedenen Nein entgegentreten. „Deinem Leben fehlt etwas, du verfügst nicht über das optimale Maß an Versicherungsschutz, an Sex, an Spiritualität. Mit dem Erwerb meines Produktes trägst du zur Optimierung deines materiellen und metaphysischen Karmas bei, mit dem Verzicht darauf zu deinem Untergang.“ Also, ich musste nicht glücklich sein, ich war ganz zufrieden mit meinem Unglück, oder eben unzufrieden, auch egal.

Sowieso schafft nur die Existenz des Unglücks die Möglichkeit des Glücks, genau wie mitteleuropäische Regenwolken dem von Zeit zu Zeit blauen Himmel erst seinen Wert geben. Friedrich Nietzsche behauptete, alle Lust wolle Ewigkeit. Aber nicht nur die Ewigkeit ihrer selbst, sondern aller Dinge Ewigkeit, was ich dem Grunde nach nicht verstehe, alltagssprachlich aber so deute, als bestünde die Glückseligkeit nicht bloß im Erblicken des gelobten Landes, sondern verlange im Vorfeld zwingend nach dem 40 Jahre währenden Umherirren in der Wüste. Freude verlangt Leid, Sieg verlangt Niederlage. Fußball will Glückseligkeit und verursacht damit definitionsgemäß Schmerzen. Einfacher ausgedrückt: Es ist Scheiße, ein Kaiserslautern-Fan zu sein! Zumindest in der Regel, also hauptsächlich in der Zeitspanne zwischen dem ersten Gegentor und dem die Niederlage besiegelnden Schlusspfiff. Die Frage ist nur: Wenn der 1. FC Kaiserslautern nach ein paar Siegen wieder in die Höllenspur der Niederlagenserien zurückfallen muss, darf ich dann gar nicht erst den Fehler machen, mich über die Siege zu freuen? Ehrlich gesagt birgt mein Erhabenheit suggerierendes „Ich muss nicht glücklich sein“ auch Schwächen. Klar muss ich nicht glücklich sein, aber es wäre doch schöner, wenn ich es wäre.

Mit 13 Jahren war ich noch frei von derartigen Gedanken, die sich Erwachsene machen, wenn sie nicht ausgelastet sind. Mit 13 feierte ich Weihnachten auf dem zwölften Tabellenplatz, doch kaum hatte ich ein paar Wochen danach meine 14. Sonnenumrundung abgeschlossen, hörte der Verein wieder mit dem Gewinnen auf. Hier mal ein Unentschieden, da mal ein unverdienter Ausgleich in der Nachspielzeit – alles andere waren Pleiten, in der Regel klare und absolut unanfechtbare Niederlagen, bei denen meine Teufel in humorloser Manier ihre Grenzen aufgezeigt bekamen. Man näherte sich dem Tabellenende in just der gleichen schreckenerregenden Geschwindigkeit, in der auch die Saison sich dem Ende entgegenneigte: 0:3 in Stuttgart, 1:3 gegen Bayer Leverkusen, 0:3 in Dortmund.

Der Frühling stand in vollem Saft, und eigentlich wäre es die Zeit gewesen, in der auch ein 14-jähriger Junge seine Säfte zur Reife hätte bringen müssen, doch alles, was ich fühlte, waren Tod und Verzweiflung. Der 1. FC Kaiserslautern, mein Verein, mein Ein und Alles stürzte im freien Fall Richtung zweite Liga. Niemand der Fachleute, aber auch niemand der vielen Fans im Südwesten rechnete damals damit, dass der 1. FCK nach einem Abstieg wieder zurückkommen würde. Nach dem Abstieg, so der allgemeine Tenor, würde der Verein in der Versenkung verschwinden, durchgereicht werden in die Oberliga, wie einst der FK Pirmasens oder Borussia Neunkirchen im Saarland. Kaum einer glaubte mehr an eine Rettung, und es kann kein Zufall gewesen sein, dass ich ausgerechnet in jener Zeit des drohenden Identitätsverlustes mein ultimatives, für immer prägendes Betzenberg-Erlebnis hatte, das mir den Glauben an die Möglichkeit des schier Unmöglichen geben sollte. Den Glauben, den ich noch immer in mir trage und der von Außenstehenden, sofern sie sich ernsthaft mit Fußball beschäftigen, zuweilen als krankhafter Optimismus und bodenlose Naivität verspottet wird. Dass diese Realisten Unrecht haben, weiß nur ich …

Das Ganze hängt mit meiner Konfirmation zusammen. Sie fand im April statt, einige Wochen nachdem wir uns auf der Konfirmandenfreizeit in der Bibel blätternd nach Segnungssprüchen umgesehen hatten und ich Gefallen an Psalm 127 fand: „Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und spät euch niedersetzt und euer Brot in Mühsal esst – den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.“ Leider konnte meine Mutter noch immer nicht von der Kirche lassen und verbot mir, den Spruch zu nehmen, da er bei der Einsegnung für unangemessene Heiterkeit sorgen würde. Brav und folgsam, wie ich zu meinem Leidwesen schon immer war, schwenkte ich um zum zweiten Korintherbrief: „Denn der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ Der damalige Standard-Satz „Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ war bereits besetzt, so dass der Kelch des Nullachtfünfzehn-Konfirmanden gerade so an mir vorbeiging.

Schön an dem Tag war, dass wir Wein trinken durften – kein Blut, wie die Katholiken meinen – und uns ein bisschen wie Erwachsene fühlten. Schön waren auch die Geschenke, viele Geschenke, oft Geld, und unermesslich groß war die Zahl der Glückwunschkarten. Auch mein Bruder machte mir ein Geschenk. Es ist eines von drei Geschenken meines Bruders aus meiner (im weiteren Sinne) Kinderzeit, an die ich mich noch erinnern kann. Als ich fünf wurde, schenkte er mir einen selbst gefertigten Wandhampelmann, eine saubere Laubsägearbeit, die lange Jahre die Wand meines inkonsequent eingerichteten Jugendzimmers zierte – neben Hunderten von Bierdeckeln und etlichen FCK-Postern. Als ich zehn wurde, schenkte er mir ein besseres Bilderbuch, was mich sehr verletzte, denn es zeigte mir, dass er sich entweder keine Gedanken gemacht hatte oder mich noch für ein kleines Kind hielt. Doch zu meiner Konfirmation schenkte er mir etwas ganz Brauchbares: Es sollte ein paar Tage später zum ersten Mal in der Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes ein Länderspiel der A-Nationalelf in Kaiserslautern ausgetragen werden. Man konnte dies als eine Art Anerkennung gegenüber den im Fritz-Walter-Stadion getroffenen Umbaumaßnahmen verstehen (aus der halbrunden Westkurve war eine überdachte Westtribüne geworden, was die Fans ursprünglich mit Pfiffen kommentiert hatten, denn sie konnten nun durch die das Dach abstützenden Pfeiler ihre aus der italienischen Serie A abkopierte größte aller Bundesliga-Fahnen nicht mehr ausrollen), und mein Bruder hatte mich ein paar Tage vorher gefragt, ob ich das Spiel wohl gerne anschauen würde. Natürlich hätte ich Deutschland gegen die Schweiz nicht uninteressant gefunden, doch das Spiel sollte auch im Fernsehen übertragen werden, weswegen ich lieber ehrlich blieb und antwortete, dass ich das drei Tage danach stattfindende Abstiegsendspiel Kaiserslautern gegen Bayern München bevorzugen würde. Die Eintrittskarte hierfür bekam ich zur Konfirmation geschenkt. Groß, grün, überdimensioniertes FCK-Emblem, in kleineren Blockbuchstaben daneben „FC Bayern München“, der obligatorische Werbeschnickschnack und, zu meinem Erschrecken, die Platzangabe: Westtribüne, Block 11.

Ich gebe offen zu: Ich hatte ein bisschen Bammel vor der Westkurve. Nicht nur, dass ich befürchtete, in der rasenden Meute unterzugehen, vielmehr sah ich, bedingt auch durch die Erfahrungen des ersten Stadionbesuches, vor meinem geistigen Auge eine Horde Bayern-Fans, wie sie sich hinter der Westkurve zur großen Schlägerei zusammenrottete und meinen schmalbrüstigen Körper wie ein Spiegelei zerquetschte. Es erscheint mir heute als unglaublich, dass es einmal eine Zeit gegeben haben soll, in der ich noch ganz und gar keine Ahnung von der Fanszene allgemein und speziell von der in Kaiserslautern hatte. Eine Zeit, in der mir selbst die Denkstrukturen für die einfachen und fundamentalen Kategorien Block 6 bis Block 11 abgingen, die über zwei Jahrzehnte von 1986 bis hin zum WM-gerechten Umbau für 2006 das Selbstverständnis der FCK-Fans bestimmen sollten. Zum Glück erklärte mir mein Bruder, Block 11, eine von zwei kleinen noch unüberdachten Stellen im Stadion, befände sich ganz am Rande der Westtribüne, was mir zwar nicht jegliche Aufregung nehmen, mich aber die schlimmsten Horrorphantasien für die nächsten 14 Tage vergessen lassen konnte.

Der 30. April 1988 war ein schöner Tag. Ich mochte das Datum schon immer, denn es war bei uns üblich, am Vorabend des Tages der Arbeit die sogenannte Mainacht oder Hexennacht zu feiern. Das bedeutete das abendliche Sammeln an einem großen, über Wochen hinweg aufgetürmten Scheiterhaufen und im Anschluss an dessen Herunterbrennen das langsame und möglichst lautlose Abtauchen in die dörfliche Dunkelheit. Hexennacht war quasi legalisiertes Klauen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde von den heimtückischen Hexen, also den Kindern und Jugendlichen, mitgenommen und an einem anderen Ort versteckt. Am nächsten Morgen konnten die Dorfbewohner dann ihre Sachen suchen, sofern sie nicht auf der Hut gewesen waren oder, wie mein Vater, bewusst ein paar ältere Gegenstände vor der Türe hatten stehen lassen, um sich derer auf elegante Weise zu entledigen.

Für mich waren diese Abende prickelnd. Ich ging in der Regel mit Christoph Bader, der eine ähnlich professionelle Einstellung wie ich an den Tag legte, was für uns hieß, in eine Agentenwelt der Observationen und Codewörter abzutauchen. Verachtung schenkten wir den Vandalen, denen nichts einfiel, außer Klingeln und Telefonzellen mit Senf zu beschmieren oder Toilettenpapier um geparkte Autos herumzuwickeln. Am besten gefiel mir die Hexerei so mit zehn, elf Jahren, und zum letzten Mal ging ich, als ich 15 war. Da war es schon weniger spannend, und mit Jonas Gutmann und Morten Pitz zusammen hatten wir damals auch ein bisschen den Bogen überspannt, indem wir einem US-amerikanischen Dorfbewohner, der mit den hiesigen Bräuchen wohl nicht so vertraut war, die komplette Golfausrüstung aus seinem offenen Gartenhäuschen heraus entwendeten. Da wir uns noch nicht einmal die Mühe gegeben hatten, nicht von Dritten gesehen zu werden, kam die Sache bald heraus, und der Amerikaner ließ es schließlich nach längeren und hitzigen Diskussionen bei der aus seiner Sicht wohl milden Androhung bewenden, das nächste Mal, wenn wir uns seinem Grundstück nähern würden, direkt zu schießen.

1988 jedenfalls freute ich mich noch auf die Mainacht und wäre deshalb auch ohne die Aussicht eines Bayern-Gastspiels auf dem Betzenberg euphorisiert gewesen. Der Himmel war strahlend blau, und zum Glück wusste ich damals noch nicht, dass „Fritz-Walter-Wetter“ genau das Gegenteil davon bedeutete. Bereits auf der Anfahrt versank ich in meditatives Nachdenken über die unfassbare Bedeutung der Partie gegen diesen so unfassbar starken Gegner. Es war vollkommen klar, dass wir gewinnen mussten, aber es war eigentlich genauso klar, dass wir verlieren würden. Mein Bruder drückte es, am Steuer seiner ockergelben Golf-Diesel-Dreckschleuder sitzend, anders aus: „Wenn die Lautrer nicht aufpassen, spielen sie nächstes Jahr sonntags.“ Ich verstand diese Formulierung, doch ich verstand nicht, warum er diese Katastrophe meinenden Worte so gelassen aussprach. Hieß Abstieg nichts anderes, als in der nächsten Saison zu anderen Anstoßzeiten gegen schwächere Mannschaften zu spielen? Für das Jugendteam meines Heimatvereins mochte dies zutreffen, aber für den 1. FC Kaiserslautern? War mein Bruder ein Fan? Der Gedanke an den Abstieg ließ mich schaudern. Ihn gelassen auszusprechen war, als ob man über einen möglicherweise sterbenden, einem nahestehenden Menschen sagen würde: „Wenn die Mediziner keine erstklassige Arbeit leisten, tragen wir nächste Woche schwarz.“ Wenn Tod auch nichts anderes war als der Wechsel von einer Sphäre in die andere, so gab es doch keine bangenden, keine trauernden Menschen, die dies so emotionslos aussprechen würden. Abstieg war Sterben, über den Zustand des Abgestiegenseins mochte ich keinen Gedanken verlieren.

Während der Fahrt erfüllte mich zum ersten Mal die Sorge, die sich mit den Jahren immer mehr in neurotischem und zwanghaftem Verhalten manifestieren sollte: die panische Angst, zu spät zu kommen. Damals war sie durchaus berechtigt, denn mein Bruder wollte uns – seiner Freundin, die sich als Bayern-Fan ausgab, und mir – beweisen, wie ortskundig er war. Wir kurvten sinnlos durch Kaiserslautern, nachdem wir schon auf der Autobahn sinnlos im Stau gestanden hatten, und ich war der festen Überzeugung, dass wir das Stadion nicht mehr erreichen würden. Endlich parkten wir irgendwo zwischen Universität und Dunkeltälchen und marschierten, so stramm es die Umstände zuließen, bergan. Milde Lenzluft und die nach wie vor strahlende Sonne machten meinen hellroten Pullover eigentlich unnötig, doch ich ließ ihn lieber an, denn er hatte mich schon beim ersten Mal begleitet, und gemeinsam waren wir noch unbesiegt.

„Denn wir in der Pfalz bauen auf Mmmmmüllermilch!“, waren bald die ersten Geräuschfetzen, die aus dem Stadioninneren an mein Ohr drangen, verbunden mit entschlossenen Schlachtgesängen, die sich von der Rückseite der kargen Betontribünen aus anziehend und zugleich bedrohlich anhörten. Wir liefen hinter der kompletten Westkurve entlang, betraten schließlich den äußeren Eingang zu Block 11, und wieder hatte ich, wie schon bei meinem ersten Stadionbesuch, dieses erschlagende Gefühl von „grün“. Diesmal jedoch aus nächster Nähe, keine drei Meter oberhalb der Eckfahne stehend mit sich aufwärmenden, kurze Hosen und rote Trainingspullover tragenden FCK-Profis vor Augen. Das Stadion war voll, viel voller als beim letzten Mal. Die meisten der rot-weißen Fahnen ragten etwa 30 oder 40 Meter rechts von uns aus der Masse, wir waren also tatsächlich nicht im Kern gelandet. Schnell stiegen wir den gelb markierten Aufgang empor und fanden ziemlich oben im Block ein bisschen Platz. Da Block 11 deutlich niedriger war als der Rest der Westtribüne, hielt sich der Abstand zum Spielfeld in überschaubarem Rahmen. Während des Emporsteigens hatte ich den Mannschaftskapitän unseres C-Jugendteams gesehen, der genau wie ich und ein dritter Kamerad das heutige Punktspiel gegen eine unterirdisch schlechte Truppe geschwänzt hatte, um die Bayern zu sehen. Das Hinspiel, auswärts, hatten wir mit 19:0 Toren gewonnen, und noch heute schäme ich mich dafür, in jener Begegnung keinen Treffer erzielt zu haben. Immerhin war ich etwa ein Dutzend Mal mit voller Absicht vom gleichen frustrierten schlechten Verlierer gefoult worden, was mir zumindest ansatzweise das Gefühl vermittelte, etwas geleistet zu haben. Bestärkt sollte meine Unverzichtbarkeit für die Mannschaft noch werden, als ich Tage später erfuhr, dass das ohne mich stattfindende Rückspiel, trotz Heimvorteils, nur mit 7:0 gewonnen wurde.

Obwohl für den FCK an jenem Tag ganz und gar kein klarer Erfolg zu erwarten war, zeigte sich die Westtribüne vor dem Anpfiff in farbenfroher, lautstarker und sangesfreudiger Manier. Dass eine Mannschaft, die in den vorangegangenen Wochen nur verloren hatte, bereits beim Warmmachen frenetisch gefeiert wurde, gefiel mir. War es das Pfeifen im Walde? Immer wieder wanderten meine Blicke nach rechts, wo klatschende Hände auf und nieder wogten und vielkehlige Choräle unter das Tribünendach geschmettert wurden. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich bewusst das Betzenberglied, eine volkstümlich-kindliche Weise, zu der man sich die im Kreis tanzenden Marionetten der Augsburger Puppenkiste hätte vorstellen können. Der Refrain lautete: „Oleee Oleee, Oleee Olaaa, der FCK ist wieder daaa! Oleee Oleee, Oleee Olaaa, die Roten Teufel sind ganz wunderbaaar!“ Die letzte Strophe schloss mit dem Vers: „Wenn am Schluss wir dann doch Sieger sind, dann ist es allen klar – so lang’s in Deutschland Fußball gibt, gibt es auch den FCK!“ Die Menschen um mich herum schienen dieses Lied auswendig zu kennen und sangen es andächtig, beinahe beschwörend mit. Den Refrain schmetterte die gesamte Westtribüne in einem derart hohen Tempo, dass man nach ihrem Verstummen die letzten Worte noch einmal über Stadionlautsprecher mithören konnte. (Übrigens hat sich die Art des wilden, zu schnellen Mitsingens dieses Liedes nicht über die Jahrtausendwende hinweg halten können. Mittlerweile bleiben die Fans im Originaltempo, füllen kurze Phasen des Bandgedudels mit Händeklatschen und erweitern die Stelle „Jeder Klub ist uns willkommen, jede Mannschaft gern geseh’n“ mit dem bellenden Zwischenruf „Außer Bayern!“. Ob man diese leichte Abwandlung der Stadionliturgie begrüßen oder bedauern soll, weiß ich nicht. Grundsätzlich neige ich zum Bedauern von Veränderungen, da früher bekanntlich alles besser war. Wenigstens sind die beiden vor der Westtribüne auf und ab springenden Teufelchen geblieben, die mich, warum auch immer, zu Tränen rühren. Oder kamen die erst in den Neunzigern?)

1988 jedenfalls spielte noch ein gewisser Raimond Aumann im Tor des FC Bayern, und ich erinnere mich an das gellende Pfeifkonzert nach der Seitenwahl und den langsam auf die Westtribüne zutrabenden Aumann. Der allgemeine Wunsch der Fankurve, die eigene Mannschaft erst in der zweiten Halbzeit in ihre Richtung spielen zu sehen, um dann die entscheidenden Tore quasi herbeirufen zu können, war mir damals noch unbekannt, so dass ich die Pfiffe ausschließlich auf Aumann bezog. Als diese dann noch in den Gesang „Aumann, du bist nervös!“ umschlugen, dessen derben Zusatz „Du Drecksau!“ meine unschuldigen Ohren noch nicht hörten, war mir endgültig klar, dass man als Westtribünenbesucher seinem Schicksal nicht ohnmächtig ausgeliefert war. Aumann musste vor dieser lauten Meute einfach Nerven zeigen und im entscheidenden Moment danebengreifen. Der Gedanke, dass er solchen Gesängen bei jedem Auswärtsspiel ausgesetzt war, kam mir entweder nicht, oder ich wischte ihn mit der unregelmäßigen Spielpraxis des Bayern-Keepers hinweg. Außerdem war Auswärtsspiel nicht gleich Betzenberg, zumindest damals noch nicht, und so entsprach das unangemessen optimistische „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“ genau der kampfesfreudigen Stimmung, mit der ich der nun zu erwartenden Abwehrschlacht entgegensah.

Der Spielbeginn nahm mir den größten Respekt vor den Bayern, denn meine Männer kämpften mit der gleichen Leidenschaft, die ich und vermutlich auch die meisten der anderen 34.000 für den Verein Fritz Walters empfanden. Es wurde verbissen gegrätscht und gelaufen, und jede gelungene Abwehraktion wurde von ohrenbetäubendem Jubel begleitet. Die in Weiß gekleideten Bayern waren spielerisch stark. Mehrmals sah ich einen von ihnen in aussichtsreicher Position vor Michael Serr auftauchen (Gerry Ehrmann fehlte verletzungsbedingt), doch die scharfen Schüsse zischten knapp am Tor vor der Osttribüne vorbei oder wurden pariert. Ich fühlte in diesen Momenten eine innere Lähmung und schickte heftige Stoßgebete in Richtung der beteiligten Personen einschließlich des Lederballes, der unter keinen Umständen seinen Weg ins Netz finden durfte. Er fand ihn nicht.

Mit der Zeit wurden die Roten Teufel mutiger und kämpften sich aus der Umklammerung heraus. Ein erster Kopfball von Harald Kohr landete auf der Latte, und die ohnehin schon gute Stimmung auf den Rängen erhielt einen weiteren Schub. Unwirklich dann der Moment kurz vor der Pause. Frank Lelle, damals noch Vertragsamateur, lief ein paar Schritte vor der Münchner Abwehr quer, sah eine Lücke und zog mit dem linken Fuß aus der Distanz von geschätzten 20 Metern ab. (Bis heute sah ich zu dem Spiel keine Fernsehbilder.) Jemand, der nicht das Problem hat, mit einer Durchschnittsmannschaft zu leiden, wird die Ewigkeit, die ein Ball in der Luft sein kann, die Zweifel, ob ihn der fliegende Torhüter erreichen wird, die Ungläubigkeit, dass ein Bayern-Keeper den Ball eines Pfälzer Polizisten nicht aufhalten kann und schließlich den Triumph, mit 1:0 gegen den übermächtigen FC Bayern München in Führung gegangen zu sein, nicht nachvollziehen können. All diese und noch andere Emotionen ließen die abstiegsgepeinigten Pfälzer Hosianna singend den Halbzeitpfiff genießen, und wieder und wieder wurde das schnelle, scharfe, schneidende „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“ angestimmt. Nach der Halbzeitpause noch öfter, lauter, triumphierender, denn Harald Kohr erhöhte mit zwei Kopfballtreffern auf 3:0. Mein Bruder und ich kamen aus dem Applaudieren nicht mehr heraus, und hinter mir rief eine sich überschlagende Stimme: „Das ist der Betzenberg!!!“

Ich glaubte zu verstehen. Der Betzenberg war nicht bloß das, was ich gegen Frankfurt erlebt hatte: ein stimmungsvolles Fußballstadion. Der Betzenberg verhieß eine Option, das Wissen um die jederzeit mögliche Wende zum Guten. Er war ein Vulkan, der aus dem Nichts heraus explodieren konnte, eine Hölle, die ihre Teufel, wenn es ganz eng wurde, nicht im Stich ließ. In den Jahren danach sollte ich noch oft Zeuge solcher Ausbrüche werden, freilich auch Zeuge enttäuschender Spiele, doch der Glaube an die irgendwann eintretende Rettung sollte mich nicht mehr verlassen.

Dass die Bayern an jenem Tag noch ein Tor schossen, störte niemanden mehr. Nach dem Schlusspfiff stürmten die FCK-Spieler auf Michael Serr zu und genossen anschließend das Bad in der Menge. Erleichterte, ungläubige Jubelgesänge und ein rot-weißes Fahnenmeer waren das Letzte, was ich von der Westkurve mitbekam. Hinter dem Stadion warf sich ein siegestrunkener Fan, der wohl in einem der „härteren“ Blöcke gestanden hatte, meinem Bruder in die Arme und rief etwas wie: „Denen haben wir es gegeben, den Wichsern!“ Ich benutzte damals Worte wie Wichser nicht und im Grunde auch heute so gut wie nie, doch der Mann sprach aus, was ich empfand. Die Bayern waren Wichser, und wir hatten es den Wichsern gegeben. Die Wichser würden in diesem Jahr auch nicht mehr Deutscher Meister werden. Schön, dass endlich einmal Werder Bremen dran war. Werder Bremen war sympathisch – keine Wichser. Als ich den Fan, den mein Bruder von einer Praktikumstelle her kannte, zu Hause zitierte, leugnete mein Bruder in Anwesenheit meines Vaters, dass das Wort Wichser gefallen sei. Ich verstand nicht warum, denn Fußball war für mich keine Frage der Wortwahl, sondern der Emotion.

Das Leben ist ein Fußballspiel

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