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I. Fanatikergene?

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Dass irgendetwas mit mir nicht stimmte, dass ich zur Heldenverehrung neigte, hätte jeder psychologisch gewiefte Beobachter bereits in den frühen achtziger Jahren erkennen müssen. Meine Leidenschaften waren damals zweigeteilt: Im Winter favorisierte ich den nordischen Skisport, dabei insbesondere die finnischen Athleten und allen voran den Skispringer Matti Nykänen (einen labilen Alkoholiker, der heute mehrfach geschieden und vorbestraft ist, damals aber mit einer Leichtigkeit ins Tal segelte, die nur in seinem blassen Gesicht und dem unendlich langen Kontrollieren des richtigen Sitzes von Skibrille und Bindung ihre Ursache haben konnte) und den Rest des Jahres natürlich meine Roten Teufel vom Betzenberg.

Gewiss kann man auch eine Sache oder eine Person favorisieren, ohne ihr gleich mit Haut und Haaren zu verfallen. So soll es zum Beispiel Menschen geben, die einen bestimmten Künstler gerne sehen oder eine bestimmte Art von Romanen mögen – würden diese Menschen aber morgens mit hämmerndem Herzen den Kulturteil ihrer Tageszeitung aufschlagen, um sich in panischer Selbstvergessenheit den neuesten Verrissen der Werke ihres Lieblingsautors auszusetzen? Und würden diese Menschen erleichtert aufatmen, wenn das Urteil milde ausgefallen war? Ich für meinen Teil schlug immer, ohne Ausnahme immer, zuerst den Sportteil auf, und es erfüllte mich bereits am frühen Morgen mit wohliger Beruhigung, wenn in den am unteren Rande stehenden, klein gedruckten Ergebnislisten ein Weltcup-Sieg Matti Nykänens aus Übersee gemeldet wurde. (Wo war Übersee?) Trotz des enormen Potenzials dieses Skispringers waren seine Siege nämlich niemals Selbstverständlichkeit, denn Matti Nykänen gehörte zu denjenigen Menschen, denen man gerne nachsagte, sie pendelten zwischen Genie und Wahnsinn. Wenn Matti Nykänen also auch in seinen guten Jahren eine Dominanz wie im Fußball Bayern München an den Tag legen konnte, so hatte er doch mit dem „Mir sann mir“ der Bayern wenig gemein. Was ich nicht sage, um Bayern München aufzuwerten – nichts läge mir ferner –, sondern um meine Art der Zuneigung zum 1. FC Kaiserslautern zumindest versuchsweise zu charakterisieren. Hier wie da konnte man nie wissen, woran man war: Es gab unendlich weite Flüge mit Telemark-Landung, wo kein anderer noch hätte stehen können, es gab begeisternde Fußballfeste unter Flutlicht, aber auch Notlandungen bei 80 Metern und trübe 0:5-Klatschen an Novembernachmittagen. All dies ließ ich als des Zeitungslesens mächtiges Schulkind am frühen Morgen noch einmal auf der Toilette Revue passieren, denn die Toilette war der Ort in meinem Elternhaus, an dem das abonnierte Regionalblatt seinen festen Platz hatte, ein Ort, der in etwa auch seinem journalistischen Niveau gerecht wurde. Hier verschlang ich noch vor dem ersten Schluck Kakao des Morgens Randnotizen über Wintertrainingslager, UEFA-Cup-Ergebnisse und Analysen der Wochenendspiele, und es hat sich manche Schlagzeile („Mit Briegel war der Bann gebrochen“ nach einem 4:0-Rückspiel-Sieg über Spartak Moskau 1981 oder „Beim 2:1 klatschten auch Kölner Zuschauer“ als Kommentar zu einer besonders originellen Freistoßvariante mit Torabschluss von Axel Roos aus der Überraschungssaison 1986/87) in mein junges Gehirn eingebrannt und nicht mehr den Weg nach draußen gefunden.

Dass ich schon früh die Anlagen eines Fanatikers in mir trug, wird mir heute bewusst, wenn ich kleine Begebenheiten, denen ich als Kind keine weitere Beachtung schenkte, vor dem Hintergrund der Erfahrungen betrachte, die ich mit mir selbst im Laufe der Jahre gesammelt habe.

Ich denke zum Beispiel an unser Fußball-Dorfturnier mit dem Namen „Kick mal wieder“, ein Name, der nicht ansatzweise die Verbissenheit wiedergibt, mit der in den Gruppen „Mit Aktiven“ und „Ohne aktive Spieler“ um Ruhm und Ehre gekämpft wurde. Bis die Sonne am späten Frühsommerabend hinter den Waldhügeln verschwand, war das halbe Dorf auf den Beinen, stand seriös den Bauch hervorstreckend am Bierpilz oder lümmelte sich auf und um die vereinzelt postierten Klappgarnituren herum. Für uns Grundschulbuben waren diese Tage in mehrfacher Weise berauschend. Zum einen wegen des quasi legitimierten verlängerten Aufbleibens und der fiebrigen Aktivität, die in unserem Provinznest sonst nur selten zu verspüren war, zum anderen wegen der erfreulichen Tatsache, dass die Tore unseres Kleinspielfeldes an diesen Tagen Netze bekamen, so dass wir in den Spielpausen unseren Vorbildern nacheifern konnten, ohne nach jedem erfolgreichen Abschluss den Ball im entfernten Gebüsch suchen gehen zu müssen. Dazu machten frisch gekalkte Seitenlinien unser Glück perfekt.

Nun begab es sich, dass auch mein fast sieben Jahre älterer Bruder eine Hobbymannschaft gegründet hatte, die unter dem nicht unoriginellen Namen „Flamenco Scheißegal“ an den Wettkämpfen teilnahm. Die Mannschaft trug blau-grüne Trikots (mit Trikotwerbung!), kämpfte leidlich, hatte mit der Pokalvergabe wenig zu tun, dafür aber einen Fan: mich. Was an meinem Verhalten fan-artig (besser: fanatisch) war, stand im Widerspruch zu meiner sonstigen zurückhaltenden, in Gesellschaft geradezu schüchternen Persönlichkeit, die es mir auch heute noch schwermacht, in Runden von mehr als fünf oder sechs Leuten, selbst wenn sie mir bekannt sind, das Wort zu ergreifen. Als Fan von Flamenco Scheißegal jedoch ergriff ich das Wort vor Hunderten von Leuten, feuerte lautstark an, schrie, als könnte ich dadurch den Ball ins Tor tragen, und beschimpfte den Gegner mit unflätigsten Worten, so dass mein Vater mich aus Pein über seinen augenscheinlich außer Kontrolle geratenen Sohn zur Raison rufen musste.

Das Bemerkenswerte an der Sache war nicht die Tatsache, dass ich mein Verhalten für die Minuten eines kurzen Fußballspieles geändert hatte, sondern dass mir diese Verhaltensänderung in keiner Weise bewusst war. Zu vertieft war ich in mein Vorhaben, Flamenco Scheißegal zum Sieg zu verhelfen. Und wenn ich dafür robuste Erwachsene, die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen, als ein falsches Trikot zu tragen, als „Arschlöcher“ titulieren musste, dann diente dies der guten Sache und konnte nicht falsch sein. Mir war nicht klar, dass ich mich in der beschaulichen Idylle eines kleinen Dorfsportplatzes vom Drittklässer in einen Besessenen verwandelt hatte, der tat, was Menschen zu Tausenden in der Anonymität eines Stadions zu tun pflegen: alles um zu siegen. Ich brauchte dazu kein Stadion, ich wusste nur, dass mein Team nicht als Verlierer vom Platz gehen durfte.

Wer dies so genau weiß und empfindet, wie ich es damals tat, der ist ein Fan, und es macht überhaupt keinen Unterschied, ob er im Stadion steht oder sitzt, den Fernseher oder das Radio anbetet, in Videotexttafeln versinkt oder sich in den Momenten des Spieles bewusst mit etwas anderem beschäftigt, ohne jedoch auch nur für Sekunden vergessen zu können, was zur gleichen Zeit Kilometer entfernt im Stadion seiner Auserwählten vonstatten geht.

Die Anspannung, die mich in der Rolle des Zuschauers überkommen hatte, der unbedingte, auch im zermürbenden Sog der Niederlage noch anhaltende Siegeswille, war mir in meinem eigenen sportlichen Tun und Lassen (und bis heute auch in den meisten anderen Bereichen meines Lebens) eher unbekannt. Zwar trat ich bei meinen eigenen Dorfturnierteilnahmen mit den Mannschaften „FC Batsch“ als Zehnjähriger und „Paradoxical Paratroopers“ als junger Erwachsener durchaus in der Absicht an zu gewinnen, doch unterlag mein Kampfeswille in diesen Situationen meist meinem Spieltrieb und der Freude am Umgang mit dem runden Leder, so dass meine persönliche fußballerische Leistung in der Regel als technisch sauber, jedoch zu lasch beurteilt wurde. Gewiss wäre ich keiner gewesen, der die Westkurve im Angesicht des drohenden Untergangs mit einer aggressiven Grätsche aus ihrer Lethargie gerissen hätte. Eher wäre es mir vielleicht gelungen, einen wichtigen Elfmeter zu versenken, doch diese Fähigkeiten waren in unserer Jugendliga, in der die Spiele häufig einen einseitigen Verlauf nahmen, weniger gefragt. So führte ich meine Kämpfe (sollte ich besser sagen: Kriege?) auf abstrakterer Ebene durch, spielte im gelben Trikot meines Heimatvereines meinen samstäglichen Stiefel herunter, war in Gedanken aber bei den Rot-Weißen, deren Tabellenfahrt ich bangen Herzens verfolgte und minutiös dokumentierte.

Diese zweite, etwas bewusstere Stufe des Fanseins hatte ich mit etwa elf, zwölf Jahren erreicht. Zuvor waren meine Samstage noch spielerischer verlaufen. Ich wusste zwar um die Anstoßzeiten der Bundesliga und hörte ab und an auch in die damals von Journalisten wie Dieter Pudenz und Carl Rudolf Menke moderierte Radiosendung SWF 3 Sportreport („vom Betzenberg berichtet Volker Kottkamp“) hinein, viel zu oft verpasste ich allerdings durch Spiel mit Freunden und den obligatorischen Kindergottesdienst während der Schlusskonferenz die entscheidende Phase, die mir Ernst Huberty oder Fritz von Thurn und Taxis am Abend in der Sportschau nachlieferten. Meinem Vater verbot ich stets, mir das FCK-Ergebnis zu nennen, damit ich in meiner Illusion des Sieges nicht schon vor Ablauf des Zusammenschnitts beeinträchtigt wurde. Ein Gefühl, das gerade für einen Fan, der glaubt den Verlauf beeinflussen zu können, überlebenswichtig ist und meinen bis heute vorherrschenden Hang zu Live-Übertragungen erklärt. Bestenfalls ließ ich mich noch auf vage Andeutungen ein, dass im Kaiserslautern-Spiel die meisten Tore des Tages gefallen seien oder die meisten Platzverweise vorgekommen wären – dies waren keine Killerphrasen, denn sie ließen auch bei 0:3 zur Pause noch einen letzten Rest Hoffnung zu.

Was mir als Kind hingegen noch fremd war, war das permanente Kopfrechnen, das einem zur vollen Fanreife gelangten Menschen die Tage zwischen den Spielen zum Martyrium macht. Zwar wusste ich auch damals schon um die Tabellenplätze meines Vereins, doch ohne echtes Verständnis für die Bedeutung von Punkteabständen aufzubringen oder den Spielplan auswendig zu wissen, was ein Einschätzen des wirklichen Ernstes der Lage enorm vereinfacht hätte. Heute sind mir derartige Fakten rund um die Uhr präsent, und sie werden ganz gewiss zu den letzten Dingen gehören, die mir im natürlichen Zerfallsprozess meines Gehirnes einmal Probleme bereiten werden, vorausgesetzt natürlich, der Fußball und damit gleichgesetzt der 1. FC Kaiserslautern werden dann noch existieren, woran ich jedoch nicht ernstlich zweifeln möchte.

Der Schritt vom kindlichen zum erwachsenen Fan ist in meinem Fall in etwa gleichzusetzen mit der Zunahme der Zahl durch Fußball gebundener Gedanken und dem Anwachsen der Intensität, mit der ich mich der Analyse dieser Fakten gewidmet habe. Als Grundschulkind hatte es mir beispielsweise noch passieren können, dass ich während des samstäglichen Gekickes im Gleichaltrigenkreis per Zufall erfuhr, dass meine Roten Teufel ihr Spiel in Braunschweig bereits am Vorabend mit 1:0 gewonnen hatten. Heute von der Ansetzung einer Bundesliga-Begegnung des 1. FC Kaiserslautern nichts zu wissen, wäre schlicht und ergreifend undenkbar, was aber nicht heißt, die Siege und Niederlagen hätten mir früher weniger bedeutet.

Geschärft hat sich mit den Jahren lediglich mein Blick für Details, für statistische Belange etwa oder auch für die allgemeinen Zusammenhänge, innerhalb derer sich das von Bild- und Printmedien permanent begleitete Unternehmen „Profifußball“ tief in unseren Zeitgeist eingegraben hat. Und vor allem: Ich habe gelernt, wie es sich anfühlt, wenn mein subjektiver Wahnsinn mit dem von zigtausend anderen zusammenprallt und sich seinen kollektiven Ausbruch verschafft, der weniger mit der gewaltigen Masse selbst zu tun hat als mit der Gefühlswelt der Individuen, die diese bilden. Einfacher ausgedrückt: Irgendwann habe auch ich, der ich bis zum 13. Lebensjahr still und artig vor dem Radio mitgefiebert hatte, ein Fußballstadion betreten.

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