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VI. Gerry Ehrmann – ein Freund verfällt dem Teufel

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Mein drittes Heimspiel soll erwähnt werden, weil es schlecht war. Bereits zwei Monate vor dem Rückrundenstart am 18. Februar 1989 teilte mir mein zwei Jahre jüngerer Nachbar Kim Wagner-Gimmel mit, dass sein Onkel beabsichtigen würde, zum Auftaktmatch gegen Borussia Mönchengladbach zu fahren. Für pubertierende Jungen ohne Führerschein war es durchaus relevant, von mobilen und gleichzeitig vertrauenswürdigen Menschen zu erfahren, die den Betzenberg ansteuerten. Wenn die Fahrt gesichert war, dann war das Hauptproblem aus der Welt geschafft. Die Folgeprobleme, etwa an Karten zu kommen oder das Spiel zu gewinnen, hatte man gewissermaßen selbst in der Hand.

Meine Motive, dem Gladbach-Spiel mit Euphorie entgegenzusehen, waren vielfältig und wurzelten nicht nur in dem attraktiven Namen des Gegners oder Revanchegelüsten nach der unglücklichen Hinspiel-Niederlage. Natürlich war es nicht unerheblich, neben Eintracht Frankfurt und Bayern München eine weitere Bundesliga-Institution in den Trophäenschrank zu bekommen. Ich hatte die bisherige Saison vom Start in rot-weiß gekringelten Trikotärmeln bis zum regenumtosten Hinrundenschlusspfiff nach dem 0:0 gegen Bayer Leverkusen in mich aufgesogen wie noch keine zuvor. Das ausgeglichene Punktekonto zum Rückrundenstart bedeutete für mich, Anhänger einer nicht mehr abstiegsbedrohten, sondern nunmehr durchschnittlichen Bundesligamannschaft zu sein – nach unten war ausreichend Luft und nach oben ging noch was. Seit bald zehn Monaten hatte ich mein „Wohnzimmer“, wie Boris Becker sagen würde, nicht mehr betreten und war gespannt, ob der Betzenberg immer noch Feuer spie. Außerdem hatte ich meinen Nimbus des Unbesiegtseins zu verteidigen, der gegen den UEFA-Cup-Anwärter vom Niederrhein nicht ohne Anstrengung Bestand behalten würde.

Alles Gründe, die Anfahrt nicht mehr erwarten zu können, die sich dann auf der Rückbank eines niedrigen Honda-Sportwagens sitzend relativ unkomfortabel gestaltete. Ich war gespannt, für welchen Block wir Karten nehmen würden, denn Kim hatte mir mitgeteilt, sein Onkel stünde normalerweise in Block 9. Block 9, das waren zwei Blöcke rechts von Block 11, den ich kannte, also zwei Blöcke Richtung Epizentrum. War ich dafür bereits reif? Die Frage stellte sich nicht, denn das Spiel war trotz schlechten Wetters so gut besucht, dass wir wieder mit Block 11 vorlieb nehmen mussten. Diesmal standen wir jedoch nicht am rechten Rand zu Block 10, sondern ganz links an der Grenze zur Nordtribüne, deren Dach uns einen Teil der kontinuierlich fallenden Regentropfen vom Leib hielt. Immerhin hatten wir von hier aus den Rest der Westkurve bestens im Blick.

Vor dem Anpfiff wurde ich unruhig, weil ich den Eindruck hatte, der Borussenblock würde mehr Stimmung verbreiten als die Lauterer Seite. Dass Auswärtsfans meistens einen Tick mehr an Sangeskraft investieren, um auf sich aufmerksam zu machen, wusste ich noch nicht, und ich fragte mich, ob sich der Betzenberg, wie ich ihn vom letzten Mal her kannte, noch im Winterschlaf befand. Erleichtert registrierte ich die hie und da erwachenden FCK-Gesänge, deren Lautstärke dann doch die Gladbacher Bemühungen in den Hintergrund drängte.

Udo Scholz erntete vor dem Spiel warmen Applaus, als er Gerry Ehrmann zum 30. Geburtstag gratulierte. (Komisch, dass mir 30 als Fußballeralter heute ebenso alt wie damals vorkommt, obwohl ich die Barriere selbst schon übersprungen habe und auf 30-Jährige wie ein Schüler auf Kindergartenkinder herabschauen müsste.) Zu Begeisterungsausbrüchen rührte Scholz den Fanblock, als er seine Laudatio auf den in der Winterpause vom HSV ausgeliehenen jungen Stürmer mit den Worten abschloss: „Herzlich willkommen, Bruno Labbadia!“ Ich fand es beeindruckend zu sehen, wie ein Spieler, dessen Namen man als Beobachter der Bundesliga zwar kannte, den man aber nicht liebte, in den Kreis der Familie aufgenommen und mit Trommelwirbel, Konfettiregen und „Bruno!-Bruno!“-Rufen empfangen wurde. Welche unglaublichen Höhen und Tiefen dieser Mann während seines zweieinhalbjährigen Gastspiels in der Pfalz durchleben sollte, ahnte wohl keiner der knapp 25.000 an jenem regnerischen Februartag Anwesenden.

Das Spiel und damit eingeschlossen die Leistung Bruno Labbadias bewegte sich auf äußerst mäßigem Niveau. Interessant, dass ich mich durch den Grottenkick in meinem Genießen der Stadionatmosphäre und der damit verbundenen immerwährenden Hoffnung auf Tore überhaupt nicht beeinträchtigen ließ. Ganz im Gegensatz zu einem wortgewandten Sportsfreund hinter uns, der permanent von seinen „05ern“ schwärmte, deren Oberliga-Darbietungen in jedem Fall noch dem unansehnlichen Gebolze des 1. FC Kaiserslautern überlegen sein mussten. Als in Block 8 Mitte der zweiten Halbzeit „Marmor, Stein und Eisen bricht“ angestimmt wurde, was mich berührte, da es den moralischen Kodex wahrer Fußballfans zum Ausdruck brachte, kommentierte unser realitätsorientierter Sportsfreund nur trocken: „Ich verstehe gar nicht, wie man bei dem Gegurke noch treu bleiben kann.“ Und schon schwelgte er wieder in Lobeshymnen auf seine Mainzer, die es gut 15 Jahre danach tatsächlich noch in die Bundesliga schaffen sollten. Der Mann hat’s gewiss vorausgesehen …

Die einzigen Höhepunkte des Spiels waren eine gute Gerry-Ehrmann-Parade und ein strammer Fernschuss von Olympiamedaillenträger Michael Schulz, der in der zweiten Halbzeit fast noch den Siegtreffer gebracht hätte. In der Westkurve brandete Stimmung auf, als ein Gladbacher kurz vor Schluss die rote Karte sah, doch leider reichte es trotzdem nicht zum Sieg. Das 0:0 bedeutete für mich immerhin, meinen Nimbus aufrechterhalten zu haben. Die fachlichen Diskussionen im Anschluss an das Spiel, als das murmelnde Volk sich gegenseitig erklärte, warum es so und nicht anders ausgegangen war, lehrten mich, dass Axel Roos auf seiner rechten Außenbahn nicht das gebracht hatte, was er sonst im Zusammenspiel mit Frank Hartmann zu bringen imstande war. Hätte er es gebracht – jaaaah, dann … hätten sich die Gladbacher warm anziehen müssen. Übrigens glaubte mein Freund Kim während des Spiels eine Schlägerei in Block 10 entdeckt zu haben – das Fritz-Walter-Stadion war also nach wie vor ein gefährlicher Ort.

Die Tatsache, mal wieder auf dem Betzenberg gewesen zu sein, beruhigte mich, doch ich hatte das unbestimmte Gefühl, es dieses Mal keine zehn Monate mehr aushalten zu können, bis ich den Ort der Orte erneut betreten würde. Nach vier Wochen, in denen ich auf intensivste Art den Geschehnissen via Radio, Fernsehen, Kicker, Tageszeitung und Videotext gefolgt war, wurde ich rückfällig. Diesmal Block 7, ganz nah am Kern und dann auch noch gegen Bayern München.

Das Stadion war ausverkauft. Es war das Spiel, bei dem Udo Scholz das neue Mannschaftsaufstellungsritual einführte, und es war ein ausgenommen freundlicher Frühlingstag. Ich fuhr mit zwei Schulfreunden, beide Bayern-Fans, einer davon sogar aus München stammend, und einem der dazugehörigen Väter mit. Dass die Bayern-Fans an Karten für Block 7 gekommen waren, zeigt, wie wenig Dauerkarten zur damaligen Zeit noch verkauft wurden. Gespannt war ich, wie die wild wirkende Westkurve mit den Außenseitern umspringen würde. Zu meiner Überraschung musste ich 15 Spielminuten, nachdem eine in der Pfalz lebende bayrische Nonne den Anstoß ausgeführt hatte, feststellen: relativ humorvoll. Norbert Nachtweih hatte einen Freistoß zum 0:1 verwandelt, und meine Schulkameraden hatten als einzige Besucher der Westtribüne hemmungslos gejubelt. (Wie sehr hatten sie dieses arrogante bajuwarische Selbstverständnis verinnerlicht. „Mir sann mir“, vergleichbar der eingebauten Vorfahrt eines Mercedes. Dass sie sich nicht schämten, ihren schlechten Geschmack so offenzulegen …) Die schweigenden Fans um uns herum ließen sich nur ein bittersüßes Grinsen entlocken, das aber um so breiter wurde, als Axel Roos nur eine Minute später von halbrechts den Ausgleich erzielte. Was waren meine Freunde überrascht, dass Kaiserslautern so rasch gegen die „Mir-sann-mir-Bayern“ zurückschlug. Und was staunten sie über den Stimmungsorkan, das rot-weiß-rote Fahnenmeer, die Choräle („Oleee Effzeekaaaha …“) und den Siegesoptimismus, den plötzlich alle wieder ausstrahlten. Entsprach es überhaupt ihrer Vorstellungskraft, dass hier keiner Angst vor den Bayern hatte? Merkten sie nicht, dass sie ihre Fußballliebe für eine Idiotie hergaben, anstatt sich auf die Seite der bodenständigen Guten zu schlagen?

Lange Jahre stellte ich mir die Frage, was einen Menschen dazu antreibt, Anhänger des FC Bayern München zu werden. Genau genommen habe ich bis heute noch keine abschließende Antwort auf die Frage gefunden. Es ist mir weiterhin ein Rätsel, wie die beiden schier Lichtjahre voneinander entfernten Welten der Fußballfans auf der einen und des FC Bayern auf der anderen Seite zusammenfinden konnten.

Der Grundzustand eines Fußballfans ist der des Leidens. Im Sommer leidet er, weil keine Fußballspiele stattfinden, und den Rest des Jahres über leidet er, weil seine Mannschaft verliert. Wenn er das Pech hat, zu ganz besonders schlechten Mannschaften wie z.B. dem 1. FC Saarbrücken zu halten, ist die Gefahr groß, dass am Ende einer Saison noch eine extra intensive Leidenszeit dazu kommt, in welcher der Abstieg des Vereines verarbeitet werden muss. Doch für jeden Fußballfan, auch für die des 1. FC Saarbrücken, gibt es Möglichkeiten, das Leiden zu kompensieren. Man kann sich ins Stadion stellen, nach Gegentoren fluchen und dann wie ein Wahnsinniger wieder seine Mannschaft anfeuern. („Heja, heja FCK!“, „Kämpfen, Lautern, kämpfen!“, „Kai-serslau-tern!“) Zuweilen entlädt sich der unerträgliche Leidensdruck in unsagbaren Jubelorgien, wenn doch noch das rettende Tor gefallen, der todbringende Elfmeter gehalten, der Abstieg vermieden wurde. Nirgendwo lässt sich der Spruch „Totgesagte leben länger“ besser nachempfinden als in den Fankurven instabiler Vereine. Wie oft habe ich den Triumph miterleben können, mit dem 1. FCK aus den Tiefen der Abgeschriebenheit emporzuschnellen und Kurs auf den rettenden Heimathafen zu nehmen. („Der FCK! Der FCK! Der FCK ist wieder da! Der FCK ist wieder daahaa! Der FCK ist wieder da!“ Oder, ebenfalls zur Melodie von „Oh when the Saints“ beim 5:0 über Nürnberg im Frühjahr 2003: „Wir bleiben drin! Wir bleiben drin! Wir bleiben drin und ihr steigt ab! Wir bleiben drin und ihr steigt aaahaab! Wir bleiben drin und ihr steigt ab!“) Das sind nicht mehr erwartete Triumphe. Laute, lustvolle, lebensbejahende Lieder leidgeprüfter Leute. Es sind die Momente, die das Fandasein lebenswert machen und die für den ganzen Grottenmist, den sich ein Verein wie der 1. FC Kaiserslautern im Laufe einer Saison zusammenspielen kann, entschädigen.

Diese Momente kennt ein Fan des FC Bayern München nicht. Jeder Fußballinteressierte in Deutschland weiß, dass der FC Bayern München die stärkste Fußballmannschaft unterhält. Jeder Fan weiß, dass Bayern das meiste Geld hat – ohne Zweifel ein Ergebnis der Arbeit professioneller Verantwortungsträger –, und jeder hält es Jahr für Jahr für äußerst wahrscheinlich, dass der FC Bayern München wieder die Meisterschale erringen wird. Trotz all dieser Gewissheiten gibt es Menschen, die es mit Glückseligkeit erfüllt, wenn die Titel wieder an die Säbener Straße gewandert sind. Der Normalbürger nimmt es hin, wie er das planmäßige Einlaufen eines Zuges in den Bahnhof hinnehmen würde – der Bayern-Fan dagegen ertrinkt in Freudentränen. Es soll sogar Radioreporter geben, die beim Heimspiel der Bayern gegen den Tabellenletzten dermaßen enthusiastisch „Tor in München“ ins Mikrophon brüllen, dass nur der freche Außenseiter in Führung gegangen sein kann – gemeint war aber ein Bayern-Tor. Woher kommt dieser Bayern-Virus? Warum freuen sich Menschen über das Erwartungsgemäße auf die gleiche Art, wie ein Underdog-Fanatiker sich über den Aufstieg seiner Mannschaft freut? Ist es überhaupt die gleiche Art?

Was mich, seit ich kein kleines Kind mehr bin, überkommt, wenn ich von einem Mitmenschen erfahre, dass er Bayern-Fan ist, ist eine grenzenlose Portion Mitleid. Vielleicht übertreibe ich noch nicht einmal, wenn ich ein solches Outing in seiner Schwere mit Bekenntnissen wie „Ich habe meinen Penis verlängern lassen“, „Ich bin Hobbyjäger“ oder „Ich mag Michael Schumacher“ vergleiche. Das Kuriose daran ist, dass es manchmal sogar nette, intelligente Gesprächspartner betrifft, die sich, wenn das Thema Fußball angeschnitten wird, auf einmal auf so eklatante Art und Weise als emotionale Volltrottel zu erkennen geben. Dabei hat ein Bayern-Fan intellektuell gesehen natürlich die absolut richtige Entscheidung getroffen. Wer zu Bayern hält, hat statistisch die meisten Erfolgserlebnisse und am wenigsten Grund, zerknirscht durchs Leben zu gehen. Aus der Bahn werfen können ihn nur Vizemeisterschaften (wenn der Rest der Liga lacht) und in letzter Sekunde vergeigte Champions-League-Finals (wenn der Rest der Republik so tut, als leide er mit). Aber in der Regel darf der Bayern-Fan laut jubeln und genüsslich in seine Weißwurst beißen. Die Frage ist nur: Wenn ich mir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Misserfolge ersparen will, warum werde ich dann überhaupt Fußballfan? Warum glaube ich, der Verein, der sowieso immer und alles gewinnt, sei auf mein Geklatsche und Gejohle angewiesen? Und warum habe ich es nötig, mich mit den Orden der erfolgreichsten Fußballer des Landes zu behängen? Komplexe gibt es natürlich überall, und gewiss ist nicht nur die Bayern-Kurve ein Ort, in der man diese besonders gut ausleben kann. Aber mit ein bisschen mehr erzieherischem Einfühlungsvermögen in der frühen Kindheit hätte man manch einen, der sich heute mit Uli Hoeneß freut, durchaus vor diesem traurigen Schicksal bewahren können.

Im März 1989 schossen weder die Bayern noch mein 1. FCK ein weiteres Tor. Das 1:1, ein Spiel, bei dem wir ausnahmsweise weiße Hosen zu den roten Trikots getragen hatten, konnte man summa summarum als Achtungserfolg werten. Bei meinen Freunden, die selbstverständlich mit einem klaren Bayern-Sieg gerechnet hatten, hielt sich die Enttäuschung ebenfalls in Grenzen, denn die Münchner steuerten souverän der Deutschen Meisterschaft entgegen. Am Ende der Spielzeit sollte es durch einen niveauarme Provokationen proklamierenden Kölner Trainer zwar noch einmal interessant werden, doch auch die hitzigste aller ZDF-Sportstudio-Diskussionen mit Bernd Heller, Uli Hoeneß, Jupp Heynckes, Udo Lattek und Christoph Daum („Jede Schlaftablette ist spannender als ein Gespräch mit Jupp Heynckes“) vermochte die Wende im Titel-Zweikampf nicht mehr herbeizuführen.

Nach dem Spiel war mir endgültig klar, dass der FCK mit mir in seiner Nähe nicht mehr verlieren würde. Mit dieser fast religiöse Dimensionen annehmenden Gewissheit trat ich den Rückweg an und kam gerade rechtzeitig zur Taufe meines Neffen, bei der ich unter einer schwarzen Stoffjacke verborgen mein FCK-Trikot trug. Dass der Täufling es heute mit Borussia Dortmund hält, konnte mein listiger Versuch der unterschwelligen Einflussnahme leider nicht verhindern. Ohne ihm zu nahe treten zu wollen, kann ich meinen Neffen aber auch nicht als Fan bezeichnen. Zumindest nicht als richtigen, denn seine Art der Vereinstreue geht kaum über die eines Sympathisanten heraus und erreicht eindeutig nicht das pathologische Niveau, auf dem ich mich zuweilen bewege. An anderer Stelle sagte ich bereits, dass ich Menschen beneide, deren Gefühle den Fußball betreffend sich im gesunden Rahmen halten, und die Gelassenheit meines Neffen gehört in diesem Zusammenhang ganz sicher zu den hervorzuhebenden Charakterzügen. Ob seine Persönlichkeit dafür in anderen Aspekten Schwächen aufweist, vermag ich weder zu bestätigen noch zu dementieren – glauben will ich es jedenfalls nicht.

Die Intervalle wurden kürzer. Beim nächsten Heimspiel war ich schon wieder da. Diesmal mit meinem Vater und zwei Jungen aus der Nachbarschaft. Es muss der 1. April 1989 gewesen sein, als wir, wohl auch begünstigt durch die peinliche 0:2-Auswärtsniederlage bei den Stuttgarter Kickers, ohne Angst, vor verschlossenen Stadiontoren zu landen, den Weg nach Kaiserslautern antraten. In der Tat sollte das Spiel gegen den FC St. Pauli vor der geringsten Zuschauerzahl stattfinden, die ich bis heute bei einem Erstligaspiel auf dem Betzenberg erlebt habe. Nicht einmal 17.000 Menschen säumten die Ränge. Wir standen in Block 6, was mich angenehm überraschte, da ich von meinem Vater nicht erwartet hätte, dass er sich für die Westkurve hergeben würde. (Wahrscheinlich wollte er mit seiner Platzwahl Rücksicht auf die Geldbörsen seiner jugendlichen Mitfahrer nehmen, aber rein wirtschaftlich betrachtet hätte es dann auch die Osttribüne getan.)

Das Spiel war, wie man in der allgemein gebräuchlichen Reportersprache zu sagen pflegt, richtungsweisend, denn der Abstand zu den Abstiegsrängen war bedrohlich zusammengeschrumpft. Inzwischen war klar, dass Trainer Sepp Stabel in der kommenden Saison für Gerd Roggensack weichen musste, und manch einer befürchtete durch diese frühe Festlegung einen Einbruch.

Für einen der beiden Nachbarsjungen, Morten Pitz, war es der Tag der Stadionpremiere. Ich weiß nicht, ob er sich vorher ernsthaft für Fußball interessiert hatte. Morten war ein eher unsteter Zeitgenosse, ein mäßig sportlicher dünner Hering, der im kommenden Jahr seinen Hauptschulabschluss machen wollte. Im Allgemeinen unternahm ich mit ihm und ein paar anderen Freunden Fahrradtouren, mit Vorliebe durch den in unserer Gegend dicht wachsenden Wald. Oft fuhren wir zu einer einsamen Eisenbahnbrücke, in deren Unterbau wir es uns gefährlich gemütlich machten und erste, heimliche Biere tranken, während die Regionalzüge mit lautem Getöse über unsere Köpfe hinwegdonnerten. Morten war ein Mensch, dessen Begeisterung für eine Idee analog zum Grad ihrer Verrücktheit zunahm. Im Gegensatz zu Jonas Gutmann, der als realitätsbezogener Zauderer immer das Hätte, Wenn und Aber parat hatte – Jonas war Bayern-Fan. Trotzdem ließ er sich einmal nach langem Sträuben von Morten (dem offiziellen Anstifter) und mir (dem unentdeckten Ideengeber) dazu überreden, sich mit uns gemeinsam im Wald aller Kleider zu entledigen und einen guten Kilometer nackt auf dem Fahrrad zurückzulegen. Jonas ängstliche Frage, was wir tun würden, wenn uns jemand entgegenkäme, konterten wir mit der Antwort „freundlich grüßen und weiterfahren“. Wir begeisterten uns für das Absurde, für die Konfrontation der normalen Menschen mit dem Unnormalen. Ohne Zweifel hatte Morten Potenzial für die Westkurve. Sie war in seinen Augen das „etwas Andere“, das ihm in seiner jugendlichen Existenzkrise Orientierung verlieh. Am 1. April 1989 verliebte sich Morten zwar nicht in den Fußball, doch er entdeckte seine Leidenschaft für die Betzenberg-Atmosphäre und verschrieb seine Seele für die nächsten zwei Jahre dem Teufel persönlich: Gerry Ehrmann.

Die eigenartige Stimmung beim St.-Pauli-Spiel habe ich besser und eindrucksvoller in Erinnerung als den Lärm, den die mehr als doppelt so vielen Menschen 14 Tage zuvor gegen die Bayern veranstaltet hatten. Diese Erfahrung war, wie mir mein späteres Fanleben zeigte, nicht ungewöhnlich. Die Frage, ob eine Masse explodierte, hing weniger von deren Größe ab als vielmehr von den äußeren Umständen und der durch diese beeinflussten inneren Verfassung der Anwesenden. St. Pauli galt als frecher Aufsteiger, war das „Freudenhaus der Liga“, und die 17.000 Lauterer wollten zeigen, dass der Betzenberg so etwas Ähnliches war. Oder besser: dass er etwas Höherwertigeres, Dauerhafteres war und dass der Betzenberg-Besucher ältere Rechte am hohen Gut „Bundesliga-Fußball“ geltend machen konnte als der in dieser Hinsicht unbedarfte Gast von der Reeperbahn. Ich glaube nicht, dass es damals einen FCK-Fan gab, der St. Pauli nicht mochte, doch es gab erst recht keinen, der noch einmal Lust auf Abstiegskampf hatte. Das Spiel musste gewonnen werden – basta. Entsprechend wurde Kampf gefordert. Schön hatten wir von Block 6 aus das dichtstehende Stimmungszentrum im Blick, wo Arme sich synchron erhoben und harten Rufen den Takt vorgaben. Die Mannschaft tat sich trotz Überlegenheit schwer, und ein Pfeifkonzert zur Halbzeit war die Folge. (Ich hatte den Eindruck, dass die Pfiffe eine Art Routine darstellten und eher den Spielstand kritisierten als das erkennbare Bemühen der Mannschaft.)

Im zweiten Durchgang wurde auf die Westtribüne zugespielt. Es kam zu ein paar Chancen, aber nicht zu Toren, so dass man zehn Minuten vor Spielende ein quälendes 0:0 befürchten musste. Die Begeisterung für den neuen Stürmer Bruno Labbadia hatte sich nach nunmehr sechs oder sieben Spielen ohne Torerfolg deutlich gelegt und war missmutigen Zuschauerkommentaren gewichen: „Der ist steif wie ein Brett!“, „Der steht immer mit dem Rücken zum Tor, wie will er da treffen?“, „Wenn ich sehe, wie der Labbadia sich dreht, krieg ich die Krise.“ Zehn Minuten vor Ende stand dieser Labbadia frei im Strafraum und wurde gefoult. (Oder trügt meine Erinnerung, und es war in Wirklichkeit Sergio Allievi? Fakt ist: Minuten vor Spielende wurde bei ausgeglichenem Spielstand in chancenarmem Spiel direkt vor den Augen der FCK-Fans ein Lauterer Spieler im Strafraum umgesäbelt. Zweifelsfrei und für jedermann zu erkennen.) Und der Schiedsrichter? Versagte den Elfmeter! Zum ersten Mal in meinem kurzen Stadionleben sah ich die Westtribüne außer Rand und Band! Es wurde nicht gepfiffen, es wurde ohrenbetäubend gepfiffen! „Schieber!-Schieber!“-Rufe brandeten auf und wurden durchmengt von düsteren Gesängen über die „Schwarze Sau“. (Ein Grund eventuell dafür, dass die Schiedsrichterkleidung irgendwann auf grün, gelb und rot erweitert wurde, denn „Grüne Sau“ kam emotional aufgeladenen Menschen seltener in den Sinn.) Spieler hoben lamentierend die Arme, doch der Gegenzug des FC St. Pauli lief ungebremst Richtung Lauterer Tor. Und nun gab der Schiedsrichter Elfmeter! (Aus Angst, als „Heimschiedsrichter“ zu gelten, scheuten es viele Unparteiische, in unklaren Situationen Entscheidungen für Kaiserslautern zu treffen. Aber innerhalb einer Minute zweimal krass gegen die Roten Teufel zu pfeifen, das hatte schon etwas Verwegenes …)

War die Westtribüne eben noch auf 180, so war sie nun auf 280! Mit ihr das ganze Stadion, die Spieler eingeschlossen, die nun eine Traube um den Referee bildeten. Es kam zu Handgreiflichkeiten unter den Profis, und aus deren wütender Mitte ragte jener Muskelmann heraus, der immer dort zu finden war, wo es nach Ärger roch: Gerry Ehrmann. Ich weiß nicht mehr, ob die Schiedsrichterentscheidung richtig oder falsch war, aber ich weiß, dass es Minuten dauerte, ehe sich ein St.-Pauli-Spieler den Ball auf den Punkt legen konnte. Und bevor er anlief, kam, den abermaligen Aufschrei der aufgeheizten Masse provozierend, Gerry Ehrmann noch einmal zum Schützen gelaufen und sprach ihm ein paar freundliche Worte ins Ohr. Erst dann zog er sich auf die Linie zurück, begleitet von ohrenbetäubenden „Ehrmann-Ehrmann“-Rufen, (die Kuckucksterz, die jeder Fan im Schlaf beherrscht). Zu schrillsten Pfiffen lief der Gegner an, und infernalischer Lärm trat an ihre Stelle, nachdem Ehrmann gehalten hatte! Der Ball war platziert geschossen, doch der „Tarzan“ hatte ihn mit einem katzenhaften Sprung entschärft („Eeeehrmann!“, „Eeeehrmann!“ „Eeeehrmann!“). Morten und ich klatschten uns gegenseitig die Hände heiß und gerieten in Ekstase, als Bruno Labbadia wiederum im unmittelbaren Gegenzug sein erstes Tor für den 1. FC Kaiserslautern erzielte und danach fast den Zaun zur Westtribüne abriss! Der Betze bebte!!! Die Kurve beruhigte sich bis zum Spielende nicht mehr. Fahnen wehten, Arme wogten, Gesänge wollten kein Ende mehr nehmen. Es fiel mir auf, dass an verschiedenen Stellen in der Kurve zeitgleich verschiedene Lieder angestimmt wurden. Im Triumph ging die Einheit verloren, spaltete sich in ein Mosaik aus wogenden Armen, klatschenden Händen, wedelnden Schals, das sich irgendwann aber wieder zum überragenden Ganzen aus Lied und Gestik zusammenfand. Das später von Tony Marschall zu Geld gemachte „Oleee, Oleee, Oleee, Oleee“ wirkte mit einer zweiten, in tieferem Moll gehaltenen Strophe und ohne den albernen „Wir sind die Champions“-Halbsatz wie das Kampflied einer Seeräuberbesatzung. Und die Totenkopf-Flagge wehte nicht nur beim FC St. Pauli …

Nie im Leben hätte ich gedacht, dass der Nachmittag im Fritz-Walter-Stadion meinen Freund Morten dermaßen aus der Bahn werfen würde. Ihm fehlte einfach das Gerüst aus Sporthistorie und Tabellenfakten, in die er die Betzenberg-Eruption hätte einordnen können. Natürlich begriff er, dass der FCK das Spiel gewonnen hatte, doch er konnte überhaupt nicht verstanden haben, was es bedeutete, nun dank günstiger Ergebnisse der Konkurrenz statt Abstiegskampf auf einmal den UEFA-Cup in greifbare Nähe rücken zu sehen. Er konnte es nicht verstehen, weil diese Dinge eben keine objektive Bedeutung besitzen, sondern nur den Menschen betreffen, der mit ihnen seit Kindesbeinen verwachsen ist. Für Morten gab es bloß eine laute, identitätsstiftende Masse und ein neues Vorbild auf dem Weg zum Manne. In den Folgewochen tat er alles, was er tat, „für Gerry Ehrmann“. Insbesondere handelte es sich dabei um körperliche Anstrengungen oder kleine Mutproben, und es war interessant zu sehen, was ein schmächtiger Junge allein durch den Gedanken an einen austrainierten Muskelprotz aus seinem Körper herausholen konnte. Während einer unserer querfeldein führenden Radtouren sagte er einmal beim Anblick eines stehen gebliebenen Baumstumpfes: „Ich fahre jetzt über diese Wurzel – für Gerry Ehrmann!“ Als er es tat, überschlug sich sein Bonanzarad, und er stürzte so unglücklich kopfüber, dass ich mir sicher war, er habe sich das Genick gebrochen.

In den Sekunden, in denen Jonas und ich panisch losliefen, um einen Notarzt herbeizurufen, plagten mich tiefe Schuldgefühle. Ich hatte den Tod eines Menschen verursacht, weil ich ihn in eine Welt eingeführt hatte, in die er nicht hineingehörte. Was musste er, der sich überhaupt nicht für den Fußball interessiert hatte, auch in ein Stadion mitgeschleppt werden? Wie leicht hätte sich dieser idiotische Gerry-Ehrmann-Spleen vermeiden lassen. Ich haderte, während ich durch das Unterholz stolperte, und nahm kaum wahr, dass Morten uns zurückrief. Die Aktion hatte schlimmer ausgesehen, als sie war, denn Morten war durch den harten Aufprall bloß für einen Moment die Luft weggeblieben. Der Schrecken hatte dennoch ausgereicht, um ihn für die nächste Zeit von waghalsigen Gerry-Ehrmann-Gedächtnis-Stunts abzuhalten.

Für mich war ohnehin der stets sanfte und faire Ronnie Hellström das größere Vorbild gewesen. Zehn Bundesligajahre als Stammkeeper, ohne eine einzige gelbe Karte gesehen zu haben, und trotzdem absolute Weltklasse. Ronnie war einfach eine Nummer größer als die späteren Kahns und Lehmanns und wie sie sonst noch heißen mochten.

Das Leben ist ein Fußballspiel

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