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II. Annäherung an den Betze

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Der 1. FC Kaiserslautern meiner frühesten bewussten Erinnerungen war eine erfolgreiche Mannschaft, und beinahe schäme ich mich heute dafür, meine erste Liebe in solch guten Zeiten kennengelernt zu haben, was den bitteren Beigeschmack eines „Modefans“ aufkommen lässt, wie sie Bayern München, oder wer auch immer sonst gerade vorne ist, zu Hunderttausenden hat. Gottlob wurden die Zeiten nach dem ersten Abtritt Kalli Feldkamps bald schlechter, so dass ich gestählt durch die drei Jahre der nun folgenden Abstiegskämpfe den Silberstreif am Horizont, den die Saison 1986/87 mit sich brachte, schon zu schätzen wusste.

Es spielten außer Wolfram Wuttke, der charakterlich ein bisschen an Matti Nykänen erinnerte, keine Stars, doch die mittels leerer Vereinskassen rekrutierten Nobodys Harald Kohr und Sergio Allievi schlugen ein, und der junge Ex-Spieler Hannes Bongartz ließ seine noch viel jüngere Mannschaft zur Überraschung aller Experten erfrischenden Offensivfußball spielen.

In diesem Herbst 1986 deutete mein Vater an, am letzten Oktoberabend könne man ja einmal den umgebauten Betzenberg besuchen. Da gastiere Schalke 04, was in freitäglicher Flutlichtatmosphäre gewiss ganz reizvoll werden könne. Ich kann nicht sagen, dass mich diese Ankündigung in helle Aufregung versetzte. Meine Liebe zum Fußball spielte sich in erster Linie tief in mir drinnen ab und verlangte nicht nach dem lauten Getöse eines Stadions, von dem ich vermutete, genauso abgeschreckt zu werden wie von allem anderen, was laut war – seien es nun Sirenen, Platzpatronen oder bellende Hunde. Zudem wusste ich seit der Tragödie im Heysel-Stadion ein Jahr zuvor, dass der Besuch eines Stadions zur tödlichen Gefahr werden konnte, und den Tod wollte ich nicht herausfordern. Im Gegenteil war es mir schon in jungen Jahren ein Anliegen, mein Leben in größtmöglicher Sicherheit zu verbringen – Medienberichte über atomare Waffenarsenale und todbringende Seuchen beeinträchtigten mein Wohlbefinden bereits genug.

Warum wir an jenem Abend dann doch nicht ins Fritz-Walter-Stadion gezogen sind, weiß ich heute nicht mehr genau. Es lag jedenfalls nicht an diesen unausgesprochenen Ängsten meinerseits. Wohl eher an der Tatsache, dass mein Großvater, der in der Nähe von Kaiserslautern wohnte, an diesem Wochenende Geburtstag hatte.

Jedenfalls ärgerte ich mich anschließend, den 5:1-Triumph auf berstend vollem Betzenberg nicht live mitverfolgt zu haben. Alle fünf Tore hatte der Ex-Schalker Frank Hartmann geschossen, anscheinend besonders motiviert durch ein Transparent am Schalker Block mit der Aufschrift „Hartmann verrecke!“. Ich fragte mich damals, wie böse Fußballfans sein mussten, um solche Sprüche zu benutzen, und tröstete mich ein wenig mit dem halbherzigen Gedanken, dass wohl nur die Schalker Fans zu solchen Brutalitäten in der Lage waren. Gott sei Dank hatte ihnen Frank Hartmann das Maul gestopft und meinem reinen, guten, edlen FCK zum glorreichen Sieg über die Mächte der Finsternis verholfen.

Nach diesem Spiel nahm ich die gedrängt stehenden, fahnenschwenkenden Massen in der Fernsehberichterstattung ein wenig intensiver wahr als sonst, denn ich wusste, ein kleiner Punkt in dieser Menge hätte mein Kopf sein können.

Den nächsten Schritt zur Annäherung an den Betzenberg tat ich ein halbes Jahr später, als der 1. FCK im letzten Spiel der Saison den HSV empfing und mit einer sang- und klanglosen 0:4-Niederlage seine zwischenzeitlich überraschend gute UEFA-Cup-Chance verspielte. (Gut acht Jahre später sollte der damalige HSV-Keeper Uli Stein Bestechungsvorwürfe gegen Hannes Bongartz erheben, der vor jenem Spiel gefragt haben soll, was Uli für ein entscheidendes Gegentor verlangen würde.) Ich verfolgte die Begegnung bei meinen nur mäßig fußballinteressierten Großeltern am Radio, war enttäuscht und am Ende dennoch ein wenig stolz auf meine Mannschaft, die eine Saison, in die sie als Abstiegskandidat gestartet war, auf einem nie erwarteten siebten Rang beendet hatte.

Der 1. FC Kaiserslautern hatte mit seinen jungen, großteils aus der Region stammenden Spielern (z.B. Hans-Werner Moser, Axel Roos und Markus Schupp in den ersten Zügen ihrer Karriere) nach Jahren des Frustes wieder Massen ins Fritz-Walter-Stadion gelockt, und in den Medien war damals immer wieder von den „fantastischen Fans“ und dem „zwölften Mann“ die Rede. Das Publikum applaudierte denn auch nach der Niederlage gegen den HSV nicht zu knapp, was in der Öffentlichkeit besonders hervorgehoben wurde und mich nachhaltig faszinierte. Einen Tag später zeigten mir meine Großeltern den Betzenberg.

Meine Großeltern lebten, wie schon erwähnt, in der unmittelbaren Umgebung von Kaiserslautern und gehörten zu denjenigen Menschen, denen der große Fußball nicht viel bedeutete. Natürlich waren sie wie alle Kaiserslauterer geprägt vom 1. FCK, und natürlich waren sie auch stolz darauf, in der Fremde ihre Herkunft mit Hilfe des Fußballs erklären zu können. Doch abgesehen davon hatten sie nicht viel Sinn für die Mechanismen dieses Geschäftes.

Noch heute beneide ich Menschen, die von sich behaupten können, mit dem Fußball nicht viel am Hut zu haben, denn ich sehe darin, aus welchen Gründen auch immer, ein Zeichen von Charakterstärke. Zumindest bei meinen Großeltern sah ich es so. Sie entsprachen dem Bild der kleinen, braven Leute aus der Wirtschaftswunderzeit, taten ihre Arbeit, waren zufrieden mit dem, was sie hatten, wählten SPD (Großvater pflegte zu sagen, die SPD sei die einzige Partei gewesen, die sich nach dem Kriege nicht habe umbenennen müssen) und brachten sich in das gesellige Leben ihres Dorfes ein. Großmutter liebte es, in ihrer beschaulichen Umgebung selbst verfasste Gedichte vorzutragen, Bilder auszustellen, und schreckte gar vor dem Halten von Büttenreden nicht zurück. Eigentümlich an ihr war das augenscheinliche Fehlen jeglicher Selbstzweifel, gestärkt durch die ungebrochene Unterstützung ihres Mannes und gefestigt durch die Erfahrung, für ihr Tun allerorten gelobt worden zu sein. Fußballerisch formuliert war meine Großmutter ein talentiertes Eigengewächs, das nie den Heimatverein verließ und deswegen auch nie die Erfahrung machen musste, anderswo bei den großen Klubs nur noch eine von vielen zu sein. Andererseits schaffte sie durch ihr Verharren im Bekannten auch nie den ganz großen Durchbruch, sondern beschied sich mit den kleinen Freuden ihres kleinen Lebens. Ich denke, ich tue meinen Großeltern, die ich zeitlebens sehr mochte, nicht Unrecht, wenn ich behaupte, sie seien stolz darauf gewesen, nichts Besonderes zu sein.

Wie sehr muss sie allerdings der Kult befremdet haben, der gerade in ihrer ländlichen, normalen Welt, die sie so liebten, um den 1. FC Kaiserslautern mit seinen hochbezahlten Leistungssportlern betrieben wurde. Selbst im heimeligen „Pfälzerwaldverein“, einer Schar wandernder Senioren, gab es Mitglieder, die mit Inbrunst von ihren Erlebnissen in der „Weschtkurv“ erzählten – viel mehr als die Gemeinsamkeit des Wanderns teilten meine Großeltern mit diesen Bekanntschaften nicht. Dabei waren es für sie ja nicht nur die aktuellen Fußball-Millionäre, die den Blick für die Realität verloren hatten. Nein, auch Fritz Walter, der große alte Fritz – das Symbol für kameradschaftlichen Kaiserslauterer Kampfsport – habe, so erwähnte mein Großvater gern, als Jugendlicher nie gegrüßt. Genauso wenig sein Bruder Ottmar, obwohl es doch ihre Pflicht gewesen wäre, schließlich war Großvater Jahrgang 1915 und Fritz, der ältere Walter-Bruder, Jahrgang 1920. Und mit dessen gut gemeinten Fernsehauftritten ging Großvater ähnlich hart ins Gericht wie mit den Neujahrsansprachen Helmut Kohls: „Ach, Fritz …“

Trotzdem zeigten sie mir am Tag nach der 0:4-Heimpleite gegen den HSV den Betzenberg, dem man zwei Jahre zuvor den Namen Fritz-Walter-Stadion gegeben hatte, was damals, als hätte die Umbenennung einen Fluch ausgelöst, eine Serie von Heimpleiten nach sich gezogen hatte. Meine Großeltern zeigten mir den Betzenberg ohne äußeren Anlass, ohne mein Drängen und ohne dafür gelobt werden zu wollen. Großvater fuhr schlicht und einfach eine Runde mit seinem Auto außen herum und ließ mich von der Rückbank aus sehen und staunen. Er besaß damals einen zehn Jahre alten, blaumetallicfarbenen Audi 80, an dessen Heck der mahnende Aufkleber „Tschernobyl 1500 Kilometer – Cattenom 150 Kilometer“ prangte. Ursprünglich hieß es „Cattenom 50 Kilometer“, was Großvater aber so nicht stehen lassen konnte, da die Saarbrücker Verhältnisse in Kaiserslautern nicht galten. Was ich sah, war überraschend viel Beton (hätte ich etwas mehr Bezug zu den Realitäten des Daseins aufgewiesen, hätte mich das nicht überraschen dürfen) und – insbesondere hinter einer der vier Tribünen – eine Unmenge an zu Boden geworfenen Plastikbechern. Diese Art der Müllentsorgung kommentierte Großmutter mit dem gleichsam abwertenden wie triumphierenden, weil „Ich-hab’s-gewusst“-meinenden Wort „Rowdys“, was in mir eine tiefe Scham auslöste.

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