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Prolog Warum zum Teufel Kaiserslautern?

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Manche Leute, die mich kennen, meinen, Fußball passe nicht zu mir. Mir ist nicht klar, ob diese Fehleinschätzung eher darin begründet ist, dass diese Leute die dunklen Seiten meiner unerhört feinsinnigen und schöngeistigen Persönlichkeit nicht wahrnehmen wollen, oder ob sie einfach nur keine Ahnung von Fußball haben.

Ich meine nicht unbedingt von Fußball als Sport, denn der Sport, der sich Fußball nennt, und die Philosophie, die Religion, der Mythos – das sind nicht unbedingt Dinge, die viel miteinander zu tun haben, wenngleich sie einander nicht zwangsläufig ausschließen. Wer beispielsweise den Fernseher einschaltet, um ein gutes Spiel zu sehen oder aus ähnlich zweifelhaften Gründen sogar ins Stadion pilgert und 40 Euro für seinen Sitzplatz hinlegt, nur um das Aufeinanderprallen zweier taktischer Systeme zu analysieren, dem kann man durchaus ein aufrichtiges Interesse am Fußballsport unterstellen. Aber ob er nur einen Funken an echtem Verständnis für die Wucht der emotionalen Wogen, für die Schwingungen des Schicksals aufbringt, die damit einhergehen? Manch einem dieser Fußballfachleute bleibt das Wesen des Spiels für immer verborgen, was hier ohne Mitleid zu konstatieren ist, denn es muss nicht unbedingt von Vorteil sein, sich dem Wesen einer Sache von Angesicht zu Angesicht zu nähern.

Die Menschen jedenfalls, die den „groben“ Fußball nicht mit meinem „filigranen“ Wesen zusammenbringen möchten, gehören wohl weniger zu diesen sportinteressierten Systemanalytikern als vielmehr zu den Menschen, die in Quizshows mit einem Hauch von bildungsbürgerlichem Stolz in der Stimme zugeben, dass sie vor der Fußballfrage am meisten Angst hätten. Sie halten mich, sofern ich mir Mühe gegeben habe, in der Regel für einfühlsam und sensibel und den Fußball für das Opium derjenigen sozialen Schicht, die weder die Rechtschreibung beherrscht noch arbeitet noch in ganzen Sätzen kommuniziert. Dass der Fußball in den letzten Jahren gesellschaftsfähig geworden ist – man mag es mit einer allgemeinen Dekadenz abtun –, hat dazu geführt, dass auch solche Exemplare sich mal in ein Stadion verirren, aber nur selten an diejenigen Stellen in der Arena, in denen man der Wahrheit am nächsten kommt, in die Fankurven nämlich.

Bevor es hier zu soziologisch wird, sollte ich mit der Wahrheit herausrücken: Ich bin, seit ich denken kann, für Kaiserslautern! Dieses Outing mag nicht nur die Intellektuellen irritieren, es macht einem auch in Fußballerkreisen nicht unbedingt Freunde. Interessanterweise gelten nämlich gerade die FCK-Fans als ausgesprochen dumm. Erklären könnte man dies entweder mit der Theorie, dass die Anhänger der Roten Teufel wirklich dümmer sind als die von Mönchengladbach, Dortmund oder Bayern München. Oder aber die Meinung resultiert aus dem verbreiteten Muster, dass Menschen ihr Selbstbewusstsein häufig aus der Anzahl der Mitmenschen beziehen, die mit ihnen dieselbe Stadt bevölkern – Kaiserslautern hat davon relativ wenig, und um Kaiserslautern herum wächst der Pfälzerwald. Dass der von Wald- und Weinbauern abstammende „Provinzpöbel“ in seinem stumpfsinnigen, von Dorfkneipe und Ackerfurche geprägten Alltag nichts anderes im Sinn haben könne als pausenlos über „Betze“ und „Westkurve“ zu debattieren (wenn er nicht gerade abgelenkt ist, weil er Fußball schaut oder sich kurzfristig seinen inzestuösen Neigungen hingibt), liegt für die Anhänger der Großstadtklubs auf der Hand. Es nährt in ihnen das wohltuende Bewusstsein, dass es anderswo andere gibt, deren ödes Leben noch weniger wert sein muss als das eigene.

Warum also gerade Kaiserslautern? Wäre ich in der Lage, darauf eine ernstzunehmende Antwort zu geben, wäre ich kein Fußballfan. Freilich könnte ich vorbringen, dass meine Mutter aus einem Vorort von Kaiserslautern stammt, dass ich also den Betzenberg mit der Muttermilch aufgesogen hätte. Aber erstens wurde ich, sofern ich den Berichten glauben darf, nicht gestillt, und zweitens ließ sich meine Mutter zu keiner Sekunde ihres Lebens auch nur das geringste Interesse an Fußball anmerken. Bestenfalls hat mir diese Verwandtschaftslinie mit ihren pfälzischen Familienfesten ein Gespür dafür gegeben, wie präsent der 1. FC Kaiserslautern in seinem Umland ist und was er für die Menschen in dieser Gegend bedeutet. Ein Mannschaftsfoto von Briegel & Co. hing in beinahe jeder Gaststätte, huldvoll den Trinker an der Theke bewachend und an den über der Stadt pulsierenden Tempel der ländlichen Leidenschaften erinnernd. Auch habe ich durch meine mütterliche Verwandtschaft den hiesigen Dialekt kennen und lieben gelernt, was mir später in der Westkurve sofort ein Gefühl des Heimischseins vermitteln sollte. Über meinen Vater, einen geschichtskundigen Hunsrücker, lässt sich der Fanatismus, dem ich in manchen Lebensphasen ohne jegliches Gegenkonzept ausgeliefert war, ebenfalls nicht erklären. Ich bin mir zwar sicher, dass in ihm einmal ein großer Kaiserslautern-Fan steckte, doch wusste er es meistens hinter Kriterien der Fairness und des Anstands zu verbergen – sehen wir einmal von seiner Reaktion beim Pokalfinale 1990 ab, als er nach dem 3:0 von Stefan Kuntz die Arme spontan nach oben riss und sich dabei an einem hölzernen Hängeregal verletzte. (Ähnlich emotional erlebte ich ihn – im negativen Sinne – nur nach der Spuckattacke Frank Rijkaards gegen Rudi Völler im WM-Achtelfinale des gleichen Jahres.) Immerhin war es mein Vater, der mich, ohne dass ich ihn danach gedrängt oder auch nur einmal zaghaft danach gefragt hatte, zum ersten Mal mit ins Stadion nahm. Doch auch dies konnte kaum der Anstoß zu meiner rot-weißen Besessenheit gewesen sein, im Gegenteil, das Erlebnis war eher negativ, vermochte aber das Kind, das bereits Jahre zuvor in den Brunnen gefallen war, nicht mehr zu retten.

Zuletzt sei gesagt, dass ich auch nicht Kaiserslautern-Fan wurde, weil es „in“ gewesen wäre („in“ waren Bayern, Hamburg und Mönchengladbach) oder weil die Mannschaft Titel in Serie gewann – genau genommen gewann sie in den frühesten Fragmenten meiner Erinnerung überhaupt keine Titel, spielte aber relativ erfolgreich.

Was ich als Kleinkind fußballerisch dachte und fühlte, weiß ich nicht mehr genau. Angeblich soll ich bereits sehr früh die Worte „Foul“ und „Elfmeter“ gekonnt haben und auf das von mir selbst gesprochene Kommando „Auf die Betze, fertig, plus“ losgerannt sein, aber was Leistungssport betrifft, so stand ich in dieser infantilen Phase bestenfalls auf Formel 1 im Allgemeinen und Niki Lauda im Besonderen. (Formel 1 interessiert mich heute übrigens gar nicht mehr.) Auch den Kindergarten bringe ich heute nicht mehr mit Fußball in Verbindung, obwohl ich andererseits nicht ausschließen kann, damals bereits eine erste zarte Bande zu Kaiserslautern geknüpft zu haben.

Spekulationen tragen aber nicht zur Wahrheitsfindung bei, und da die Kindergartenphase in meinem Leben eines der dunkleren Kapitel darstellt, möchte ich darüber kein Wort mehr verlieren. Höchstens noch, dass wir im Theater „Schneeweißchen und Rosenrot“ sahen und dass wir zur Hochzeit unserer Kindergartenleiterin mit dem Bus fuhren und dort jeder eine Tafel Alpia-Schokolade geschenkt bekam. Zum Glück konnte ich Vollmilchschokolade essen, denn ich war ein äußerst sensibler Esser, schaffte erst mit zwanzig meine erste Banane und habe bis heute keine Gummibärchen, Bonbons oder Kaugummis angerührt. Außerdem schwänzte ich in jedem Jahr aus Ekel vor Kriegsbemalung und panischer Angst vor Platzpatronengeballer die Kindergartenfastnacht, wobei doch Relikte dieser Verhaltensweisen auch in der Fankultur anzutreffen sind. Vielleicht stören sie mich in Fankreisen deshalb weniger, weil sie hier keine pseudolustige Farce sind, sondern den Ernst der Angelegenheit – und Fußball ist eine ernste Angelegenheit – aufs Deutlichste unterstreichen.

Definitiv erinnern kann ich mich allerdings daran, spätestens im ersten Schuljahr ein glühender FCK-Fan gewesen zu sein. Alle anderen waren Mädchen oder für Bayern, Hamburg oder Gladbach. Oder sie waren tatsächlich Mädchen, die auf anbiedernde Weise für Bayern, Hamburg oder Gladbach waren, aber ich rannte in meinem roten T-Shirt mit dem wunderbar vollkommenen Emblem, das aus der kreisförmigen Anordnung der breitflächigen, weißen Zeichen 1, F, C und K bestand, im Sportunterricht herum und war stolz darauf.

Am Ende dieser Saison 1980/81 erreichte der 1. FCK das DFB-Pokalfinale, und dies ist nach dem Europameistertitel Deutschlands ein Jahr zuvor eine der ersten bewussten Fußballerinnerungen, die ich in meinem „unsinnigen“ Fundus abgespeichert habe. Bereits Tage vor dem Spiel war mein – durch wen auch immer – geschürtes Fieber nicht mehr zu bändigen. Das Warten überbrückte ich damit, dass ich auf einer Fläche von etwa vier Quadratmetern, das war der Teppichboden zwischen Wohnzimmertür und Balkontür, mit einem blauen Luftballon am Fuß die Finalpartie Eintracht Frankfurt gegen den 1. FC Kaiserslautern simulierte. Dabei schoss ich Tore für beide Parteien, kommentierte dies, wie ich es aus Fernsehen und Radio aufgeschnappt hatte, mit den Nachnamen der Spieler, wobei mir Hölzenbein, Cha Bum und Pezzey genau so geläufig waren wie Hellström, Bongartz oder Funkel, und achtete – als wäre es Zufall – stets darauf, dass meine Mannschaft am Ende ein Tor mehr auf ihrem Konto hatte. Warum war mir als Siebenjähriger ein Fußballspiel so wichtig? Warum „verschwendete“ ich bereits als ABC-Schütze so unendlich viel Lebenszeit und Energie mit dem Herunterbeten von Mannschaftsaufstellungen und der Konzentration auf Ereignisse, in denen nicht ich, sondern eine Schar hochbezahlter austrainierter Erwachsener konzentriert sein sollte? Waren sie meine eigenen Schachfiguren, die ich in jeder Sekunde der Partie im Auge behalten musste, um sie zum Sieg zu führen? Meine Schachkünste müssen zur damaligen Zeit noch sehr ausbaufähig gewesen sein, denn Eintracht Frankfurt gewann das Pokalfinale in einer einseitigen Begegnung mit 3:1. Besonders kurios daran war die Tatsache, dass ich nur die ersten 15 Minuten des Spiels verfolgen konnte, bis meine Mutter mir sagte, es sei nun Zeit für den Kindergottesdienst, und ich ohne ernstzunehmendes Aufbegehren das Schlachtfeld verließ, um zum Tisch des Herrn zu ziehen.

Grundsätzlich ging ich gerne in den Kindergottesdienst unserer kleinen evangelischen Gemeinde in einem katholisch dominierten Dorf an der oberen Nahe, wo man uns in vertrauter Runde Geschichten über Jesus erzählte, aus denen man lernen konnte, dass nicht immer das, was die Mehrheit für richtig hielt, auch das Richtige sein musste. Aber konnte man nicht einmal wegen eines Endspieles – und der FCK war beileibe kein Verein, der alle Tage in einem Endspiel stand, was ich freilich als Siebenjähriger noch nicht in seiner Tragweite erfasst haben konnte – auf solche Jesusgeschichten verzichten? Oder war gerade hier der pädagogisch neuralgische Punkt, an dem man seinem Sprössling zeigen musste, dass es Wichtigeres gab als Fernsehfußball? Ewige Wahrheiten gegen schnelllebiges Tagesgeschäft? Interessant allemal ist aus heutiger Sicht (ich bin mittlerweile selbst Vater und kenne viele Eltern, die bereits Zweijährige permanent fragen, ob sie nun diese oder jene Lebensannehmlichkeit lieber hätten) die Tatsache, dass es überhaupt nicht zur Debatte stand, mich zu fragen, ob ich nun lieber in den Kindergottesdienst gehen oder doch lieber das unendlich wichtige, weltbewegende Pokalfinale 1981 zwischen Eintracht Frankfurt und dem 1. FC Kaiserslautern weiterverfolgen wollte. Meine Mutter, die selbst den Kindergottesdienst leitete, kann ich nicht mehr fragen, warum sie damals kein Auge zudrückte, denn für sie gibt es natürlich überhaupt keinen Grund, sich an den Tag des Pokalfinales, den 2. Mai 1981, noch erinnern zu können. Vielleicht hat sie selbst damals nur gesehen, dass Vater und Sohn gelangweilt auf der Couch sitzend die Wartezeit bis zum Kindergottesdienstbeginn überbrückten. Kann sein, dass da noch irgendeine Sportübertragung lief …

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