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Sten Wall

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Charles Trenets »La mer« summend, steuerte Sten Wall seinen fast neuen Volvo V 40 durch Österlens sanft modellierte Landschaft. Sein alter, treuer Weggefährte – ein Opel Ascona – war im letzten Jahr nach langen, treuen Diensten dahingeschieden. Laut Carl-Henrik Dalman hatte das Auto während seiner letzten Jahre an Senilität gelitten, ein Kommentar, der Wall nicht sonderlich gefiel.

Jetzt brannte die Sonne vom Himmel, und der Kommissar war blendender Laune. Er fühlte sich ausgeschlafen, frisch wie eine Lerche und erwartungsvoll wie ein jugendlicher Liebhaber.

Er hatte sich wirklich nach diesem Urlaub gesehnt, brauchte ihn mehr als in den Jahren zuvor.

Zwei ungestörte Wochen lang wollte er so richtig ausspannen. Er hatte vor, auf alle Verpflichtungen zu pfeifen und um jede Tageszeitung einen großen Bogen zu machen. Stattdessen würde er Bücher lesen, täglich lange Spaziergänge machen und natürlich ausgiebig und gut essen und trinken.

Plötzlich hatte er das Meer direkt vor sich. Es glitzerte in den Strahlen der Morgensonne. Die Ostsee versprach eine angenehme Überfahrt, ohne Seekrankheit.

In einem Anfall von jubelndem Übermut trat er noch einmal kräftig aufs Gaspedal, bremste seine Geschwindigkeit aber ab, als er in Ystad einfuhr. Er war noch nie ein Raser gewesen. Auf der Autobahn hatte er an diesem Morgen einen Schnitt von acht, neun Stundenilometern über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit eingehalten, was dazu führte, dass er immer wieder von ungeduldigen Zeitgenossen überholt wurde.

Als er fünf Minuten lang die Überholenden gezählt hatte, war er auf vierundzwanzig Fahrzeuge gekommen, inklusive eines norwegischen Fernlasters, er hatte genau gezählt – manchmal verschwendete er seine Energie auf derartig sinnlose Ideen.

Wie immer war er mehr als rechtzeitig aufgebrochen. Das Leben war schon hektisch genug, man brauchte nicht noch selbst weitere Momente der Hektik einzubauen.

Da es noch fast zwei Stunden bis zur Abfahrt der Fähre dauerte, entschloss er sich zu einem kleinen Spaziergang durch Ystads charmant verwinkeltes Zentrum. Er fand einen Parkplatz längs der Sjömansgatan und mischte sich unter die Passanten in den Straßen und auf dem Markt. Es war nicht zu übersehen, dass die Touristensaison begonnen hatte. Um ihn herum summte es von Stimmen, Sprachen und Dialekten, und es war so voll, dass er vom Fußweg auf die Fahrbahn hinuntergedrängt wurde.

Aber niemand zeigte schlechte Laune. Nicht eine einzige Hupe ertönte.

Wall kaufte eine Eiswaffel mit drei Kugeln – Pistazie, Rumrosine und Erdbeere – in einem Kiosk in der Nähe des St. Knuts torgs. Langsam schlenderte er zurück zu seinem Parkplatz. Er aß sein Eis mit solcher Schnelligkeit auf, dass ihm für Sekunden richtiggehend kalt wurde, dann machte er sich bereit für die kurze Fahrt zum Fähranleger.

Er achtete genau darauf, die richtige Spur zu finden (er hatte keine Lust, plötzlich in Polen zu landen) und wettete mit sich selbst, welches Schiff ihn wohl nach Bornholm bringen würde.

Die Jens Kofoed oder die Poul Anker?

Er tippte auf Ersteres und bekam Recht.

Obwohl er so früh da war, war er bei weitem nicht der Erste in der Schlange, hatte aber eine gute Startposition und konnte schließlich ganz vorn auf dem Backborddeck parken und dann ohne jeden Stress das Restaurant ansteuern. Da er einer der ersten Gäste war, hatte er die Möglichkeit, zwischen den vielen freien Tischen auszuwählen. Er entschied sich für eine rauchfreie Alternative mit Fensterblick, ließ sich dort nieder und steckte die Nase in die Speisekarte.

Innerhalb der nächsten fünf Minuten war der Raum fast vollständig besetzt. Wall pries seine Voraussicht und war außerdem dankbar dafür, dass er ein ruhiges, gepflegtes Rentnerpaar als Tischnachbarn bekam. Das Risiko, während der zweieinhalb Stunden langen Überfahrt ermüdende Konversation betreiben zu müssen, war somit nur minimal.

Der Kommissar warf sehnsuchtsvolle Blicke auf das gewaltige Heringsbüfett, das mitten im Saal thronte. Es sah bis ins letzte Dillsträußchen appetitanregend aus, aber trotzdem beschloss er, auf das verlockende Angebot zu verzichten und lieber à la carte zu speisen, obwohl das nicht so preisgünstig war.

Für Wall war ein Heringsbüfett ohne Schnaps nur ein halbes Vergnügen, und da er ein eingeschworener Gegner der Kombination Auto fahren und Alkohol war, fiel ihm die Entscheidung nicht schwer. Es würde sich schon noch die Gelegenheit bieten, das eine wie das andere zu genießen. Dafür versprach er sich selbst, während des Urlaubs nicht einmal einen Gedanken an irgendwelche Schlankheitskuren zu verschwenden. Derartigen Kasteiungen würde er sich erst später wieder aussetzen, im Herbst, das war traditionell die Zeit für asketische Gedanken. Dann würde er ernsthaft seinem Übergewicht zu Leibe rücken, das der Distriktsleiter so herzlos als »ein unappetitlich glibbriges Aspikstück« zu bezeichnen pflegte.

Wall war empfänglich für Boströms nadelspitzenscharfe Kritik, fand aber, dass sie nicht ganz gerechtfertigt war. Sicher, er war korpulent, aber ein wabbeliger Sumoringer war er ja nun auch nicht. Außerdem verliehen ihm die Rundungen eine gewisse Autorität, und das konnte in seinem Beruf durchaus von Nutzen sein.

Die Jens Kofoed legte mit einem diskreten Ruck vom Kai ab, und Sekunden später gratulierte Wall sich zu seiner Entscheidung, auf das Heringsbüfett zu verzichten. Die übrigen Gäste stürzten sich auf die Leckereien, als hätten sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Brodelndes Chaos griff um sich.Teller fielen zu Boden, Gläser klirrten und wütende Wortwechsel folgten, bis die Schlangen sich organisiert hatten und das aufgebrachte Gemurmel über den Lachsscheiben, Krabbenschälchen, Aalvariationen, eingelegten Heringen, Salatschüsseln, den mit Mayonnaise garnierten Eihälften, dampfenden Wurst- und Frikadellengerichten und vielem anderem sich legte.

Die Überfahrt verlief glatt. Das mächtige Schiff stampfte rhythmisch seinem Zielhafen zu. Die Ostsee war ruhig, beinahe tanzbodenglatt, und Wall fühlte sich, als säße er zu Hause in seinem Wohnzimmer und entspannte sich in seinem Fernsehsessel. Er nahm drei Gänge zu sich und genoss es, keine längeren Gespräche mit seinen Tischnachbarn führen zu müssen. Er tauschte nur die üblichen Höflichkeitsfloskeln mit ihnen aus, um das Schweigen nicht peinlich werden zu lassen. Ansonsten kümmerte sich jeder um sich selbst.

Als der Kommissar schließlich aufs Autodeck zurückkehrte, versuchte er sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal eine derart angenehme Schifffahrt zwischen Ystad und Rönne erlebt hatte. Aber ihm fiel keine ähnlich entspannte Reise ein, und dabei hatte er schließlich seit mehr als zwei Jahrzehnten seinen Sommerurlaub auf Bornholm verbracht.

Bei so einem Auftakt mussten die vor ihm liegenden Wochen ja herrlich werden.

Ein Urlaub konnte gar nicht besser beginnen.

Und es ging in gleichem Stil weiter.

Er kam aus Jens Kofoeds dunklem und von Fischgeruch geschwängertem Inneren rechtzeitig und ohne Probleme heraus und musste seine Augen beschatten, um von dem strahlenden Sonnenschein nicht geblendet zu werden. Was für ein Wetter!

Die gut zwanzig Minuten lange Autofahrt nach Allinge in der nordöstlichen Ecke Bornholms war eine Strecke voller Erinnerungen. Wall kannte hier jeden Meter und musste schmunzeln, als er entdeckte, dass es wie üblich in Hasle, dem größten Ort auf seiner Route, einen Schuhschlussverkauf gab.

Wahrscheinlich wäre er tatsächlich etwas enttäuscht gewesen, wenn er das Schild mit dem Angebot nicht gesehen hätte; es machte ihn seltsam froh, so etwas Altem, Vertrautem wieder zu begegnen.

Wohlbehalten am Ziel angelangt, parkte er seinen Wagen unerlaubterweise an der Östergaden vor dem Släktsgården. Er hoffte, dass er die anderen Verkehrsteilnehmer nicht stören würde, während er das schwerste Gepäck aus dem Kofferraum wuchtete und es auf dem Hof abstellte, bevor er weiterfuhr zu dem höchstens hundert Meter entfernten Parkplatz am Meer.

In aller Eile holte er die Taschen aus dem Auto. Als er so weit war, fuhr er schnell wieder los, erleichtert darüber, dass er auf der schmalen Straße keinen Stau verursacht hatte.

Nachdem er seinen Volvo an dem üblichen Platz vor der Herings- und Aalräucherei abgestellt hatte, fast direkt am Wasser, ging er zurück zu der Pension, die er im Laufe der Jahre als sein zweites Zuhause anzusehen gelernt hatte. Und er wurde von dem Besitzer Arvid Iversen in der üblichen Form begrüßt: mit echter Herzlichkeit und einigen Tuborgs. Iversen gönnte sich außerdem einige Sticheleien über die fehlenden blaugelben Fußballerfolge während der vergangenen Saison. Das konnte er sich problemlos leisten, da Dänemark sich im Gegensatz zu Schweden für die Weltmeisterschaft in Frankreich in diesem Sommer qualifiziert hatte. Einige der rotweißen Fans hatten in Zeitungsinterviews bereits optimistisch verkündet:

»Das kann genauso schön werden wie bei der Europameisterschaft 1992.«

Damals hatte Dänemark gewonnen; eine Tatsache, die Iversen dem fußballbegeisterten Wall gern unter die Nase rieb. Walls Hinweis auf Schwedens kürzlich errungenen 3:0-Sieg über die Erzfeinde wischte er mit einem lockeren Schulterzucken vom Tisch:

»Das war ja nur ein Freundschaftsspiel!«

Arvid Iversen – ein hoch gewachsener, schlaksiger Mann von siebenundvierzig Jahren mit roten Wangen, ausgeprägtem Arbeitseifer und viel Sinn für Humor – wusste genau, wie er seinen schwedischen Freund packen konnte. Die beiden kannten sich inzwischen in- und auswendig. Nach dem Bier (Wall lehnte die Einladung zu einer dritten Flasche dankend ab) richtete er sich in seiner Stammwohnung in dem Eckgebäude zwischen den beiden Gärten des Släktsgårdens ein. Die Wohnung verfügte über zwei kleine Zimmer und ein Bad. Die Küche befand sich direkt davor, was einerseits ganz praktisch und bequem war, andererseits aber auch gewisse Unannehmlichkeiten mit sich brachte. Denn noch andere Gäste hatten Zugang zur Küche, da konnte es schon mal etwas lauter werden. Wall notierte sich, dass er Ohropax kaufen musste. Er wollte schließlich ungestört schlafen können.

Der Kommissar packte seine Taschen aus und legte seine frisch gewaschenen und gebügelten Kleider in ordentlichen Stapeln in den Schrank und die Kommode. Die Bücher stapelte er in zwei Haufen auf dem Nachttisch, und den Inhalt seiner Kulturtasche verteilte er auf die dafür vorgesehenen Plätze im Bad.

Dann holte er seinen Urlaubsschnaps – einen Aalborg Jubiläumsaquavit und einen Absolut Wodka – heraus und stellte die Flaschen in den Kühlschrank in der Küche. Das tat er ohne die geringste Sorge.Während all der Jahre war ihm nie auch nur ein Tropfen seiner Vorräte aus dem Kühlschrank, der von allen Gästen in diesem Teil der Pension benutzt wurde, abhanden gekommen.

Die Sonne brannte mit unveränderter Intensität vom Himmel, und Wall beschloss, es sich auf einem der Liegestühle in dem vor Blicken am besten abgeschirmten Garten gemütlich zu machen.

Er steckte sein rundes Gesicht durch die Tür und stellte fest, dass es in dem von Hecken umgebenen Garten menschenleer war. Ausgezeichnet. Also ging er zurück in seine Wohnung, zog sich Shorts und T-Shirt an, schnappte sich das oberste Buch von einem der Stapel und begab sich hinaus in den leeren Garten.

Obwohl er ganz allein war, bewegte er sich nur vorsichtig, wollte seine kreideweißen Beine voller Krampfadern keinen fremden Blicken preisgeben. Zwar war er nicht übertrieben eitel, was sein Äußeres betraf, aber jeder hatte ja so seine Schwachstellen, die er nicht gern in der Öffentlichkeit zeigte.

Er brauchte wirklich dringend einige Sonnenstrahlen. Sein leichenblasses Hautkostüm konnte kaum als besonders kleidsam bezeichnet werden. Nach einigen Mühen (er hatte noch nie besonders viel praktisches Geschick bewiesen) hatte er den Liegestuhl in Position gebracht. Er warf ängstliche Blicke in alle Richtungen und traf dann eine Entscheidung: das T-Shirt herunter und die Shorts noch ein Stück die dicken Schenkel hoch geschoben.

Mit einem zufriedenen Seufzer sank er auf den Liegestuhl und nahm sich vor, mindestens drei Kapitel zu lesen. Aber in der brütenden Hitze wurde er schnell von Müdigkeit übermannt. Schon nach kaum fünf Minuten begannen seine Augenlider zu zucken.

Er schloss die Augen und ließ das Buch ins Gras fallen, schließlich hatte er Ferien und konnte tun und lassen, was er wollte.

Und so versank er in einen Dämmerzustand irgendwo zwischen wach sein und Schlaf.

Die Zeit verging

Plötzlich zuckte er zusammen, von irgendeinem Geräusch aufgeschreckt. Verwirrt suchte er nach etwas, um sich zu bedecken – er wollte nicht, dass eine unschuldige Person von dem Anblick einer fast nackten, albinoweißen Erscheinung, die sich in einem Liegestuhl lümmelte, schockiert wurde.

Zwar konnte er niemanden entdecken, begriff aber schnell, was ihn geweckt hatte. Durch eines der Fenster aus dem ersten Stock der Pension drangen immer wieder verzückte Laute nach draußen. Wall schielte zu dem Fenster hoch, das geöffnet war und die unmissverständlichen Geräusche eines feurigen Liebesaktes herausließ – und dieser verlief nicht gerade leise.

Es wurde gestöhnt und gequiekt, gejammert und geknurrt, geseufzt und gekeucht, gewimmert und geschrien.

Die weibliche Stimme war am besten zu hören. Ab und zu stieg sie in ein schrilles Falsett auf.

Wall fühlte sich wie ein Eindringling. Es war, als läge er absichtlich gerade hier, um zu lauschen und zu spionieren. Das erzeugte in ihm ganz gegen jede Logik ein Schuldgefühl und das Empfinden, etwas Unanständiges zu tun. Gleichzeitig ließ ihn dieser Hochgenuss, der sich so schamlos und offen direkt in seiner Nähe zutrug, auch nicht ganz kalt. Er begann sogar darüber nachzudenken, ob er nicht selbst einen Vorstoß in dieser Richtung unternehmen sollte. Unmöglich war das schließlich nicht. Nur weil er Junggeselle war, musste er sich doch ein wenig körperliche Nähe und Wärme als Abwechslung in seinem einsamen Dasein nicht versagen. Während seiner früheren Bornholmbesuche hatte er das eine oder andere Techtelmechtel mit geneigten Damen gehabt, war jedoch immer sorgsam darauf bedacht gewesen, sich nicht zu binden. Die Vergnügungen waren rein temporärer Art gewesen, mehr nicht. Bei diesen Kontakten war er in einem Punkt standhaft geblieben: Er hatte niemals eine Affäre mit einer Frau begonnen, die bereits gebunden war. Niemand sollte ihn beschuldigen können, sich zwischen zwei Menschen zu drängen.

Nun war es natürlich schon eine ganze Weile her, seit er das letzte Mal in den Genüssen einer körperlichen Begegnung geschwelgt hatte, aber es war ja dennoch denkbar, dass er ganz zufällig auf eine freie, Kontakt suchende Dame im entsprechenden Alter stoßen würde. Und dann ...

Das Keuchen aus dem ersten Stock inspirierte ihn, gleichzeitig hatte es aber auch einen abschreckenden Effekt. Tatsächlich fürchtete Wall sich vor der Leistung, die eine viel versprechende (und im schlimmsten Fall fordernde) Partnerin von ihm erwarten würde, weshalb es wohl am sichersten war, gleich einen Rückzieher zu machen.

Jemand schrie schrill und erregt auf Schwedisch:

»Bleib drin, bleib drin, geh nicht raus.«

Die rauere Stimme eines Mannes, dänisch, informierte die Umwelt darüber, dass er gleich kommen würde, und kurz darauf drangen an Walls Ohren Geräusche, die nur das Eine bedeuten konnten.

»Wie schön, dass mein bescheidenes Haus so nette Unterhaltung bieten kann.«

Arvid Iversen trat verschmitzt lächelnd aus der Küchentür, und Sten Wall streckte sich automatisch nach seinem T-Shirt. Der Pensionswirt hatte Harke und Spaten in den Händen, er war offenbar auf dem Weg zu dem gartenhausähnlichen Schuppen an der Mauer zur Straße hin.

Er nickte zum ersten Stock hoch, wo das Fenster jetzt geschlossen wurde. Kurz war ein weißer Arm zu sehen, der gleich wieder verschwand.

»Die Vorstellung ist offensichtlich zu Ende«, sagte Wall und versuchte seine überbordenden Schenkel, so gut es ging, mit Hilfe des Buchs und der Hände zu bedecken.

Iversen legte seine Gartengeräte auf den Boden, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.Wall wäre am liebsten hineingegangen, um sich anständig anzuziehen. Es kam ihm vor, als hätten seine Schenkel während des Sonnenbads einen leichten Rosaton angenommen, und das Schweinchenhafte der Farbe verstärkte noch das Pathetische seiner Erscheinung. Er drehte sich zur Seite, damit der größte Teil seiner Krampfadern den Blicken des anderen verborgen blieb. Der Pensionswirt war in Redelaune. Er beklagte sich über den Bevölkerungsschwund auf seiner Heimatinsel. Wenn der Fortzug nicht gestoppt wurde, konnte das ernsthafte Konsequenzen haben.

»Wir haben seit Jahrzehnten knapp 50000 Einwohner gehabt«, erzählte er. »Aber in den letzten Jahren sind wir immer weniger geworden. Bis jetzt ist das noch keine Katastrophe, aber es muss etwas dafür getan werden, dass die Bornholmer bleiben. Es gibt nicht genügend Jobs, die Ausbildungsmöglichkeiten sind unzureichend. Die Fischerei ist in beunruhigendem Maße zurückgegangen, und leider scheint auch der Tourismus abzunehmen.«

»Na, ich tue jedenfalls, was ich kann«, meinte Wall und wurde mit einem breiten Grinsen belohnt.

»Wenn alle so vernünftig wären wie du, dann gäbe es keinen Grund zur Klage«, sagte Iversen. »Aber da die Sommersaison ja nur so kurz ist, nur ein paar Monate lang, müssen die Pensionen und Hotels sehen, dass sie dann möglichst voll belegt sind. Ich habe immer noch ausreichend Gäste, vor allem im August, wenn die Deutschen kommen, aber sonst ist es weniger geworden. Wir haben Juni und noch vor zwei Jahren hatte ich zu dieser Jahreszeit fast alles belegt. Und guck nur, wie es jetzt aussieht! Dreißig von meinen fünfzig Betten stehen leer!«

Wall warf aufmunternde und tröstende Worte ein, während sein Freund sich über seine Probleme ausließ, aber er wusste, dass die tröstenden Worte eigentlich gar nicht notwendig waren. Arvid Iversen war im Grunde seines Herzens ein großer Optimist, ausgestattet mit einer Vitalität, die mit den hartnäckigsten Problemen fertig werden konnte. Im Augenblick musste er offenbar ganz einfach etwas Dampf ablassen, und Wall war ein guter Zuhörer.

Nach einer Weile knarrte die Küchentür, und ein junges Paar betrat den Garten. Der Junge war von mittlerer Größe, mit Nackenhaar, das bis auf seine Schultern hing, seine Freundin war so mager, dass Wall sie zuerst für magersüchtig hielt. Aber als sie näher kam, erkannte er seinen Irrtum. Sie war einfach nur sehr zart gebaut, hatte aber ausgeprägte Muskeln in den schlanken Beinen.

Sie nickten Wall zu, und Iversen machte sie eilfertig mit dem schwedischen Polizeimann bekannt. Murmelnd streckte dieser seine Hand aus, um sie zu begrüßen, während er gleichzeitig seine mangelnde Voraussicht verfluchte, was seinen Aufzug betraf. Seine Schenkel quollen weißlich über den Liegestuhlrand, schlaff und untrainiert.

Der junge Mann hieß Sören Knudsen und stammte aus Roskilde, das Mädchen kam aus Blekinge und trug den Namen Jenny Lang. Seine Stirn glänzte am Haaransatz von einigen Schweißtropfen, ihre Wangen glühten. Ansonsten war den beiden von ihren vorherigen Aktivitäten nichts anzumerken.

Nach wenigen Minuten verabschiedeten sie sich.

Iversen nickte ihnen nach:

»Das waren doch die, die ...«

»Ja, ja,«, sagte Wall und blätterte in seinem Buch, worauf der Pensionswirt sofort reagierte. Er sammelte seine Harke und seinen Spaten auf, bemerkte, dass er bald das Abendessen vorbereiten müsse, und erhob sich dann zu seiner beeindruckenden Länge.

Als er vom Geräteschuppen zurückkam, fragte er Wall, ob dieser auswärts essen oder die Küche des Släktsgårdens testen wolle.

»In gewisser Hinsicht bin ich eine äußerst konservative Person«, erklärte Wall, »deshalb werde ich ins Algarve gehen. Dort habe ich immer meinen ersten Urlaubsabend verbracht. Und das werde ich auch so beibehalten.«

»Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch wieder ein«, sagte Iversen, nachdenklich dazu nickend.

»Aber sage mir Bescheid, wenn es dänische Frikadellen gibt. Dann melde ich mich sofort an.«

Eine zottige, auffallend hässliche Katze kam aus dem Gebüsch neben dem Geräteschuppen geschlichen.

»Das ist meine Katze«, sagte Iversen nicht ohne Stolz.

»Wie heißt sie?«

»Perikles, er ist ein Kater, und ich habe noch nie einen größeren Faulpelz gesehen. Wenn er eine Maus entdeckt, dann gähnt er nur lange und ausgiebig. Meistens liegt er faul im Fenster. Er hat vier Lieblingssimse, die er abwechselnd benutzt. Und da liegt er dann den ganzen Tag schlaff herum und studiert das Leben vor den Fensterscheiben.«

»Da macht er es genau wie ich«, sagte Wall. »Zu Hause habe ich vier Fernsehkanäle, zwischen denen ich immer hin und her zappe.«

Der lange Pensionswirt lachte laut auf und machte sich auf den Weg, der Kater folgte ihm gemächlich.

Kurz darauf hatte der Kommissar von der Sonne genug. Er sammelte seine Siebensachen zusammen und zog um ins Haus, wo er noch eine Stunde las, bevor er sich für den Restaurantbesuch umzog.

Auf dem Weg zu dem kleinen Krug in Allinges idyllischem Hafen kam er an ein paar Fahrradtouristen vorbei, die vergnügt ihr Krölle-Bölle-Eis schleckten. Der Troll Krölle Bölle war das Wahrzeichen Nordbornholms und galt als Glücksbringer. Die beliebte Figur trat in den phantasievollsten Versionen auf und konnte als Souvenir aus diversen Materialien und in den verschiedensten Formgebungen gekauft werden.

Ein Transistorradio lief. Eine dänische Stimme verlas die Nachrichten und Wall meinte mitzubekommen, dass in Schweden jemand ermordet worden war, war sich aber nicht sicher, ob er es richtig verstanden hatte.

Zuerst erwog er umzukehren, um genauer zuzuhören. Aber nach kurzem Zögern beschloss er, doch lieber weiterzugehen.

Mord in Schweden – war das etwas, das dänische Zuhörer interessieren konnte?

Ja und wenn schon?

Wenn es wirklich darum ging (er hatte nur Fetzen der Nachrichten aufgeschnappt), war es jedenfalls nichts, worum er sich kümmern musste.

Er wollte abschalten, nicht an seinen Job denken, sondern zwei Wochen lang ausschließlich faulenzen.

Ausgelassen betrat er das Algarve und suchte sich einen Platz auf der Terrasse. Er bestellte sich einen trockenen Martini und nippte an ihm, während er begeistert die Speisekarte studierte.

Dem bald pensionsreifen Kommissar ging es gut, besser als seit langem.

Die Ferien hatten begonnen.

Ehrenmord - Schweden-Krimi

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