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Jan Carlsson

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Der Kriminaloberinspektor Jan Carlsson genoss das Frühstück zusammen mit seiner Ehefrau Gun auf der kleinen Terrasse in dem blickgeschützten Garten hinter ihrem Haus. Die Sonne schüttete Junihitze über sie aus. Gun war vollständig angezogen, während er in seinem abgetragenen, blau gefransten Morgenmantel dasaß. An den Füßen trug er offene Sandalen.

»Na, heute Abend wirst du sicher etwas später als sonst kommen«, sagte sie eher feststellend als vorwurfsvoll.

Er hob seinen Blick von den Sportseiten der Zeitung. Seine Augen waren blaubeerfarben und klar wie Quellwasser. Ihnen war sie zuerst verfallen, als sie sich kennen lernten. Und immer noch konnten sie sie so anschauen, dass es in ihrer Magenkuhle kribbelte. Seine Haut war dagegen nicht so anziehend. Er hatte eine Reihe von Pickeln auf der Stirn, und Kinn, und die Wangen waren vernarbt.

»Dass ich für ein paar Wochen zum stellvertretenden Chef werde, bedeutet ja nicht zwingend, dass ich mehr arbeiten muss als sonst«, sagte er.

»Das meinte ich eigentlich auch nicht. Sten tritt doch heute seinen Urlaub an, oder?«

Er nickte.

»Und fährt morgen nach Bornholm?«

Jetzt begriff er, worauf sie hinauswollte. Trotzdem tat er vollkommen unwissend.

»Natürlich«, sagte er. »Genau wie immer. Sten ist nicht der Typ, der seine Gewohnheiten unnötigerweise verändert. Aber was ...«

»Spiel kein Theater«, sagte sie und legte genau so viel Härte in die Stimme, wie erforderlich war, um das Ruder in der Hand zu behalten. »Du weißt genauso gut wie ich, wie es jedes Mal abläuft, bevor er losfährt. Da schleift er dich mit in den Pub. Und dann kommst du angesäuselt nach Hause, wachst am nächsten Morgen als ein Wrack auf und bereust alles. Du kannst keinen Schnaps mehr ab. Das ist nun einmal so. Denk doch nur daran, was Pfingsten passiert ist! Da hast du einen ganzen Tag lang vollkommen erledigt herumgelegen, und schließlich hatten Vivi und Stellan davon die Nase voll, haben sich die Kinder geschnappt und sind nach Hause gefahren. Und ich stand mit der Schande da.«

Wütend legte er die Zeitung auf den Tisch. Er liebte seine Frau, aber hin und wieder führte sie ein allzu strenges Regiment. Mein Gott, er war doch kein wildes Fohlen mehr, sondern ein pflichtgetreuer, verantwortungsbewusster Kriminalbeamter mittleren Alters mit tadellosem Ruf. Er war nicht gerade begeistert davon, dass sie jedes Mal auf ihm herumhackte, wenn er sich ein Glas genehmigte.

Gun war eine liebevolle, treue und wunderbare Frau. Er hätte keine bessere finden können. Und er wusste, dass ihr Nörgeln seinen Ursprung in ihrer Sorge um ihn hatte. Sie wollte immer nur sein Bestes und litt mit ihm, wenn er sich jammernd aus sporadisch auftretenden Formtiefs hervorarbeitete.

Aber manchmal ging sie einfach zu weit mit ihrer Bevormundung (und dabei wusste er nicht einmal, dass seine Kollegen ihn wegen seiner großen Nachgiebigkeit heimlich als Pantoffelhelden bezeichneten).

»Zum einen«, sagte er schroff, »ist ...«

»Noch Kaffee?«

»Ja, danke. Zum einen ist es nicht so, dass er mich vor seinem Urlaub jedes Mal in den Pub mitschleppt.Vielleicht ist es ein paar Mal vorgekommen, aber es ist ja wohl auch mein gutes Recht, oder?«

»Mach weiter.«

»Und zum Zweiten ist Sten vorsichtig mit dem Alkohol, wenn er später Auto fahren muss. Das solltest du auch wissen.«

»Er ja. Aber du nicht«, sagte sie und lächelte ihn sanft an. Die Angst vor einer Niederlage ließ ihn die Stimme heben. »Zum Dritten trinken wir fast immer nur Bier.«

»Du bist süß«, stellte sie fest.

Die Streitlust verließ ihn.

Er schaute sie dumm an.

»Und zum Vierten?«, fragte sie.

»Vergiss es«, sagte er, beugte sich über den Tisch und küsste sie mitten auf den Mund.

Ihr Atem war immer frisch und appetitlich, und der Kuss zog sich in die Länge.

Schließlich machte sie sich los und schnappte nach Luft.

»Jetzt musst du aber aufhören, sonst komme ich zu spät zur Arbeit.«

Er schaute viel sagend zu dem geöffneten Schlafzimmerfenster hinauf, in dem eine Gardine flatterte.

»Vielleicht heute Abend?«, schlug er vor.

»Kann schon sein«, neckte sie ihn und bekam plötzlich ein Funkeln in den Augen. »Natürlich nur, wenn du nicht Stens Gesellschaft im Pub vorziehst. Heute musst du abdecken. Tschüs!«

Sie trippelte über den mit Kopfsteinpflaster belegten Hinterhof und verschwand um die Ecke. Er rief ihr noch einen Abschiedsgruß hinterher, setzte sich wieder und las noch einige Minuten lang die Zeitung. Dann stand er auf und fegte vereinzelte Brötchenkrümel vom Tisch.

Zwei mutige Spatzen stürzten sich auf das Angebot, und Jan ging ins Haus, um zu duschen.

Kurze Zeit später stand er auf der Treppe und schloss die Haustür ab. Er hatte unglaubliches Glück gehabt, als er vor gut fünfundzwanzig Jahren auf dieses geräumige, charmante Haus in Gamleby gestoßen war, in dem mit Abstand attraktivsten Teil von Stad. Das Viertel bestand aus ein paar Häuserzeilen mit winkligen Gassen, pittoresken Häusern (darunter viele Fachwerkhäuser) und gepflegten Gärten. Im gleichen Jahr, in dem das alte, aber von Grund auf renovierte Traumhaus einzugsbereit dastand, heiratete Jan auch seine Jugendliebe, womit er also wirklich einen doppelten Volltreffer verzeichnen konnte.

Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Immer wieder hatten sie die Möglichkeit einer Adoption diskutiert, aber vor nicht allzu langer Zeit hatten sie beschlossen, lieber weiterhin nur zu zweit zu bleiben.

Er war nicht besonders gläubig; dennoch kam es vor, dass er an gewissen Abenden ein stummes Gebet gen Himmel schickte, eine ihm gewogene Macht möge ihn zuerst fortschicken. Mit erschreckender Gewissheit musste er einsehen, dass er es nicht schaffen würde, Gun zu überleben. Vielleicht wäre er in der Lage, sich notdürftig praktisch zu versorgen, aber emotional konnte er sich ein Leben ohne Gun an seiner Seite einfach nicht vorstellen. Deshalb verließ er sich auf die gerechte Hand des Schicksals, wenn es denn Zeit für den Aufbruch sein würde. Gun war eine stärkere Natur, realistisch, gewandt und bodenständig: Sie würde auch ohne ihn in Würde alt werden können.

Das stellte er ohne Gemütsbewegung fest, während er gleichzeitig die hellblaue Himmelslandschaft betrachtete. Das Wetter war herrlich, mild, mit einer sanften Brise.

Da er reichlich Zeit hatte, beschloss er, seinen Morgenspaziergang auszudehnen und eine Runde um die Kirche zu machen. Wenn er den üblichen Weg nehmen würde, käme er eine Viertelstunde vor Dienstbeginn in der Polizeistation an, und so versessen war er auf seinen zeitweiligen Job als Chef nun auch nicht. Er wollte auf keinen Fall wie ein Streber wirken. Sonst würden die Kollegen gleich wie die Geier über ihn herfallen.

Stad war stolz auf seine mittelalterliche Kirche. Das sakrale Gebäude in romanischem Stil war nicht nur mächtig – nur wenige Provinzkirchen waren größer –, sondern auch rein architektonisch äußerst ansprechend. Das Schiff stammte vom Ende des 13. Jahrhunderts, und über diesem Haus des Herrn ruhte eine Art majestätischer Eleganz. Hinzu kam die ausgesuchte Lage auf einer Anhöhe direkt oberhalb des Flusses, der sich um das Zentrum der Gemeinde schlängelte.

Vor sich hin pfeifend und in ausgezeichneter Laune umrundete Jan Carlsson den Friedhof und kam am Gemeindehaus vorbei. Die japanischen Kirschbäume, die noch vor wenigen Wochen in voller Blüte gestanden hatten, waren bereits wieder in ihre geduldige Wartestellung auf die kurze, aber beeindruckende Glanzperiode im nächsten Jahr übergegangen. Jetzt hingen die verwelkten rosa und weißen Blüten wie finstere Reminiszenzen einer Größe da, die vergangen war und erst in ferner Zukunft wiederkehren sollte.

Er dachte an die nahe Zukunft, an den kommenden Abend. Wie sollte er sich entscheiden?

Für den Kneipenbesuch mit Sten Wall? Oder für ein Schäferstündchen mit Gun?

Es hieß entweder – oder. Im Alter von fünfzig Jahren konnte er nicht mehr beide Angebote mit ausdauerndem Enthusiasmus annehmen; jedenfalls nicht, wenn er sich an die Reihenfolge hielt. Natürlich konnte er sie umdrehen, sodass Gun zuerst drankam und dann das Bier – das würde er zweifellos schaffen. Aber er hatte das sichere Gefühl, dass seine Frau nicht begeistert wäre, wenn er sich direkt nach liebevollen Intimitäten im Schlafzimmer in die Kneipe aufmachte.

Dann würde es also ein ruhiger Abend daheim werden, mit allem, was dazugehörte, auch wenn er dadurch vielleicht Sten Wall verärgern würde (der Gedanke, dass sein Kollege vielleicht gar keine entsprechenden Pläne für den Abend schmiedete, kam ihm nicht).

Das Wetter war außerdem ideal für die Romantik. Daran gab es gar keinen Zweifel.

Am Eingang zur Polizeistation kontrollierte er seine Armbanduhr.

Sechs Minuten vor acht – das war akzeptabel.

Sein Erscheinen würde keine höhnischen Kommentare seiner Kollegen hervorrufen.

Aber sobald er sich in den großzügigen Arbeitsräumen im ersten Stock zeigte, hagelten die sarkastischen Sprüche nur so auf ihn nieder:

»Weg mit dem Kartenspiel, der Chef ist gekommen!«

»Versteck das Pornoheft, verdammt noch mal!«

»Wer packt den Karton mit den Schmiergeldern weg?«

»Wann ist Wall eigentlich von Bornholm zurück, damit wir endlich wieder anfangen können, ordentlich zu arbeiten?« »Mach dein Hemd richtig zu, Otto! Glaubst du etwa, das ist ein Kindergarten hier?«

»Was müssen wir normalen Sterblichen tun, um auch irgendwann einmal auf dem Chefsessel zu landen?«

Jan Carlsson lachte.

Jungs bleiben doch ihr Leben lang Jungs.

»Okay«, sagte er. »Ich habe kapiert. Jetzt möchte ich ...«

»Habt Acht!«, schnarrte jemand.

Alle richteten sich kerzengerade auf und salutierten ihm, sodass Jan Carlsson wohl oder übel die Rolle spielen musste, die ihm zugedacht war.

»Guten Morgen, Kameraden!«, schrie er mit gespielter Unteroffiziersstimme.

»Guten Morgen, Chef!«, dröhnte es zurück.

»Rühren!«

Als die kleine Gruppe vor ihm gerade gleichsam in sich zusammensank, war lautes Räuspern vom Flur her zu hören. Alle wandten sich gleichzeitig dem Geräusch zu, und im nächsten Moment trat ein hoch gewachsener, hagerer Mann in einem schlecht sitzenden braunen Anzug durch die Tür. Er hatte schneeweißes, nach vorn gekämmtes Haar und ein großes, lilafarbenes Feuermal auf einer Wange. »Was macht ihr denn hier?«, fragte der Distriktspolizeileiter Helge Boström.

»Ach, gar nichts.«

»Dafür war es aber reichlich laut. Man konnte es im ganzen Haus hören. Wall braucht nur seine krankhaften Fettmassen mal von seinem Arbeitsplatz fortzubewegen, und schon benehmt ihr euch wie Kleinkinder.«

»Einen unschuldigen Spaß darf man sich doch wohl noch mal erlauben«, erklärte Carl-Henrik Dalman, gestandener Veteran, bekannt für seine reaktionäre Haltung und seinen fast vollkommenen Mangel an Humor.

Und der jüngste Mann der Abteilung, Terje Andersson, ging mit naivem Trotz zum Gegenangriff über.

»Wir haben doch niemandem geschadet, oder?«

Dalman blies sich noch mehr auf:

»Seit wann ist es denn verboten, sich in seiner Freizeit zu entspannen? Darf ich daran erinnern, dass wir alle schon früher an unserem Platz waren, als wir eigentlich müssen. Da! Jetzt schlägt es erst acht.«

Der Distriktspolizeileiter winkte ungeduldig mit seinen langen, nikotingelben Fingern ab.

»Jaja. Ich bin auch nicht hergekommen, um euch zu inspizieren. Ich habe wichtigere Sachen zu tun. Aber ich würde gern mit dir reden, Jan.«

»Jetzt?«

Boström nickte.

»Komme schon«, sagte Carlsson und folgte dem Vorgesetzten auf den Flur.

Jemand flüsterte theatralisch hinter seinem Rücken:

»Zur Seite, liebe Leute, damit der Boss durchkommt.«

Der Besuch bei Boström stahl Jan Carlsson eine halbe Stunde seines Arbeitstages. Während dieser dreißig Minuten gelang es dem Distriktsleiter, zwei Zigaretten zu rauchen, einen Urlaubsplan für den Herbst zu präsentieren und die übliche Litanei von zu schlechten ökonomischen und personellen Ressourcen von sich zu geben.

Wieder zurück in seinem eigenen Zimmer, nahm sich Carlsson die Berichte vom Wochenende vor.

Es war nicht gerade eine aufmunternde Lektüre.

In einer Mietswohnung im Stadtteil Grönland versuchte ein Sechsjähriger in der Nacht zum Sonntag, seinen berauschten Vater daran zu hindern, seine Ehefrau mit den bloßen Fäusten totzuschlagen. Der Junge bekam ordentlich eins gewischt, was seinem tapferen Versuch, den Streit zu schlichten, ein jähes Ende bereitete. Der Vater kam jedoch zur Besinnung, als der Kleine weinend auf den Küchenfußboden fiel. Die große Versöhnung senkte sich über die ganze Familie, und als die von den Nachbarn alarmierte Polizei eintraf, herrschte das reine Idyll. Der Junge wurde mit Eis verwöhnt, und es war unschwer zu bemerken, wie die Eltern sich trösten würden, sobald sie in Ruhe gelassen würden. Der polizeiliche Einsatz erwies sich als überflüssig, da die Frau keine Anzeige erstatten wollte.

»Sind Sie sich sicher, dass nichts passiert ist?«, fragte einer der Polizisten misstrauisch.

»Absolut«, beteuerte der Papa. »Hier ist es doch friedlich, friedlicher geht’s gar nicht.«

»Aber die Nachbarn ...«

»Ach, mir ist ein Stuhl umgefallen«, sagte die Mama.

»Und der Stuhl sprang wieder hoch und traf Sie mitten im Gesicht?«

Sie presste die Lippen zusammen, und der Polizist bohrte stattdessen seinen Blick in das vom Weinen angeschwollene Gesicht des Jungen.

»Stimmt das?«

Bevor dieser antworten konnte, griff der Vater ein:

»Willst du noch mehr Eis, Marcus?«

Kurz darauf zogen die Polizisten unverrichteter Dinge ab. Jan Carlsson fuhr sich über seinen spärlich behaarten Kopf und wühlte sich weiter durch den Papierstapel.

Natürlich stieß er dabei auf die üblichen Wochenendvergnügungen: verwüstete Blumenrabatten im Park, Prügeleien zwischen Rockerbanden im Gewerbegebiet, drei Autodiebstähle, vier Einbrüche, eine Misshandlung im Gasthaus Baronen, Tierquälerei auf einem Bauernhof in Slätthult und ein Vergewaltigungsversuch im Süden.

Mit anderen Worten: ein ziemlich normales Wochenende. Carlsson seufzte.

Und plötzlich beneidete er Sten Wall.

Urlaub – das Wort schmeckte nach Luxus und Spaß.

Er selbst kam erst Mitte August in diesen Genuss, dann wollten Gun und er sich eine Autoreise durch England und Schottland gönnen. Er freute sich jetzt schon darauf, obwohl er noch nie im Linksverkehr gefahren war, abgesehen von ein paar Monaten kurz bevor Schweden am 3. September 1967 von Links- auf Rechtsverkehr umgestellt hatte.

Mitte August: Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.

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