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Boom! Bang! Tackles, Thunder und das Trikot mit dem Adler

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Football war die erste große Liebe meines Lebens. Alles andere waren Poster an der Wand und Fantasien in meinem Kopf. Football war real, zum Anfassen. Ich war wirklich total verliebt in diese Sportart, wollte alles über sie wissen, wollte jede freie Minute mit ihr verbringen. Football ließ mein Herz höherschlagen. Bedingungslos stürzte ich mich in diese neue Welt. Es mag merkwürdig klingen, aber so war es. Die Tatsache, dass zur damaligen Zeit nur sehr wenige Leute American Football kannten, noch viel weniger etwas davon verstanden und kaum jemand aktiv Football spielte, erhöhte den Reiz nur noch. Ich war dieser Sportart verfallen, mit Haut und Haaren. Ich schwor ihr ewige Treue.

Eat. Sleep. Football. Repeat. So sah mein Leben in etwa aus. Wenn ich nicht gerade im Stade Napoleon trainierte, stählte ich meinen Körper im Park, der gegenüber von meinem neuen Zuhause an der Ollenhauerstraße lag. Ins Fitnessstudio durfte man damals erst mit 16 Jahren, also musste ich mir eine andere Muckibude suchen und fand sie unter freiem Himmel auf dem Spielplatz des Parks, wo ich die Geräte für Klimmzüge, Liegestütze und allerlei andere Übungen nutzte, die mir für einen echten Footballer wichtig erschienen. Um die Rutsche machte ich einen Bogen.

Mit 13 Jahren spielte ich erstmals in der NFL, die, wie ich mittlerweile wusste, kein TV-Sender ist, sondern die National Football League in den USA. Natürlich hatte ich ein paar Anlaufschwierigkeiten, die vor allem technischer Natur waren, aber ich lernte auch in dieser Liga schnell und konnte in epischen Schlachten zahlreiche denkwürdige Siege auf dem Footballfeld feiern – mit der Playstation. Das Zauberwort, welches meine Verwandlung zum NFL-Spieler möglich machte, lautete: Madden. Die Football-Simulation, die nach der NFL-Coaching-Legende John Madden benannt ist.

Mein NFL-Stadion war das Zimmer meines neuen besten Freundes Cedric, den ich bei den Adlern kennengelernt hatte. Eine schicksalhafte Begegnung, denn er wurde zu einer der Schlüsselfiguren in meiner Karriere und meinem Leben, was ich damals natürlich nicht ahnen konnte. Cedric und ich wurden schnell Best Buddies. Wir spielten damals stundenlang. Nach der Schule, vor dem Training. Am Wochenende übernachtete ich oft bei ihm, und wir zockten die ganze Nacht. Durch Madden lernte ich alle 32 Teams der NFL kennen, und es dauerte nicht lange, und ich kannte jeden einzelnen Spieler. Ich war ein totaler NFL-Experte, obwohl ich noch nie ein Spiel im Fernsehen gesehen hatte, denn damals gab es keine Fernsehübertragung der Regular Season im deutschen Free-TV, wie wir es heute kennen.

Ich hatte zu dieser Zeit kein echtes Lieblingsteam, aber besonders gerne spielte ich die Baltimore Ravens, denn die waren für ihre starke Defense berühmt und auch berüchtigt, und außerdem hatten sie Ray Lewis und Ed Reed in ihren Reihen, zwei der besten Defense-Spieler der NFL-Geschichte, beides Hall-of-Famer. Lewis hat in seiner Karriere zwei Super Bowls gewonnen und war sogar einmal Super Bowl MVP, der wertvollste Spieler. Es kommt nur äußerst selten vor, dass einem Spieler der Defense diese Ehre zuteilwird. Auch – und das ist die absolute Wahrheit, wenngleich es fast zu schön klingt, um wahr zu sein – mit Indianapolis zockte ich gerne, denn die Colts hatten mit Robert Mathis und Dwight Freeney eines der besten Pass-Rush-Duos der NFL-Geschichte am Start, ein zweiköpfiger Albtraum jeder Offensive Line und aller Quarterbacks. Lewis, Reed, Mathis oder Freeney waren nicht einfach nur herausragend auf ihren jeweiligen Positionen. Sie haben Spielen ihren Stempel aufgedrückt. Sie haben Spiele entschieden. Sie haben auf dem Feld dominiert, und dafür bewunderte ich sie. Ich wollte so spielen wie sie: Ich wollte dominieren.

Auch im echten Leben schnupperte ich erstmals NFL-Luft. Mit meiner Flag-Football-Mannschaft ging ich regelmäßig zu den Spielen von Berlin Thunder, die in der NFL Europe spielten, einem Ableger der amerikanischen Mutter-Liga, der 2007 wieder aufgelöst wurde. Zu Beginn des neuen Jahrtausends war Thunder das dominierende Team der europaweiten Liga und konnte 2001, 2002 und 2004 das Endspiel, den sogenannten World Bowl, gewinnen. Kicker war damals übrigens der frühere Fußballprofi Axel Kruse, der zuvor für Hertha BSC gekickt hatte, den Lieblingsverein meines Vaters und meiner Brüder. Das reichte allerdings nicht, um sie für meine neue Liebe zu begeistern.

Es war natürlich eine geniale Fügung, dass das in dieser Zeit beste Footballteam Europas in meiner Stadt spielte, gefühlt vor meiner Haustür. Wir bekamen immer Freikarten für die Spiele im Olympiastadion. Platz war mehr als genug. Fast alle Spieler der Adler, von der Flag-Football-Jugend bis zum Herren-Team, das in der GFL spielte, der German Football League, waren bei den Thunder-Heimspielen im Stadion. Einige der Jugendspieler arbeiteten dort als Volunteers und durften am Spielfeldrand stehen.

Ich kann mich noch erinnern, wie ich mit Cedric und den anderen Jungs auf der Tribüne saß und wir mit leuchtenden Augen mehr oder weniger laut davon träumten, eines Tages selbst auf dem Rasen des Olympiastadions Touchdownpässe zu fangen, mit dem Ball in die Endzone zu rennen oder Quarterbacks in den Dreck zu rammen. Ich wusste, dass die NFLE ein Sprungbrett in die NFL war, auch wenn nur wenigen Spielern tatsächlich der Sprung gelang und es sich bei den meisten der Auserwählten um Amerikaner handelte, die bereits von einem NFL-Team gedraftet worden waren und sich nun in der Tochter-Liga beweisen und weiterentwickeln sollten. Einer dieser Spieler wurde zu einer echten NFL-Legende – ja, Kurt Warner auch, aber den meine ich nicht –, und ich hatte sogar die Ehre, mit ihm bei den Colts in einem Team zu spielen: Adam Vinatieri, der mit vier Super-Bowl-Siegen erfolgreichste Kicker der NFL-Geschichte. Vinatieri spielte nach dem College ein Jahr für die Amsterdam Admirals und wurde 1996 von den New England Patriots verpflichtet, was sich für beide Seiten nicht als schlechteste Idee erweisen sollte. Da war ich gerade mal sechs Jahre alt. Später wurde Vinny übrigens mein Nachbar.

Für Spieler dieser Güte war die NFLE ein Umweg, für andere eine Chance, für manche schon das höchste der Gefühle. Und für mich war es einfach ein Fest, ihnen allen von der Tribüne dabei zuzuschauen, wie sie unten auf dem Rasen in höchstem Tempo und mit vollem Körpereinsatz zur Sache gingen, dass es nur so krachte und schepperte.

Boom! Das wollte ich auch. Genau das.

„Coach, ich will tackeln! Ich habe keinen Bock mehr auf Flag Football.“

Ein Satz aus meinem Mund, der mir noch heute in den Ohren klingt. Ich sagte ihn eines Abends nach einer Trainingseinheit zu Jörg Hofmann, dem Trainer der U19 der Adler, und ich sagte ihn, wie man eben redet in Berlin, sehr direkt. Dazu muss man wissen, dass es zur damaligen Zeit andere Altersstufen im American Football in Deutschland gab. Bis zum Alter von 15 Jahren durfte man nur Flag Football spielen. Im Alter zwischen 15 und 19 Jahren spielte man dann Tackle Football – also das, was jeder als Football kennt – in der sogenannten U19, und wer älter als 19 war, der spielte im Herrenbereich. Heutzutage gibt es bereits eine U13 und eine U16 im Tackle Football, was zeigt, wie sehr sich der Sport hierzulande in den letzten Jahren weiterentwickelt hat.

Im Flag Football war es für mich schnell bergauf gegangen. Ich gehörte zu den Leistungsträgern in meinem Team, liebte es, wenn wir am Wochenende gegen andere Vereine spielten und meistens auch gewannen, und freute mich über regelmäßige Berufungen in die Landesauswahl Berlin-Brandenburg. Die Wettkämpfe waren Highlights, aber ich ging auch jede Trainingseinheit so an, als ginge es um Sieg oder Niederlage. Ich wollte besser werden. Ich wollte der Beste sein. Und ich wollte es endlich mal richtig krachen lassen, wie bei Madden – aber leibhaftig. Um dieses Ziel überhaupt in Angriff nehmen zu können, das war mir klar, musste ich allerdings langsam mal einen Helm aufsetzen und Shoulder Pads überstülpen.

Das Problem: Weder hatte ich Helm und Pads noch das richtige Alter. Ich war erst 14. Zu jung. Aber schon groß und auch gut genug. Das war auch Jörg Hofmann, dem Coach der Adler-Jugend, nicht verborgen geblieben, und er merkte, dass ich es absolut ernst meinte mit meinem Wunsch, endlich richtigen Football zu spielen. Wunsch ist untertrieben. Ich flehte ihn regelrecht an, mich schon ein Jahr früher in seine U19 wechseln zu lassen. Er zögerte und gab zu bedenken, dass ein Jahr eine verdammt lange Zeit sei. Ich würde ja erst mit 15 Jahren einen Spielerpass bekommen und am Spielbetrieb teilnehmen dürfen und bis dahin immer nur am Rand sitzen müssen, wenn das eigene Team spiele, was auf Dauer sehr frustrierend sein könne.

Die Stimme der Vernunft in Person von Coach Hofmann redete Klartext, denn er meinte es gut mit mir, doch ich ließ mich nicht beirren und entgegnete, dass ich lieber ein Jahr lang nur trainieren wolle, dafür mit vollem Körperkontakt, um zu lernen und besser zu werden, als weiter Flaggen zu ziehen. Die Tatsache, dass Cedric ein Jahr älter und bereits in die U19 aufgestiegen war, bestärkte mich noch in meinem Wunsch, wollte ich doch unbedingt weiterhin mit ihm in einer Mannschaft spielen und die liebgewonnene Routine des gemeinsamen Trainingswegs und der Einstimmung unter der Schirmherrschaft von Mister Madden an der Playstation nicht kampflos aufgeben. Ich hatte es ja schon erwähnt: Wir Werners sind Sturköpfe, und wenn wir uns erst einmal etwas in unseren Dickschädel gesetzt haben, dann lassen wir uns davon auch nicht mehr abbringen. Notfalls gehen wir mit dem Kopf durch die Wand. Es ist keine Taktik, die ich uneingeschränkt empfehlen würde, insbesondere dann, wenn irgendwo in der Nähe eine Tür ist, aber in diesem speziellen Fall wäre die Tür zum Tackle Football für mich ja noch ein Jahr verschlossen geblieben. Ich hatte die Wahl: Wand oder gar nicht. Ich wählte Wand.

„Okay“, sagte Jörg Hofmann schließlich. Ich kann mich nicht erinnern, was er noch sagte, oder ob er überhaupt noch irgendetwas sagte, aber das spielte eigentlich auch keine Rolle, denn sein Okay war für mich schon mehr als genug.

Mit dem Beginn des Wintertrainings wurde ich Teil der U19 der Berlin Adler. Meine erste Position war die des Linebackers, der hinter der Defensive Line agiert. Das fand ich mehr als cool, denn auch Ray Lewis und Brian Urlacher von den Chicago Bears, ebenfalls ein echter Game Changer, waren Linebacker. Ich lernte die Regeln und die Kunst des Tackelns – und ich liebte es! Endlich konnte ich ohne Einschränkungen meinen Körper einsetzen, und davon hatte ich ja reichlich. Dass ich mich mit meinen 14 Jahren mit den großen Jungs im Team messen durfte, von denen die meisten bereits 18 oder 19 Jahre alt waren, war einfach geil. Es fühlte sich an, als seien Fesseln gelöst worden. Es war eine Offenbarung.

Die nötige Ausrüstung hatte ich mir von meinen mühsam angehäuften Ersparnissen gekauft und mir zu diesem Zweck zu meinem 14. Geburtstag auch nur Geld gewünscht. Ein nagelneues Set konnte ich mir dafür dennoch nicht leisten, das Geld reichte gerade für einen gebrauchten Helm und Shoulder Pads der amerikanischen Traditionsmarke Schutt, denen man ihr Vorleben ansah – und auch anroch. Nach meiner Erinnerung waren es ungefähr 150 Euro – für unsere Verhältnisse verdammt viel Kohle –, die ich mit Herzklopfen und zitternden Fingern auf den Tisch des Ladens blätterte, der übrigens heute noch existiert und den ich damals mit leuchtenden Augen verließ. Ich bin zwar kein religiöser Mensch, aber die Dinger waren mir von diesem Moment an heilig. Es war die erste große Investition meines Lebens und definitiv eine meiner besten.

Mein Helm, meine Pads. Jetzt fühlte ich mich als richtiger Footballspieler. Mit einer Einschränkung.

Mein Coach hatte recht behalten. Einerseits ging ich total darin auf, mich in jedem Training auszupowern und zu tackeln, lernte mit einer Begeisterung, die mir in der Schule fehlte, wurde von Woche zu Woche besser und schloss trotz des deutlichen Altersunterschieds zu den anderen auf. Andererseits pisste es mich aber regelrecht an, dass ich mir, als im Frühjahr darauf die neue Saison begann, am Wochenende an der Sideline die Beine in den Bauch stand, während Cedric und meine anderen Teamkollegen gegen gegnerische Mannschaften ernst machten. Nur ich durfte nicht zeigen, was ich im Training alles gelernt hatte, obwohl ich wusste, dass das mehr als genug war, um mitzumischen.

An diesem Zustand gab es nichts zu rütteln, an meiner Position dagegen schon. Mein Trainer, der ein sehr gutes Auge für die Stärken, Schwächen und Potenziale seiner Spieler hatte, machte mich vom Linebacker zum Defensive End. Er fragte gar nicht. Es war auch kein Vorschlag. Er sagte einfach irgendwann: „Björn, du bist ein Defensive End“, und ich sagte: „Okay, Coach, cool, dann bin ich jetzt ein Defensive End.“ Denn was Jörg Hofmann sagte, hatte Hand und Fuß. Also würde ich künftig mit vorgebeugtem Oberkörper und einer Hand im Gras abgestützt auf den Snap des gegnerischen Centers warten – in etwa so, wie es ein einarmiger 100-Meter-Sprinter machen würde –, um dann zu explodieren. Die neue Position am äußeren Ende der Defensive Line, an vorderster Front, an der Line of Scrimmage, gefiel mir. Ich hatte die Gegenspieler der Offensive Line vor der Nase und den Quarterback dahinter im Visier. Meine Beute. Ich wollte Quarterbacks jagen.

Der Frust darüber, dass meine Position bei den Spielen der Adler unverändert blieb (ich war sozusagen Sidelinebacker und reichte Sportgetränke), nahm mir jedoch nicht etwa die Motivation und meine Lust auf Football. Ganz im Gegenteil. Er stachelte mich nur noch mehr an. Ich schwor mir: Wenn es so weit ist, dann würde ich absolut ready sein, mehr als bereit.

In diesem Frühling des Jahres 2005 nahm ich an einem der Footballcamps teil, welche die NFL Europe regelmäßig an den Standorten ihrer Teams organisierte, um junge Talente zu sichten und zu fördern. Das Camp in Berlin fand in einer Halle auf dem Trainingsgelände von Hertha BSC statt, und es kamen Flag-Football-Talente aus ganz Berlin und dem Umland. An diesem Tag traf ich übrigens erstmals auf Patrick Esume, der zum damaligen Zeitpunkt dem Coaching Staff der gerade erst gegründeten Hamburg Sea Devils angehörte. Er war einer der zahlreichen Trainer vor Ort, die die Übungen leiteten, genau wie Shuan Fatah. Shuan, wie ich ein gebürtiger Berliner, war zu dieser Zeit für Berlin Thunder tätig und zuvor lange Jahre aktiver Spieler und Coach bei den Adlern gewesen. Heute sind Patrick und Shuan zwei der erfolgreichsten und anerkanntesten deutschen Trainer. Patrick und ich haben über die letzten Jahre sogar eine innige Football Bromance entwickelt, die cockstrong ist, und geben unsere Liebe für den Sport an die stetig wachsende Zahl der Footballfans weiter. Die Tatsache, dass ich damals 14 war und er schon ein paar Jahre Coach, beweist, dass er mittlerweile ein ziemlich alter Sack ist. Er könnte mein Vater sein. (Ich bin mir sicher, er wird diese Passage lieben.)

Natürlich setzte ich alles daran, die versammelten Coaches und Talentscouts zu beeindrucken, aber um ehrlich zu sein, ließen mich die Herren Esume und Fatah eher kalt. Ich hatte nur Augen für Christian Mohr. Der Name ist längst nicht jedem deutschen Footballfan ein Begriff. Zu Unrecht, wie ich finde. Mohr, eine 1,98 Meter große Maschine mit hellblondem Haar und dem Spitznamen „Thor“, hatte zunächst als erst 19-Jähriger in der GFL für die Düsseldorf Panther gespielt, sich dann als Defensive End bei Thunder einen Namen gemacht und auf diesem Weg den Sprung über den Großen Teich zu den Seattle Seahawks geschafft, bei denen er im Rahmen eines Förderprogramms von NFL und NFL Europe ein paar Monate zuvor einen Platz im Practice Squad erhalten hatte, dem Trainingskader. Das klingt in der heutigen Zeit vielleicht nicht spektakulär, war zur damaligen Zeit aber ein Riesenerfolg – gerade für Nicht-Amerikaner und insbesondere für einen deutschen Spieler. Wer das belächelt, der hat keinen blassen Schimmer, wie viel harte Arbeit dahintersteckt und welch großer Erfolg es allein schon ist, als Deutscher in einem NFL-Team mittrainieren zu dürfen.

Auch wenn „Thor“ Mohr für Seattle und auf seinen weiteren Stationen bei den Philadelphia Eagles und den Cleveland Browns letztendlich nie ein NFL-Spiel bestritt, war er für mich dennoch ein enormer Ansporn. Zum ersten Mal sah ich den Weg eines deutschen Footballspielers bis in die NFL ziemlich klar vorgezeichnet, und jetzt stand dieser Muskelberg auch noch leibhaftig vor mir und den anderen Jungs, die an diesem Tag ihr Können zeigten. Ein Spieler zum Anfassen, der es in die NFL geschafft hatte. Es war greifbar.

Als ich mich nach diesem schweißtreibenden und aufregenden Camp auf den Nachhauseweg machte, hatte ich nur einen Gedanken: Ich will der Nächste sein.

Morgens in der Schule träumte ich regelmäßig meinen Football-Traum, abends schwitzte ich für ihn im Stade Napoleon. Und an trainingsfreien Tagen, die zu den weniger guten Tagen der Woche zählten, stählte ich meine Muckis auf dem Spielplatz bei meinem Werner-Spezial-Workout – grimmiger Blick, rote Birne, Schweißperlen auf der Stirn und zwischen den Zähnen hervorgepresste Grunzlaute inklusive. Es würde mich nicht wundern, wenn ich dabei so manches Kleinkind plus dazugehörende Mutter verschreckt hätte.

Ich sehnte meinen nächsten Geburtstag so sehr herbei, wie ich es nur als Kleinkind getan hatte, als Aussicht bestand, den auf meinem übersichtlichen Wunschzettel an Position eins stehenden Fußball oder das heißbegehrte BMX-Rad zu bekommen. Diesmal wollte ich einfach nur eine Zahl. Die 15. Diese zwei Ziffern würden das größte Geschenk sein. Die 1 und die 5. Mehr wollte ich nicht. Es war wie ein Countdown, bei dem ich die Monate, Wochen und Tage zählte, doch lange bevor es endlich so weit war, geschah etwas ziemlich Verrücktes.

Mein Trainer war neben seinem Job bei den Adler-Junioren auch noch Defensive Backs Coach in der U19-Nationalmannschaft, und im Spätsommer 2005 stand ein Länderspiel in Frankreich gegen Frankreich an. Zu einem Trainingscamp und Tryout in Hannover im Juli sollten die besten deutschen Nachwuchsspieler eingeladen werden, um nach dem Sichtungstraining einen 75-Mann-Kader zusammenzustellen. Man muss dazu wissen, dass Jörg Hofmann nicht nur total footballverrückt ist, sondern auch ein ziemlich selbstloser Idealist, der alles dafür tat und auch riskierte, seine Spieler zu fördern – und er war auch verrückt genug, dem Coaching Staff der Nationalmannschaft vorzuschlagen, einen 14-jährigen Jungen aus Berlin einzuladen, der im Bereich Tackle Football bislang nur trainiert, noch kein Spiel bestritten hatte und auf einer Position spielte, bei der es auf Körperlichkeit ankam.

Ich kann nur vermuten, wie der Headcoach und die anderen Coaches auf seinen Vorschlag reagierten, aber es würde mich nicht wundern, wenn sie Jörg zunächst belächelten, vielleicht sogar auslachten oder für verrückt erklärten. Wie ich später erfuhr, erzählte mein Vereinstrainer ihnen, dass ich für mein Alter schon sehr weit sei und sie sich diesen riesigen Jungen unbedingt einfach anschauen sollten, es sei ja nur ein Tryout, gucken kostet nichts. Er kämpfte für mich und ließ nicht locker. Was das angeht, sind wir uns wohl sehr ähnlich.

Er muss sehr überzeugend gewesen sein oder sehr hartnäckig oder beides, jedenfalls saß ich wenig später mit meinem Coach und einer Handvoll unserer besten Adler-Junioren in einem Kleinbus auf dem Weg nach Hannover.

Man kann nicht behaupten, dass ich mit offenen Armen empfangen wurde, und ich hatte nicht das Gefühl, dass jemand außer Jörg meine Begeisterung über die Teilnahme am Tryout uneingeschränkt teilte. Die anderen Jungs kannten sich untereinander schon länger, weil sie seit Jahren in der GFL Juniors, der Jugend-Bundesliga, miteinander oder gegeneinander spielten und auch in den Auswahlteams der Bundesländer oder der Nationalmannschaft das gleiche Trikot getragen hatten. Football in Deutschland war zur damaligen Zeit eine kleine eigene Welt, in der so gut wie jeder jeden kannte. Die meisten der Anwesenden zeigten mir die kalte Schulter oder bedachten mich mit spöttischen Blicken. Nach dem Motto: Was will das Kind denn hier? Viele der eingeladenen Spieler waren längst schon 18, und in diesem Alter ist man ja nicht nur offiziell volljährig, man fühlt sich auch verdammt erwachsen. An ihrer Stelle hätte ich vermutlich dasselbe über ein blasses und schweigsames Riesenbaby wie mich gedacht, schließlich hatte sich nicht nur mein Alter schnell herumgesprochen, sondern auch die Tatsache, dass ich überhaupt noch kein einziges Footballspiel bestritten hatte. Die Reaktion auf meine Anwesenheit schwankte zwischen Unverständnis und Belustigung. Bei aller Konkurrenz im Kampf um die Kaderplätze schienen sich in meinem Fall schon alle einig, bevor das Tryout überhaupt begonnen hatte: Der hat hier nichts zu suchen.

Nicht lange danach war ich wieder mit meinem Coach Jörg Hofmann auf der Autobahn unterwegs. Ich und noch 74 andere junge Footballspieler – auf dem Weg nach Frankreich. Die erste Auslandsreise meines Lebens.

Aus meiner Sicht kann ich nur schwer einordnen, was an dem Wochenende in Hannover passiert war. Jedenfalls hatte ich einfach mein Ding gemacht, dabei die anfängliche allgemeine Ablehnung als zusätzliche Motivationsspritze genutzt und alle Drills und Spielformen mit durchgedrücktem Gaspedal durchgezogen. Meine Performance muss gut genug gewesen sein, um nicht nur Jörg, sondern auch die anderen Coaches davon zu überzeugen, mir einen der begehrten Plätze im Kader der U19-Nationalmannschaft zu geben. Fast alle der nominierten Spieler waren 18 oder 19 Jahre alt, und manche von ihnen hatten schon einen amtlichen Bartwuchs. Der zweitjüngste Spieler im Kader war gerade noch 16. Dann kam lange nichts, und dann kam ich.

Meine Nominierung sorgte in Footballkreisen natürlich für Aufsehen. Zur damaligen Zeit gab es noch kein Social Media, und die hierzulande überschaubare Szene aus Spielern, Coaches, Funktionären und Fans tobte sich in Internet-Foren aus, in denen nun erstmals mein Name auftauchte. Nachdem der Kader für das Länderspiel in Frankreich bekanntgegeben worden war, gingen natürlich die Diskussionen los, und Einträge wie „Wer ist dieser Björn Werner?“ oder „Was wollen die denn mit dem?“ gehörten noch zu den netteren. Man darf ja nicht vergessen: Meine Nominierung bedeutete, dass weitaus erfahrenere Jungs, die schon länger in der GFL Juniors spielten, keinen Platz bekommen hatten, was nun von ihnen selbst, ihren Mitspielern, Coaches, Freunden oder Mama und Papa in den Foren beklagt und kritisiert wurde. Ich nahm es zur Kenntnis. Absolut berechtigt war die vielgestellte Frage, welchen Sinn es überhaupt mache, einen Jungen zu nominieren, der noch gar nicht das Alter erreicht hatte, um überhaupt Tackle Football spielen zu dürfen.

Die Antwort war so simpel wie kurios: In Deutschland lag die Altersgrenze bei 15 Jahren, für internationale Spiele aber bei 14 Jahren. In meinem Fall bedeutete das: Für meine Adler durfte ich noch nicht spielen, mit dem Adler auf der Brust und für Deutschland dagegen schon. Ein Schlupfloch, das Jörg Hofmann, der alte Fuchs, vermutlich schon vor dem Tryout im Auge gehabt hatte. Anders als im Verein, war ich für die Nationalmannschaft also nicht nur gut genug, sondern auch alt genug. Das Spiel fand in Thonon-les-Bains statt, wunderschön gelegen auf der französischen Seite des malerischen Genfer Sees. Weniger idyllisch waren die vier Quarter für die Gastgeber, denn wir gewannen unerwartet deutlich mit 42:21. Das war ein echtes Ausrufezeichen, denn die Franzosen waren der amtierende Europameister. Sechs der 42 Punkte gingen übrigens auf meine Kappe. Mein linker Fuß hatte die Coaches in der Vorbereitung auf das Spiel derart überzeugt, dass ich kurzerhand auch noch zum Kicker bestimmt wurde und nach unseren sechs Touchdowns die Extrapunkte beisteuern konnte.

Für mich war jedoch viel entscheidender, dass ich endlich von der Kette gelassen worden war und in den Einsatzminuten als Defensive End, die man mir gönnte, ein paar schöne Tackles machen konnte. Bang! Das war unbeschreiblich geil. Es fühlte sich ganz anders an als im Training, da war eine andere Intensität im Spiel, ein anderer Spirit, mehr Adrenalin. Ich haute nun nicht mehr meine Teamkollegen und Kumpels um, sondern Fremde, die in mir einzig und allein das sahen, was ich in ihnen sah: einen Gegner.

Es ist echt verrückt, und ich kann es selbst nach all den Jahren kaum fassen: Das erste Footballspiel meines Lebens, meine ersten Tackles und Punkte in einem Wettkampf, machte ich im Trikot der deutschen Nationalmannschaft. So etwas hat es weder davor noch danach jemals wieder gegeben.

My American Football Dream

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