Читать книгу Ausgewählte Erzählungen - Band 2 - Bjørnstjerne Bjørnson - Страница 10
Zweites Kapitel
ОглавлениеDie vielen schönen Gärten der Stadt dufteten nach dem Regen in ihrer zweiten und dritten Blüte. Die Sonne ging über den mit ewigem Schnee bedeckten Gipfeln unter, der Himmel dort hinten war ein einziges feuriges Lodern, und die Firnfelder warfen den gedämpften Widerschein zurück. Die etwas näher gelegenen Berge befanden sich schon im Schatten, leuchteten aber noch in vielfarbigem Herbstlaub. Die kleinen Inselchen mitten im Fjord – die, eine hinter der anderen, mit ihrem dichten Baumbestand dem Meer zuzustreben schienen, gerade als kämen sie angerudert, boten, da sie näher lagen, ein noch stärkeres Farbenspiel als die Berge. Die See war spiegelglatt, ein großes Schiff wurde hereingewarpt. Die Leute saßen auf der Holztreppe vor ihren Häusern, halb verdeckt von den Rosenbüschen zu beiden Seiten. Man hielt von Treppe zu Treppe ein Schwätzchen, schlenderte auch zum Nachbarn hinüber oder tauschte mit den Spaziergängern, die den langen Alleen vor der Stadt zustrebten, einen Gruß aus. Irgendwo ertönte aus einem offenen Fenster Klaviermusik. Wenn die Gespräche einmal verstummten, war sonst kein Laut zu hören. Die letzten Sonnenstrahlen über dem Meer verstärkten noch das Gefühl der Stille.
Da erhob sich plötzlich mitten in der Stadt ein solcher Lärm, als ob die Stadt gestürmt würde. Jungen brüllten, Mädchen kreischten, andere Jungen wiederum schrien hurra, alte Weiber zeterten und kommandierten, der große Hund des Polizisten bellte, und sämtliche Hunde der Stadt fielen sogleich ein. Wer drinnen war, drängte hinaus, bloß hinaus! Der Radau war so ungeheuer, daß sich sogar der Amtmann auf seiner Treppe umdrehte und die Worte fallen ließ: „Dort muß etwas im Gange sein!“
„Was ist los?“ Mit dieser Frage überfielen die Spaziergänger, die von den Alleen herbeieilten, die Leute auf den Treppen. „Ja, was mag bloß los sein?“ fragten auch die auf den Treppen. „Du lieber Gott, was ist denn los?“ fragten nun alle, wenn jemand aus der Stadtmitte kam. Da sich die Stadt aber in gemächlichem Bogen halbmondförmig um eine Bucht zieht, dauerte es sehr lange, bevor alle Einwohner an beiden Enden die Antwort gehört hatten: „Es ist bloß das Fischermädchen!“
Dieses unternehmungslustige Wesen, das von einer gefürchteten Mutter beschützt wurde und sich des Beistandes aller Seeleute sicher war (denn für so etwas bekam man von der Mutter immer einen Schnaps spendiert), war an der Spitze des Jungenheeres über einen großen Apfelbaum in Pedro Ohlsens Garten hergefallen.
Ihr Schlachtplan sah folgendes vor: Ein paar Jungen sollten Pedro auf die Vorderseite des Hauses locken, indem sie seine Rosenbüsche gegen die Scheiben klatschen ließen. Gleichzeitig sollte ein anderer den Baum schütteln, der mitten im Garten stand, während dann die übrigen die Äpfel nach allen Seiten über den Zaun werfen sollten, nicht etwa um sie zu stehlen – ach, bewahre! –, nur so aus Spaß. Dieser sinnreiche Plan war am Abend zuvor hinter Pedros Garten ausgeheckt worden. Aber der Zufall wollte es, daß Pedro hinter dem Zaun gesessen und jedes Wort mitangehört hatte. Darum hatte er sich kurz vor der festgesetzten Zeit den versoffenen Polizisten der Stadt mit seinem großen Hund ins Hinterzimmer geholt, wo beide bewirtet wurden. Als nun der Wuschelkopf des Fischermädchens über dem Plankenzaun auftauchte und zur gleichen Zeit von allen Seiten viele kleine Frechdachsgesichter herüberschauten, ließ Pedro die Schlingel vor dem Haus die Rosenbüsche aus Leibeskräften gegen die Scheiben klatschen – er blieb ruhig im Hinterstübchen sitzen. Als aber alle mucksmäuschenstill um den Baum im Garten versammelt waren und das Fischermädchen barfüßig und zerkratzt oben in der Spitze saß, um zu schütteln, flog die Verandatür auf, und Pedro und der Polizist stürmten mit Stöcken heraus, das Ungeheuer von einem Hund hinter ihnen her! Die Jungen stießen einen Schrei des Entsetzens aus. Eine Schar kleiner Mädchen, die in aller Unschuld vor dem Plankenzaun Greifen spielte, glaubte, da drinnen sollte jemand umgebracht werden, und kreischte entsetzt los. Die Jungen, die entwischt waren, riefen hurra, die noch am Zaun hingen, heulten unter dem Tanz des Stockes, und um das Ganze vollständig zu machen, tauchten gleichsam aus dem Nichts – wie stets, wo Jungen lärmen – ein paar alte Weiber auf, die in das Geschrei einstimmten. Pedro und der Polizist waren selber entsetzt und mußten sich erst mit den alten Frauen in Verhandlungen einlassen. Inzwischen rissen die Jungen jedoch aus. Der Hund, vor dem sie die meiste Angst hatten, sprang über den Zaun und setzte ihnen nach – denn dies war so recht nach seinem Geschmack! –, und nun stiebten sie, Jungen und Mädchen, Hund und Schreie, wie die wilden Enten durch die ganze Stadt.
Währenddessen saß das Fischermädchen ganz still auf dem Baum und dachte, niemand hätte es bemerkt. Zusammengekauert verfolgte sie von hoch oben durch das Laub den Verlauf der Schlacht. Als aber der wutschnaubende Polizist zu den alten Frauen hinausgegangen und Pedro Ohlsen allein im Garten geblieben war, stellte er sich direkt unter den Apfelbaum, sah hinauf und rief: „Komm augenblicklich runter, du Teufelsbraten!“ Nicht ein Mucks drang aus dem Baum. „Willst du wohl runterkommen, sag ich! Ich weiß, daß du dort oben bist!“ Absolute Stille. „Jetzt geh ich rein und hol mein Gewehr und dann schieß ich dich runter!“ Er tat, als wolle er gehen.
„Hu-hu-hu!“ machte es oben im Baum.
„Ja, plärr du nur, denn nun kriegst du eine ganze Schrotladung in den Leib!“
„U-hu, hu, hu, hu!“ heulte es eulengleich. „Ich hab ja solche Angst!“
„Ach, den Teufel hast du. Du bist der schlimmste Tunichtgut der ganzen Meute, aber nun hab ich dich!“
„Ach, lieber, guter, netter Herr Ohlsen! Ich will es auch nie wieder tun!“
Im selben Augenblick schleuderte sie ihm einen faulen Apfel genau auf die Nase, und ihr unbändiges Jubellachen erschallte hinterdrein, denn der Apfel spritzte ihn von oben bis unten voll, und während er sich abputzte, sprang sie herab. Sie hing schon am Zaun, bevor er ihr folgen konnte, und sie wäre auch hinübergelangt, wenn sie nicht plötzlich aus Angst, daß er schon dicht hinter ihr sei, losgelassen hätte, statt ruhig weiterzuklettern. Als er sie aber festhielt, fing sie an zu kreischen. Gellend, ohrenbetäubend schrill und markerschütternd. Entsetzt ließ er sie los. Auf ihr Schreckenssignal strömten die Leute vor dem Plankenzaun zusammen. Sie hörte es und bekam sofort wieder Mut.
„Lassen Sie mich los, oder ich sag das meiner Mutter!“ drohte sie und war ein einziges Feuer und Funkeln.
Da kam ihm dieses Gesicht plötzlich bekannt vor, und er schrie: „Deine Mutter? Wer ist deine Mutter?“
„Gunlaug vom Hang, Fisch-Gunlaug!“ erwiderte das Kind triumphierend, denn es sah, daß er Angst bekam. Kurzsichtig, wie er war, hatte er das Mädchen noch nie so genau zu Gesicht bekommen. Er war der einzige in der Stadt, der nicht wußte, wer sie war. Ja, er wußte nicht einmal, daß Gunlaug wieder in der Stadt war.
Wie besessen schrie er: „Wie heißt du?“
„Petra!“ schrie sie noch lauter.
„Petra!“ wimmerte Pedro, drehte sich um und lief auf das Haus zu, als hätte er mit dem Teufel selber gesprochen. Weil sich aber der bleicheste Schrecken und der bleicheste Zorn gleichen, glaubte sie, er stürze hinein, um das Gewehr zu holen. Da packte sie die Angst, sie fühlte schon die Schrotladung in ihrem Hintern, und da in diesem Moment die Pforte von draußen aufgebrochen wurde, fegte sie wie das leibhaftige Entsetzen hinaus. Ihr schwarzes Haar flatterte hinter ihr her, die Augen sprühten Feuer. Der Hund, der ihr entgegenkam, machte kehrt und jagte ihr bellend nach. Und so fiel sie über die Mutter her, die gerade mit einer Schüssel voll Suppe aus der Küche kam. Und das Mädchen rein in die Suppe, und die Suppe auf den Boden und ein „Ach, zum Teufel noch mal!“ beiden hinterher.
Doch noch in der Suppe liegend, brüllte sie: „Er will mich totschießen, Mutter, er will mich totschießen!“
„Wer will dich totschießen, du Troll?“
„Na, Pedro Ohlsen!“
„Wer?“ schrie die Mutter.
„Pedro Ohlsen, wir haben seine Äpfel geklaut.“ Sie wagte nie etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.
„Von wem redest du da, Kind?“
„Von Pedro Ohlsen, er kommt mit einem großen Gewehr hinter mir her, er will mich totschießen!“
„Pedro Ohlsen!“ stieß die Mutter schnaubend hervor und brach dann in Gelächter aus. Sie schien noch größer geworden zu sein. Petra fing an zu weinen und wollte weglaufen. Doch mit einem Satz war die Mutter über ihr und hielt sie fest. Die weißen Zähne blitzten raubtierartig. Sie packte Petra bei den Schultern und zog sie hoch: „Hast du gesagt, wer du bist?“
„Ja, ja, ja, ja!“ Das Kind hob flehend die Hände.
Da richtete sich die Mutter zu ihrer vollen Größe auf. „Also weiß er es nun! Was hat er gesagt?“
„Er lief rein, um das Gewehr zu holen, er wollte mich totschießen.“
„Der und dich totschießen!“ Sie lachte in wildem Hohn.
Von Kopf bis Fuß mit Suppe beschmiert, hatte sich das Kind verschreckt in einen Winkel verkrochen und putzte sich weinend sauber, als die Mutter wieder zurückkam.
„Wenn du dich je wieder unterstehst, zu ihm zu gehen“, sagte sie, packte Petra und schüttelte sie, „oder mit ihm zu reden oder ihm auch nur zuzuhören, dann gnade euch beiden Gott! Bestell ihm das von mir!“ fügte sie drohend hinzu, als das Kind nicht sofort antwortete.
„Ja, ja, ja, ja!“
„Bestell ihm das von mir!“ wiederholte sie, diesmal leise, und dabei nickte sie zu jedem Wort, und dann ging sie.
Das Mädchen wusch sich, zog sich um und setzte sich in seinen Sonntagssachen auf die Treppe vorm Haus. Aber bei der Erinnerung an den ausgestandenen Schrecken mußte sie wieder schluchzen.
„Weshalb weinst du, Kind?“ fragte da eine Stimme so freundlich, wie Petra noch keine gehört hatte.
Sie sah auf. Vor ihr stand ein feingliedriger Mann mit Brille und schmalem Gesicht. Sie erhob sich sofort, denn das war Hans Ødegaard, ein junger Mann, vor dem sich alle in der Stadt erhoben.
„Weshalb weinst du, Kind?“
Sie blickte ihn an und erzählte, daß sie „mit noch ein paar Jungen“ Äpfel aus Pedro Ohlsens Garten mausen wollte. Aber dann seien Pedro und der Polizist gekommen und dann ... Ihr fiel ein, daß die Mutter das mit dem Totschießen wohl doch nicht so ernst genommen hatte, und deshalb wagte sie nicht, es zu erwähnen. Dafür gab sie jedoch einen langen Seufzer von sich.
„Ist es möglich“, sagte er, „daß ein Kind in deinem Alter eine so große Sünde begehen kann?“
Petra sah ihn an. Sie hatte zwar gewußt, daß das eine Sünde war, hatte es aber immer nur auf folgende Weise verkündet bekommen: „Du Satansbraten, du schwarzgelockter Teufel, du!“ Nun schämte sie sich plötzlich.
„Warum gehst du nicht in die Schule und lernst die Gebote, die Gott uns gegeben hat, damit wir wissen, was gut und böse ist?“
Sie strich an ihrem Kleid herum und antwortete, ihre Mutter wolle nicht, daß sie in die Schule gehe.
„Da kannst du vielleicht nicht einmal lesen?“
Doch, lesen könne sie.
Er zog ein kleines Buch hervor und reichte es ihr. Sie schaute hinein, drehte es um und besah es sich von außen.
„Solche feine Schrift kann ich nicht lesen“, sagte sie.
Aber sie mußte lesen, mochte sie nun wollen oder nicht. Und mit einemmal machte sie einen ausgesprochen dümmlichen Eindruck: Mund und Augen waren wie tot, alle Gliedmaßen erschlafften.
„G-o-t-t d-e-r H-e-r-r, Gott der Herr s-p-r-a-c-h, Gott der Herr sprach zu M-M ...“
„Du meine Güte, du kannst ja noch nicht einmal lesen! Und das bei einem Kind von zehn, zwölf Jahren! Möchtest du denn nicht gern lesen lernen?“
Schleppend brachte Petra schließlich hervor, daß sie es schon gern lernen wolle.
„Dann komm mit, wir können sofort anfangen!“
In Petra kam Bewegung, doch nur, um einen Blick ins Haus zu werfen.
„Ja, sag deiner Mutter nur Bescheid“, meinte er.
Die Mutter ging gerade vorbei, und als sie das Kind mit einem Fremden reden sah, trat sie auf die Steinstufen hinaus.
„Er will mir das Lesen beibringen“, erklärte das Kind unschlüssig, die Augen auf die Mutter gerichtet.
Die antwortete nicht, stemmte beide Arme in die Hüften und musterte Ødegaard.
„Ihr Kind ist völlig unwissend“, sagte er. „Sie können es vor Gott und den Menschen nicht verantworten, es so heranwachsen zu lassen.“
„Wer bist du denn“, fragte Gunlaug scharf.
„Hans Ødegaard, der Sohn des Pfarrers.“
Ihr Gesicht hellte sich ein wenig auf! Über ihn hatte sie nur Gutes gehört.
Er fuhr fort: „Wenn ich hin und wieder einmal zu Hause gewesen bin, ist mir dieses Kind stets aufgefallen. Heute bin ich erneut aufmerksam geworden. Es darf sich nicht länger nur in bösen Dingen üben.“
Der Gesichtsausdruck der Mutter sprach eine deutliche Sprache: „Was geht das dich an?“
Trotzdem fragte er ruhig: „Sie soll doch etwas lernen?“
„Nein!“
Eine leichte Röte flog über sein Gesicht. „Weshalb nicht?“
„Sind die, die was gelernt haben, vielleicht besser?“ Sie hatte nur eine Erfahrung gemacht, doch an der hielt sie fest.
„Es wundert mich, daß ein Mensch so etwas fragen kann!“
„Doch, ja! Ich weiß, sie sind nicht besser.“ Sie kam die Treppe herunter, um dem Gerede ein Ende zu machen.
Er vertrat ihr jedoch den Weg. „Dies ist eine Pflicht, der Sie sich nicht entziehen dürfen. Sie sind eine unvernünftige Mutter!“
Gunlaug maß ihn von Kopf bis Fuß. „Wer sagt dir, was ich bin?“ entgegnete sie, während sie an ihm vorbeiging.
„Sie selber, und das gerade in diesem Augenblick. Denn sonst müßten Sie bemerkt haben, daß dieses Kind zugrunde geht!“
Gunlaug fuhr herum. Auge ruhte in Auge. Sie sah, er blieb bei seinen Worten, und Angst beschlich sie. Sie hatte nur mit Seemännern und Kaufleuten Umgang gehabt. Eine solche Sprache hatte sie noch nie gehört.
„Was willst du mit meinem Kind?“ fragte sie.
„Es lehren, was es zu seinem Seelenheil braucht, und dann abwarten, was aus ihm wird.“
„Mein Kind soll werden, was ich will.“
„Nein, es soll werden, was Gott will.“
Gunlaug schaute verdutzt drein. „Was heißt das?“ fragte sie und trat näher.
„Das heißt, sie soll das lernen, wozu ihr die Gaben verliehen worden sind, denn dafür hat Gott sie uns ja gegeben.“
Gunlaug trat ganz dicht an ihn heran. „Ich soll wohl gar nicht über sie zu bestimmen haben, ich, ihre leibliche Mutter?“ fragte sie, als wollte sie wirklich eine Lehre annehmen.
„Das sollen Sie, aber Sie müssen dabei den Rat derer beherzigen, die es besser wissen. Und Sie müssen dem Willen unseres Herrn folgen.“
Gunlaug stand eine Weile still da. „Und wenn sie nun zuviel lernt?“ meinte sie. „Armer Leute Kind“, fügte sie hinzu und blickte ihre Tochter zärtlich an.
„Wenn sie für ihren Stand zuviel lernt, hat sie damit einen anderen Stand erreicht.“
Gunlaug erfaßte sofort den Sinn seiner Worte, aber mit einem immer schwermütigeren Blick auf das Kind sagte sie mehr zu sich selber: „Das ist gefährlich.“
„Darum geht es nicht“, erwiderte er freundlich, „es geht darum, was recht ist.“
In ihre energisch dreinblickenden Augen trat ein eigentümlicher Ausdruck. Wieder sah sie ihn durchdringend an. Aber in seiner Stimme, seinen Worten, seinem Gesicht lag so viel Wahrheit, daß sich Gunlaug geschlagen fühlte. Sie ging zu ihrem Kind, umfaßte seinen Kopf mit beiden Händen und konnte kein einziges Wort hervorbringen.
„Ich werde das Mädchen von nun an bis zu seiner Konfirmation unterrichten“, sagte er, um ihr zu helfen. „Ich werde mich um sie kümmern.“
„Und dann willst du sie mir wegnehmen?“
Er stutzte und blickte sie fragend an.
„Du verstehst das bestimmt besser als ich“, stieß sie hervor, „aber wenn du nicht unsern Herrgott erwähnt hättest ...“ Sie verstummte.
Inzwischen hatte sie ihrer Tochter das Haar glattgestrichen. Nun nahm sie ihr Halstuch ab und band es dem Kind um. Nur auf diese Weise brachte sie zum Ausdruck, daß das Mädchen mit ihm gehen durfte, doch als wollte sie es nicht mit ansehen, verschwand sie rasch hinter dem Haus.
Bei diesem Verhalten der Mutter empfand er plötzlich Angst vor der Aufgabe, die er in jugendlichem Eifer übernommen hatte. Das Kind aber empfand Angst vor ihm, der als erster ihre Mutter besiegt hatte, und mit dieser Angst gingen sie beide an ihre erste Unterrichtsstunde.
Er hatte jedoch bald den Eindruck, daß sie von Tag zu Tag an Klugheit und Wissen gewann, und seine Gespräche mit ihr nahmen manchmal ganz von allein eine höchst seltsame Wendung. Oft führte er ihr Gestalten aus der Bibelund Weltgeschichte vor Augen, indem er darauf hinwies wozu sie von Gott berufen worden waren. Er verweilte bei Saul, der in blindwütigem Eifer durch die Welt trieb, und bei dem Knaben David, der die Herde seines Vaters hütete, bis Samuel zu beiden kam und die Hand des Herrn auf sie legte. Dieses Berufensein offenbarte sich jedoch am stärksten, als der Herr selbst auf Erden wandelte, bei den Fischern am Meer rastete und seine Stimme unter ihnen erhob. Und der ärmste unter ihnen folgte ihm nach – zu Not und Tod, doch stets voller Freudigkeit, denn das Gefühl, berufen zu sein, hilft uns über alle Widrigkeiten hinweg.
Dieser Gedanke ließ sie nicht los, und schließlich hielt sie es nicht länger aus, sie mußte ihn nach ihrer Berufung fragen. Er sah sie an, bis sie rot wurde, und erwiderte dann, daß man nur durch Arbeit zu seiner Berufung finde. Sie könne klein und bescheiden sein, berufen aber sei jeder.
Nun überkam sie ein großer Eifer, der ihre Arbeit mit der Kraft eines Erwachsenen antrieb, er durchglühte ihre Spiele und ließ sie abmagern. Abenteuerliche Sehnsüchte erwachten in ihr. Sie wollte sich das Haar abschneiden, sich als Junge verkleiden und in die Welt hinausziehen, um Heldentaten zu vollbringen! Doch als ihr Lehrer eines Tages sagte, sie habe so schönes Haar, wenn sie es nur flechten würde, fand sie Gefallen daran und verzichtete ihrem langen Haar zuliebe auf allen Heldenruhm.
Seitdem war ihr mehr als früher daran gelegen, ein Mädchen zu sein, und ihre Arbeit schritt, von wechselnden Träumen umschwebt, ruhiger voran.