Читать книгу Ausgewählte Erzählungen - Band 2 - Bjørnstjerne Bjørnson - Страница 11
Drittes Kapitel
ОглавлениеHans Ødegaards Vater war als junger Bursche aus dem Kirchspiel Ødegaard im Bistum Bergen ausgewandert. Fremde hatten sich seiner angenommen, und nun war er ein gelehrter Mann und strenger Prediger. Und überdies ein unnachsichtiger Mann, nicht so sehr in seinen Worten als vielmehr in seinen Taten, denn „er merkte sich alles gut“, wie es hieß. Dieser Mann, der durch Zähigkeit erreicht hatte, was er wollte, sollte dort scheitern, wo er es am wenigsten erwartete und wo es ihn am meisten schmerzte.
Er hatte drei Töchter und einen Sohn. Dieser Sohn, Hans, war die Leuchte der Schule. Der Vater kümmerte sich selbst um seine Erziehung und hatte täglich seine Freude an ihm. Hans besaß einen Freund, dem er half, ihm in der Schule ebenbürtig zu werden, und der ihn deshalb nach seiner Mutter über alles in der Welt liebte. Zusammen gingen sie zur Schule und zusammen zur Universität. Zusammen legten sie die beiden ersten Examen ab, und zusammen sollten sie nun mit demselben Studium beginnen. Eines Tages, als sie gerade einen Studienplan abgesprochen hatten und gutgelaunt die Treppe hinuntergingen, warf sich Hans in einer Anwandlung von Übermut und Ausgelassenheit dem Freund auf den Rücken, der jedoch so unglücklich fiel, daß er ein paar Tage später an den Folgen dieses Sturzes verschied. Der Sterbende bat seine Mutter, die Witwe war und nun ihr einziges Kind verlor, ihm zuliebe Hans an Sohnes Statt anzunehmen. Die Mutter starb fast gleichzeitig mit ihrem Sohn, in ihrem Testament aber hatte sie Hans Ødegaard zum Erben ihres sehr beträchtlichen Vermögens ernannt. Es dauerte fast ein Jahr, bevor sich Hans von diesem Schlag erholen konnte. Eine längere Auslandsreise versetzte ihn wenigstens in die Lage, daß er sein Theologiestudium zum Abschluß bringen konnte. Er war jedoch nicht zu bewegen, sein Amt anzutreten.
Der Vater hatte seine ganze Hoffnung darauf gesetzt, den Sohn einst als Vikar an seiner Seite zu sehen. Doch nun war der nicht zu überreden, auch nur ein einziges Mal auf die Kanzel zu steigen. Er gab immer die gleiche Antwort: er fühle sich nicht berufen. Dies war für den Vater eine bittere Enttäuschung, die ihn um Jahre altern ließ. Er war erst spät zu Amt und Würden gelangt und bereits ein alter Mann, der hart und stets mit jenem Ziel vor Augen gearbeitet hatte. Nun lebte sein Sohn mit ihm unter einem Dach, bewohnte im ersten Stock eine Reihe prachtvoll eingerichteter Zimmer. Darunter aber, in seinem kleinen Arbeitszimmer, saß beim Schein der Lampe, die ihm in die Nacht des Alters hinüberleuchtete, der unermüdlich arbeitende betagte Pfarrer. Nach dieser Enttäuschung konnte und wollte er weder fremde Hilfe annehmen, noch mochte er sich dem Wunsch seines Sohnes fügen und sein Amt niederlegen. Darum kannte er weder im Sommer noch im Winter Ruhe. Der Sohn dagegen unternahm jedes Jahr eine längere Auslandsreise. Wenn er zu Hause war, verkehrte er mit niemandem, saß nur während der Mahlzeiten mehr oder minder schweigsam am Tisch des Vaters. Forderte ihn aber jemand zu einem Gespräch heraus, stieß er schon bald auf eine so überlegene Klarheit und einen solchen Wahrheitseifer, daß die Unterhaltung stets in Gefahr geriet. Er ging nie in die Kirche, gab jedoch mehr als die Hälfte seiner Einkünfte für wohltätige Zwecke aus, und stets mit den genauesten Vorschriften für ihre Verwendung.
Diese Wohltätigkeit unterschied sich in ihrer Großartigkeit so sehr von den kleinlichen Gewohnheiten des Städtchens, daß sie alle überwältigte. Nimmt man dazu noch seine Zurückgezogenheit, seine ständigen Auslandsreisen und die Scheu aller, mit ihm zu reden, dann begreift man vielleicht, daß er in den Augen der Leute zu einem reichlich mystischen Wesen geworden war, dem man alle möglichen geheimnisvollen Fähigkeiten zuschrieb. Als sich dieser Mann herabließ, das Fischermädchen in seine tägliche Fürsorge miteinzubeziehen, war es geadelt.
Nun wollte sich jeder ihrer annehmen, besonders die Frauen. Eines Tages erschien sie in allen Farben des Regenbogens gekleidet. Sie hatte alles, was sie geschenkt bekommen hatte, angezogen und glaubte nun so recht nach seinem Geschmack zu sein, da er doch wollte, daß sie immer nett und ordentlich aussah. Aber kaum hatte er sie erblickt, da untersagte er ihr sogleich, je wieder etwas anzunehmen. Er nannte sie eitel und töricht, sie setze sich keine rechten Ziele und habe an Narrenstreichen ihre Freude. Als sie am nächsten Morgen mit verweinten Augen kam, nahm er sie auf einen Spaziergang vor die Stadt mit. Nun erzählte er ihr von David, so wie er oft bald diese, bald jene Gestalt herausgriff und ihr Bekanntes in neuem Licht darstellte. Zuerst schilderte er David in seiner Jugend: schön und stark, voll sorglosen Glaubens. Deshalb habe er auch, noch bevor er erwachsen war, im Triumphzug mitmarschieren dürfen. Der Hirte wurde zum König ernannt, er, der in Höhlen gewohnt hatte, erbaute schließlich Jerusalem. In prächtige Gewänder gekleidet, saß er mit der Harfe zu Sauls Füßen und spielte für den kranken König. Als er aber selbst ein kranker König war, sang und spielte er, in das Lumpengewand der Reue gehüllt, für sich allein. Als er sein großes Werk vollendet hatte, ruhte er in Sünden aus. Da erschien der Prophet und mit ihm die Strafe, und David wurde wieder zum Kind. Er, der es vermocht hatte, das ganze Volk des Herrn zum Lobgesang zu erheben, lag nun selber gebrochen zu Füßen des Herrn. Wann aber war er am schönsten: als er im Schmuck der Siegerkrone zu seine eigenen Liedern vor der Bundeslade hertanzte oder als er im stillen Kämmerlein um Gnade flehte vor der strafenden Hand?
In der Nacht nach diesem Gespräch hatte Petra einen Traum, den sie ihr Leben lang nicht vergaß: Sie saß auf einem weißen Pferd im Triumphzug, während sie gleichzeitig in Lumpen vor dem Pferd hertanzte.
Einige Zeit danach ging Pedro Ohlsen, der sich ihr, wie sie bemerkt hatte, seit jenem Tag in seinem Garten immer wieder zu nähern versuchte, dicht an jener Stelle am Waldrand oberhalb der Stadt vorüber, wo sie saß und ihre Hausaufgaben erledigte. Mit einem seltsamen Lächeln flüsterte er ihr ein „Guten Abend!“ zu. Obgleich inzwischen Jahre vergangen waren, stand das Verbot der Mutter, niemals wieder mit ihm zu reden, noch so lebendig vor ihr, daß sie nicht antwortete. Trotzdem kam er Tag für Tag immer auf die gleiche Weise und stets mit dem gleichen Gruß dort vorbei. Zuletzt vermißte sie ihn, wenn er einmal nicht kam. Bald stellte er im Vorbeigehen eine kurze Frage, bald wurden daraus zwei, und schließlich erwuchsen daraus Gespräche. Nach einem solchen Gespräch ließ er eines Tages einen Silbertaler in ihren Schoß gleiten und lief dann sogleich seelenvergnügt davon. Nun verstieß das sowohl gegen das Verbot der Mutter, mit ihm zu reden, als auch gegen das Ødegaards, von irgend jemandem Geschenke anzunehmen. Das erste Gebot hatte sie nach und nach übertreten, doch nun, da das dazu geführt hatte, daß sie auch das zweite übertrat, erinnerte sie sich wieder daran. Um das Geld loszuwerden, lud sie den erstbesten, der ihr über den Weg lief, ein und bewirtete ihn freigebig. Trotz aller Mühe war es ihnen aber nicht möglich, für mehr als vier Vierundzwanzig-Schillingstücke zu naschen. Danach bereute sie es jedoch, den Taler, statt ihn zurückzugeben, verschwendet zu haben. Das letzte Vierundzwanzig-Schillingstück, das noch in ihrer Tasche steckte, brannte, als könnte es Löcher in ihre Kleidung sengen. Sie holte es heraus und warf es ins Meer. Damit war sie den Taler aber trotzdem nicht los. Er hatte sich in ihr Denken eingebrannt. Wenn sie es gestand, würde es vorübergehen, das fühlte sie. Doch der furchtbare Wutausbruch der Mutter damals und auch Ødegaards festes Vertrauen zu ihr standen dabei im Wege, jedes auf seine Weise gleich schrecklich. Während der Mutter nichts auffiel, entdeckte Ødegaard bald, daß sie sich mit etwas herumschlug, das sie unglücklich machte. Liebevoll fragte er sie eines Tages, was sie bedrücke, und als sie, statt zu antworten, in Tränen ausbrach, nahm er an, bei ihr zu Hause herrsche Not, und schenkte ihr zehn Speziestaler. Daß sie, obgleich sie sich doch gegen ihn versündigt hatte, Geld von ihm erhielt, beeindruckte sie tief, und da es obendrein Geld war, das sie offen und ehrlich ihrer Mutter geben konnte, ehrliches Geld also, empfand sie dies als Freispruch von ihrer Schuld, und sie überließ sich der innigsten Freude. Mit beiden Händen ergriff sie seine Hand, sie bedankte sich und sprang umher. Das Entzücken strahlte durch ihre Tränen, während sie ihn ansah wie ein Hund seinen Herrn, wenn er ihn in die freie Natur begleiten darf. Er erkannte sie nicht wieder. Sie, die er sonst völlig in der Gewalt seiner Worte hatte, nahm ihm nun die Zügel aus der Hand. Zum erstenmal erlebte er, wie sich eine starke, wilde Natur entlud, zum erstenmal sandte die Quelle des Lebens ihren roten Strom über ihn hinweg – und purpurheiß wich er zurück. Petra aber war wie der Blitz zur Tür hinaus und zu den Hügeln hinauf, um sich den Weg nach Hause abzukürzen. Dort legte sie das Geld der Mutter auf den Küchentisch und fiel ihr um den Hals.
„Wer hat dir das Geld gegeben?“ fragte die Mutter und war schon in Harnisch.
„Ødegaard, Mutter. Er ist der großartigste Mensch der Welt!“
„Was soll ich damit?“
„Das weiß ich nicht. – Gott, Mutter, wenn du wüßtest!“ Sie fiel der Mutter wieder um den Hals. Nun konnte, nun wollte sie ihr alles sagen! Doch die Mutter machte sich ungeduldig los.
„Soll ich etwa Armenhilfe annehmen, willst du das? Bring ihm sofort das Geld zurück! Wenn du ihm eingeredet haben solltest, daß ich welches brauche, dann hast du gelogen!“
„Aber Mutter!“
„Bring ihm auf der Stelle das Geld zurück, sag ich, oder ich bringe es ihm selber und werf es ihm an den Kopf ..., diesem – der mir mein Kind weggenommen hat!“ Ihr Mund zuckte bei den letzten Worten.
Petra wich, blasser und immer blasser, zurück, öffnete langsam die Tür und verließ ebenso langsam das Haus. Bevor es ihr recht bewußt war, hatten die Finger den Talerschein zerrissen. Als sie es merkte, löste das bei ihr einen Wutausbruch gegen die Mutter aus. Aber Ødegaard durfte nichts davon erfahren – doch, alles sollte er erfahren! Er durfte nicht belogen werden. Einen Augenblick später war sie in seiner Wohnung und gestand ihm alles: daß die Mutter das Geld nicht annehmen wolle und daß sie selber den Geldschein vor Empörung, weil sie ihn zurückbringen sollte, zerrissen habe. Sie wollte noch mehr hinzufügen, doch er hörte sie voller Kälte an. Er bat sie, gleich nach Hause zu gehen und gab ihr die Ermahnung mit auf den Weg, ihrer Mutter stets, selbst wenn es einmal schwerfiele, gehorsam zu sein. Dies kam ihr jedoch recht seltsam vor, denn soviel wußte sie: Er tat auch nicht, was sich sein Vater am meisten wünschte!
Auf dem Nachhauseweg brach der Sturm in ihr los, und gerade da begegnete ihr Pedro Ohlsen. Sie war ihm die ganze Zeit aus dem Wege gegangen, und sie wollte es auch jetzt wieder tun, denn von ihm rührte ja schließlich alles Unglück her.
„Wo bist du gewesen?“ fragte er und folgte ihr. „Ist dir was zugestoßen?“
In ihrem Gemüt schlugen die Wogen so hoch, daß sie ihnen völlig ausgeliefert war. Wenn sie es recht bedachte, dann begriff sie überhaupt nicht, weshalb ihr die Mutter ausgerechnet den Umgang mit ihm verboten hatte. Das war wohl auch bloß so ein Einfall, dieser wie jener.
„Weißt du, was ich getan hab?“ sagte er fast demütig, als sie stehengeblieben war. „Ich hab dir ein Segelboot gekauft. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust zum Segeln“, und er lachte.
Seine Demut, die etwas von der Bitte eines Bettlers hatte, vermochte sie gerade jetzt zu rühren. Sie nickte – und da wurde er lebhaft. Er flüsterte eifrig, sie solle die Allee, die rechts um die Stadt herumführe, bis zu dem großen gelben Bootsschuppen entlanggehen. Da werde er sie dann abholen. Dort könnten sie von niemandem gesehen werden. Sie ging hin, und er kam, froh, doch ehrerbietig wie ein ältliches Kind, und nahm sie an Bord. Eine Zeitlang kreuzten sie in der leichten Brise, legten dann bei einer kleinen Insel an, wo sie das Boot festmachten und an Land gingen. Er hatte für sie allerlei Näschereien mit, die er ihr voll furchtsamer Freude anbot, und dann zog er seine Flöte hervor und spielte. Als sie seine Freude sah, vergaß sie für eine Weile ihren Kummer, und da die Freude schwacher Menschen wehmütig stimmt, gewann sie ihn plötzlich lieb.
Von diesem Tag an hatte sie ein neues und ständiges Geheimnis vor ihrer Mutter, und dies führte bald dazu, daß sie die Mutter aus allem heraushielt. Und Gunlaug fragte nicht. Sie vertraute grenzenlos, bis sie grenzenlos mißtraute.
Aber auch vor Ødegaard hatte Petra von diesem Tag an Geheimnisse, denn sie nahm von Pedro Ohlsen viele Geschenke an. Auch Ødegaard fragte nicht. Doch mit jedem Tag verlegte er den Unterricht auf unpersönlichere Gebiete.
Petra war nun also zwischen den Dreien geteilt. Bei keinem erwähnte sie die anderen, und vor jedem hatte sie etwas Bestimmtes zu verheimlichen.
Unterdessen war sie, ohne es selber zu merken, erwachsen. Und eines Tages eröffnete ihr Ødegaard, daß sie nun konfirmiert werden solle.
Diese Nachricht erfüllte sie mit großer Unruhe, denn wie sie wußte, ging damit auch der Unterricht bei ihm zu Ende. Und was sollte dann werden? Die Mutter ließ den Dachboden ausbauen, damit Petra nach der Konfirmation ihr eigenes Zimmer habe. Das ständige Hämmern und Klopfen erinnerte das Mädchen schmerzlich an diesen Tag. Ødegaard sah, daß Petra stiller und stiller wurde, und manchmal sah er auch, daß sie geweint hatte. Unter diesen Umständen machte der Konfirmandenunterricht einen starken Eindruck auf sie, obgleich Ødegaard mit großer Sorgfalt alles vermied, was sie hätte beunruhigen können. Deshalb schloß er auch bereits vierzehn Tage vor der Konfirmation den Unterricht mit der kurzen Bemerkung ab, daß dies die letzte Stunde gewesen sei. Hiermit meinte er die letzte Unterrichtsstunde, die er ihr erteilte, denn er wollte auch weiterhin für sie sorgen, wenn auch nun durch andere. Wie erstarrt blieb sie sitzen. Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Sie konnte den Blick nicht von ihm lösen. Und unwillkürlich gerührt, beeilte er sich, einen Grund für seinen Entschluß anzugeben.
„Nicht alle jungen Mädchen sind bei ihrer Konfirmation bereits erwachsen. Aber du spürst sicher selber, daß du es bist.“
Hätte sie im Schein eines großen Feuers gestanden, sie hätte nicht tiefer erröten können als bei diesen Worten. Sie atmete heftig, die Augen blickten unsicher und füllten sich mit Tränen, und wie gehetzt fügte er hinzu: „Oder wollen wir trotzdem fortfahren?“
Erst hinterher wurde ihm bewußt, was er ihr da vorgeschlagen hatte. Das war ein Fehler gewesen. Er wollte ihn rückgängig machen. Doch schon sah sie zu ihm auf. Ihre Lippen sagten zwar nicht ja, aber ausdrucksvoller hätte es sich nicht sagen lassen. Um sich durch einen Vorwand vor sich selber zu rechtfertigen, fragte er: „Sicher möchtest du nun gern etwas Besonderes tun, etwas, wozu du“, er beugte sich zu ihr hinüber, „dich berufen fühlst, Petra?“
„Nein!“ erwiderte sie so hastig, daß er rot wurde und – abgekühlt – in seine eigenen jahrelangen Grübeleien zurücksank. Ihre unerwartete Antwort hatte sie wieder zum Leben erweckt.
Daß sich in ihr etwas Eigentümliches regte, daran hatte er nicht gezweifelt, seit er sie als Kind singend an der Spitze der Jungenschar der Stadt hatte marschieren sehen. Je länger er sie jedoch unterrichtete, desto weniger wurde er aus ihrer Begabung klug. Sie sprach aus jeder ihrer Bewegungen. Was sie dachte, was sie wollte – Geist und Glieder verkündeten es gleichzeitig, aus einer Fülle von Kraft heraus, die Schönheit umglänzte. Doch in Worte gekleidet und vor allem in schriftlicher Form wurden daraus nur lauter Kindereien. Sie sah aus wie die verkörperte Phantasie, er aber empfand es vor allem als Unruhe. Sie war sehr fleißig, doch ihr Streben zielte weniger darauf ab, etwas zu lernen, als vielmehr weiterzukommen; am meisten beschäftigte sie, was auf der nächsten Seite stand. Sie hatte Sinn fürs Religiöse, aber, wie sich der Propst ausdrückte, „keine Anlage zu einem religiösem Leben“, und Ødegaard war ihretwegen oft bekümmert. Nun stand er gleichsam wieder dort, wo er angefangen hatte. Unwillkürlich versetzte er sich in Gedanken wieder vor die Steintreppe, wo er Petra in Empfang genommen hatte. Er hörte die scharfe Stimme der Mutter, die ihm die Verantwortung übertrug, weil er den Namen des Herrn erwähnt hatte. Nachdem er mehrmals auf und ab gegangen war, nahm er sich zusammen.
„Ich reise nun ins Ausland“, sagte er mit einer gewissen Scheu. „Ich habe meine Schwestern gebeten, sich inzwischen um dich zu kümmern, und wenn ich zurück bin, werden wir uns weiter unterhalten. Leb wohl! – Wir sehen uns sicher noch, bevor ich abreise!“
Er ging so schnell ins Nebenzimmer, daß sie ihm nicht einmal mehr die Hand geben konnte.
Sie sah ihn wieder, wo sie es am wenigsten erwartete – im Pfarrgestühl des Chorraumes, ihr direkt gegenüber, als sie inmitten der Mädchen vor dem Altar stand, um eingesegnet zu werden. Sie war so verblüfft, daß sie der heiligen Handlung, auf die sie sich in Demut und Gebet vorbereitet hatte, lange nicht folgen konnte. Ja, selbst Ødegaards alter Vater, der eben vortreten wollte, um zu beginnen, verharrte und blickte seinen Sohn lange an. Gleich darauf sollte Petra noch einen zweiten Schreck bekommen, denn etwas weiter hinten in der Kirche saß Pedro Ohlsen in seinen steifen Sonntagssachen. Er reckte den Hals, um über die Köpfe der Jungen hinweg zu der Mädchenschar, zu ihr, hinüberzusehen. Einen Augenblick später war er wieder verschwunden. Doch immer wieder sah sie seinen spärlich behaarten Kopf auftauchen und sofort wieder verschwinden. Das lenkte ihre Gedanken ab. Sie wollte nicht hinsehen und mußte es dennoch tun. Und da, als alle anderen tief ergriffen waren – viele in Tränen aufgelöst –, sah sie entsetzt, wie sich Pedro erhob, den Mund verzerrt, die Augen weit aufgerissen, schreckensstarr, außerstande, sich zu setzen oder auch nur ein Glied zu rühren. Ihm gegenüber aber stand Gunlaug, zu ihrer vollen Größe aufgereckt. Bei ihrem Anblick schauderte es Petra. Die Mutter war weiß wie das Altartuch. Ihr schwarzes, krauses Haar schien sich zu sträuben, während die Augen plötzlich voll eisiger Abweisung waren, als wollten sie sagen: Laß das Mädchen in Frieden! Was willst du von ihm? Unter der Wucht dieses Blickes sank er auf die Bank nieder, und eine Weile später schlich er zur Kirche hinaus.
Danach hatte Petra Ruhe, und je länger die heilige Handlung voranschritt, desto stärker wurde sie davon ergriffen. Als sie nach abgelegtem Versprechen vom Altar zurückkehrte und durch Tränen zu Ødegaard hinüberblickte, dem Menschen, der all ihren guten Vorsätzen am nächsten stand, da gelobte sie in ihrem Herzen, seinem Glauben keine Schande zu machen. Die treuen Augen, die ihren Blick leuchtend erwiderten, schienen um das gleiche zu bitten. Als sie dann aber von ihrem Platz aus erneut zu ihm hinüberschaute, war er verschwunden. Bald darauf ging sie mit der Mutter nach Hause, die unterwegs sagte: „Nun hab ich das Meine getan. Jetzt muß der Herrgott das Seine tun.“
Als sie gegessen hatten, sie beide allein, meinte die Mutter, indem sie aufstand: „Jetzt müssen wir wohl zu ihm gehen – zu diesem Pastorssohn. Ich weiß zwar nicht, wozu das gut sein soll, was er da treibt, aber gut gemeint hat er es wohl. Zieh dich also wieder an, Kind!“
Der Weg zur Kirche, den die beiden so oft miteinander gegangen waren, verlief oberhalb der Stadt. Auf der Straße aber hatten sie sich noch nie zusammen gezeigt. Die Mutter hatte sich dort wohl kaum seit ihrer Rückkehr blicken lassen. Nun aber bog sie in Richtung Straße ab. Sie wollte die ganze Straße hinuntergehen, gemeinsam mit ihrer erwachsenen Tochter!
Am Nachmittag des Konfirmationssontags ist in so einer kleinen Stadt alles unterwegs, entweder von Haus zu Haus, um zu gratulieren, oder die Straße hinauf und hinunter, um zu sehen und gesehen zu werden. Auf Schritt und Tritt tauscht man Grüße aus, bleibt stehen, schüttelt Hände und wünscht alles Gute. Die Kinder der Armen werden in den abgelegten Kleidern der Reichen vorgeführt, um sich zu bedanken. Die Seeleute der Stadt präsentieren sich in ausländischem Staat, die Mütze verwegen auf dem Ohr, und die Stutzer der Stadt, die nach allen Seiten grüßenden Kommis, kommen grüppchenweise daher. Die halbwüchsigen Lateinschüler, jeder Arm in Arm mit dem besten Freund der Welt, schlendern, altklug an allem herumkrittelnd, hinterdrein. Doch sie alle mußten heute im stillen dem Helden der Stadt den Vorrang lassen – dem jungen Kaufmann Yngve Vold, dem reichsten Mann des Städtchens, der gerade aus Spanien zurückgekehrt war, um von einem Tag auf den anderen den ausgedehnten Fischhandel seiner Mutter zu übernehmen. Einen hellen Hut auf dem hellen Haar, brillierte er in den Straßen, daß die jungen Konfirmanden beinahe in Vergessenheit gerieten. Alle hießen ihn zu Hause willkommen. Und er sprach mit allen und lachte allen zu. Straßauf, straßab sah man den hellen Hut auf dem hellen Haar und hörte Yngve Volds helles Lachen.
Als Petra und ihre Mutter in die Stadt hinunterkamen, war er der erste, auf den sie stießen, und als wären sie tatsächlich mit ihm zusammengestoßen, wich er vor Petra, die er nicht wiedererkannte, zurück.
Sie war groß geworden, zwar nicht so groß wie die Mutter, doch größer als die meisten Mädchen, rank und schlank und voller Anmut. Ganz die Mutter und auch wieder nicht die Mutter, in ständigem Wechsel. Selbst der junge Kaufmann, der ihnen folgte, vermochte nun nicht länger die Blicke der Spaziergänger auf sich zu lenken. Die beiden, Mutter und Tochter Seite an Seite, waren ein noch ungewohnterer Anblick. Sie gingen schnell, ohne irgend jemanden zu grüßen, da sie selber auch kaum von anderen als Seeleuten gegrüßt wurden, kamen aber noch schneller wieder zurück. Denn sie hatten gehört, daß Ødegaard das Haus gerade verlassen habe und auf dem Weg zum Dampfer sei, der sofort auslaufen werde. Besonders Petra hatte es eilig. Sie mußte ihm unbedingt noch einmal die Hand drücken und ihm danken, bevor er abfuhr. Es war ungerecht von ihm, so von ihr fortzugehen! Sie sah keinen einzigen von all jenen, die sie ansahen. Sie sah nur den Rauch des Dampfers über den Dächern, und der schien sich zu entfernen. Als die beiden zur Landungsbrücke kamen, legte der Dampfer gerade ab, und Petra – die Kehle wie zugeschnürt von Tränen – eilte weiter, hinaus in die Allee. Sie lief mehr als daß sie ging, und die Mutter folgte ihr, rasch ausschreitend. Da der Dampfer Zeit gebraucht hatte, um im Hafen zu wenden, kam Petra gerade noch früh genug, um hinunter auf den Uferstreifen zu springen, dort auf einen Stein zu steigen und mit dem Taschentuch zu winken. Die Mutter war oben in der Allee stehengeblieben. Petra winkte, höher und immer höher reckte sie sich empor. Doch niemand winkte zurück.
Da war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei, sie ließ den Tränen freien Lauf und mußte deshalb den Weg, der oben um die Stadt herumführte, nach Hause gehen. Die Mutter folgte ihr schweigend. Das Mansardenstübchen, das Konfirmationsgeschenk ihrer Mutter, in dem sie in der Nacht zum erstenmal geschlafen und am Morgen voller Freude ihr neues Kleid angezogen hatte, betrat sie nun am Abend in Tränen aufgelöst und ohne auch nur einen einzigen Blick dafür übrig zu haben. Sie mochte nicht hinuntergehen, da Seeleute und andere Gäste gekommen waren. Sie zog ihr Konfirmationskleid aus und saß auf dem Bett, bis es Nacht wurde. Erwachsen zu werden, das schien ihr das Unglückseligste zu sein, das es auf der Welt gab!