Читать книгу Ausgewählte Erzählungen - Band 2 - Bjørnstjerne Bjørnson - Страница 6
Zweites Kapitel
ОглавлениеInnerhalb eines Jahres war Lars Vorsitzender des Gemeinderates, Direktor der Sparkasse, erster Friedensrichter – kurz alles, wozu man ihn nur wählen konnte. Im Landtag schwieg er das erste Jahr, rief dafür aber im zweiten, als er sprach, das gleiche Aufsehen hervor wie im Gemeinderat. Auch hier trat er gegen jene, die bis dahin den Ton angegeben hatten, zum Kampf an, siegte auf der ganzen Linie und war danach selber der Tonangebende. Von dortaus ging es weiter ins Storting, wohin ihm sein Ruf vorausgeeilt war und wo es deshalb nicht an Herausforderungen fehlte. Dort aber blieb er, wenn auch fest und unerschütterlich, stets zurückhaltend. Er wollte nur dort Macht haben, wo er ein bekannter Mann war, und seine Vormachtstellung daheim nicht durch eine mögliche Niederlage draußen aufs Spiel setzen.
Daheim ging es ihm nämlich gut. Wenn er am Sonntag an der Kirchenmauer stand und die Gemeinde grüßend und ihn verstohlen beobachtend langsam vorüberging, während bald dieser, bald jener stehenblieb, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln, dann konnte man tatsächlich behaupten, daß er, wie er so dastand, das gesamte Kirchspiel mit einem Strohhalm lenkte, denn der hing ihm natürlich im Mundwinkel.
Das Ansehen, das er genoß, war verdient. Die Straße, auf der sie zur Kirche kamen, war ebensosehr ein Ergebnis seines Wirkens wie die neue Kirche, neben der sie standen. Dieses und vieles mehr verdankten sie der Sparkasse, die er gegründet hatte und die er nun leitete. Die Mittel, die sie einbrachte, waren auf fruchtbare Weise angelegt worden, und die Gemeinde wurde von vielen als ein Musterbeispiel für Selbstverwaltung und gute Ordnung hingestellt.
Knud Aakre hatte sich völlig zurückgezogen. Anfangs erschien er noch ein paarmal zu den Versammlungen, da er mit sich selbst darüber ins reine gekommen war, seine Hilfe auch weiterhin anzubieten, selbst wenn es seiner Eitelkeit nicht länger schmeichelte. Doch schon bei dem ersten Vorschlag, den er hiernach unterbreitete, wurde er von Lars, der all seine Folgen dargestellt haben wollte, so in die Enge getrieben, daß Knud Aakre leicht gekränkt sagte: „Als Kolumbus Amerika entdeckte, hat er es auch nicht gleich in Kirchspiele und Propsteien aufgeteilt. Das kam erst später.“ Als Lars dann in seiner Erwiderung einen Vergleich zwischen Knuds Vorschlag und der Entdeckung Amerikas anstellte – es ging dabei übrigens um Mittel für eine verbesserte Stallhaltung –, nannten sie Knud unter sich nie mehr anders als „den Entdecker Amerikas“. Da dachte Knud, wo man nicht länger von Nutzen ist, soll man auch nicht mehr mitarbeiten, und er ließ sich nicht wieder zur Wahl aufstellen.
Aber wirksam blieb er, und um wenigstens etwas zu haben, erweiterte er seine Sonntagsschule und brachte sie mit Hilfe kleinerer Beiträge der Bewerber in Verbindung mit der Inneren Mission, für die er schon bald sowohl in dieser wie auch in den benachbarten Ortschaften Mittelpunkt und Leiter wurde. Lars Høgstad bemerkte hierzu: Wenn Knud Aakre schon einmal für eine Sache Geld einsammle, dann wisse er bereits im voraus, daß sie Tausende von Meilen entfernt sein müsse.
Zwischen den beiden bestand übrigens keine Feindschaft. Zwar verkehrten sie nicht mehr miteinander, doch sie grüßten sich noch und sprachen auch miteinander. Aber schon bei dem Gedanken an Lars empfand Knud einen kleinen Schmerz, er kämpfte ihn jedoch nieder und sagte sich, daß es eben gekommen sei, wie es habe kommen müssen. Viele Jahre später stieg er auf einer großen Hochzeit, zu der beide geladen und beide auch leicht angeheitert waren, auf einen Stuhl und brachte ein Hoch auf den Vorsitzenden des Gemeinderates und den ersten Stortingsabgeordneten des Kreises aus. Er redete, bis ihn die Rührung übermannte, und dann, wie üblich, ganz besonders gut. Man fand das ehrenhaft von ihm, und Lars trat mit unsicherem Blick auf ihn zu und sagte, daß er ihm für vieles, was er sei und was er wisse, zu danken habe.
Bei der nächsten Wahl zum Gemeinderat wurde Knud Aakre erneut in den Vorstand gewählt!
Wenn Lars allerdings geahnt hätte, was nun folgte, hätte er ihn bestimmt nicht wieder eingeführt! Alles zu seiner Zeit, sagt ein Sprichwort. Gerade als Knud Aakre wieder in den Gemeindevorstand kam, drohten die besten Männer des Kirchspiels an einem Spekulationsfieber zugrunde zu gehen, das lange gewütet hatte, aber erst jetzt seine Opfer zu fordern begann. Man behauptete, Lars Høgstad habe dieses große Unglück heraufbeschworen, denn durch ihn erst gewöhnte man sich in der Gemeinde ans Spekulieren. Da der Gemeinderat der größte Spekulant war, hatte er alle mit seiner Geldgier angesteckt. Bis hin zum zwanzigjährigen Tagelöhner, wollten nun alle durch Geschäfte aus einem Taler zehn machen. Ein anfangs übertriebener Geiz, um erst mal zu etwas Kapital zu kommen, wurde schließlich von einer ebenso übertriebenen Großzügigkeit abgelöst. Und da ihrer aller Sinn nur aufs Geld gerichtet war, hatten sich gleichzeitig ein Mißtrauen, eine Unverträglichkeit und eine Rechthaberei entwickelt, die in Prozessen und gegenseitigen Gehässigkeiten ihren Niederschlag fanden. Auch dabei sei der Gemeinderat vorangegangen, sagte man. Als Lars Vorsitzender wurde, hatte nämlich eine seiner ersten Amtshandlungen darin bestanden, wegen irgendwelcher zweifelhafter Rechte einen Prozeß gegen den alten, ehrwürdigen Pfarrer anzustrengen. Der Pfarrer hatte den Prozeß verloren, aber auch sofort sein Amt niedergelegt. Manche hatten damals Lars’ Vorgehen gelobt, andere hatten es getadelt. Es war zu einem schlimmen Beispiel geworden. Nun zahlten sich die Folgen seines Regiments in Form von Verlusten für jeden einzelnen Großbauern der Gemeinde aus, und da schlug die Stimmung jäh um! Der Widerstand gegen ihn bekam auch sofort einen Wortführer: Knud Aakre war in den Gemeinderat gekommen, von Lars selbst wieder dort eingeführt!
Der Kampf entbrannte umgehend. All die jungen Leute, die Knud Aakre seinerzeit unterrichtet hatte, waren nun erwachsene Männer und zugleich auch die aufgeklärtesten der Gemeinde, in allen Geschäften und öffentlichen Ämtern vertreten. Mit ihnen, die seit ihrer Jugend Groll gegen Lars hegten, mußte jener nun den Kampf aufnehmen. Wenn er am Abend nach einer dieser stürmischen Sitzungen auf der Treppe vor seinem Haus stand und den Blick über das Dorf schweifen ließ, war es ihm, als dränge von den großen Höfen, über denen sich nun Unwetterwolken zusammenballten, ein fernes, bedrohliches Donnern zu ihm herauf. Er wußte, daß an dem Tag, da sie unter den Hammer kommen würden, auch die Sparkasse und er selber fallen mußten und daß sich die lange Zeit seines Wirkens zu einem einzigen Fluch über ihm verdichten würde!
In diesen verzweifelten Kampftagen erschien eines Abends auf Høgstad, dem ersten Gehöft an der Einfahrt zum Dorf, eine Kommission, die eine neue Eisenbahnlinie abstecken sollte. Als sich Lars mit den Kommissionsmitgliedern unterhielt, erfuhr er, daß es dabei um die Frage ging, ob die Linie durch ihr Tal oder durch parallel verlaufendes Seitental gelegt werden sollte.
Wie ein Blitz fuhr es ihm durch den Sinn: wenn er es durchsetzte, daß die Bahnlinie durch ihr Dorf verlief, würden alle Grundstücke im Wert steigen. Damit wäre er nicht nur gerettet, sondern sein Ansehen würde auch für spätere Geschlechter gewahrt bleiben! In dieser Nacht konnte er nicht schlafen, vor seinen Augen glänzte und gleißte es, manchmal glaubte er schon die Eisenbahn zu hören!
Am nächsten Tag war er persönlich mit den Kommissionsmitgliedern unterwegs, um das Terrain zu erkunden. Sein Pferd führte sie, und zu seinem Hof kehrten sie wieder zurück. Am Tag darauf zogen sie ins Seitental, und wieder begleitete er sie und brachte sie auch wieder zurück. Bei ihrer Ankunft war der ganze Hof hell erleuchtet. Die angesehensten Männer der Gemeinde waren zu einem rauschenden Fest geladen worden, das Lars zu Ehren der Kommission gab. Es dauerte bis zum nächsten Morgen. Aber es nützte alles nichts. Je mehr man sich dem endgültigen Untersuchungsergebnis näherte, desto klarer zeichnete es sich ab, daß die Bahn nicht ohne große zusätzliche Kosten durch ihr Dorf gelegt werden konnte. Der Eingang zum Tal führte durch eine enge Felsenschlucht, und dort, wo der Weg ins Dorf einschwenkte, beschrieb auch der wasserreiche Fluß einen Bogen, so daß man die Bahnlinie entweder darüber – im selben Bogen, wie ihn jetzt der Weg beschrieb – und an der Felswand entlang führen mußte, wodurch sie jedoch viel zu hoch kommen und zweimal den Fluß überqueren würde, oder aber sie mußte geradeaus und damit über den alten, nun nicht mehr genutzten Friedhof verlaufen. Es war jedoch noch nicht lange her, daß mit der Fertigstellung der neuen Kirche auch der Friedhof verlegt und die letzten Toten hier beerdigt worden waren.
Wenn es bloß an dem Stückchen alten Friedhof liegen sollte, dachte Lars, ob die Gemeinde in den Genuß dieses großen Segens kommt, da wolle er schon seinen Namen und seine Energie in die Waagschale werfen, um dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen! Er unternahm sofort eine Reise zu Pfarrer und Propst und dann weiter zur Stiftsdirektion und zum Ministerium. Er redete und verhandelte, er hatte sich alle möglichen Informationen über die enormen Vorteile der Bahnlinie für die Gemeinde einerseits und über die Stimmung der Dorfbevölkerung andererseits verschafft und erreichte es auch wirklich, alle Partner dafür zu gewinnen. Man versicherte ihm, daß das Hindernis mit der Überführung eines Teils der Toten auf den neuen Friedhof als beseitigt gelten und der alte durch königlichen Erlaß für den Bau der Bahnlinie freigegeben werden würde. Er brauche nur, so wurde ihm gesagt, die Angelegenheit im Gemeinderat ins Rollen zu bringen.
Das Dorf war von der gleichen Erregung erfaßt worden wie Lars. Der Geist der Spekulation, der seit vielen Jahren die Gemeinde ausschließlich beherrscht hatte, geriet nun außer Rand und Band. Man sprach über nichts anderes, man dachte an nichts anderes als an Lars’ Reise und ihr mögliches Ergebnis. Als er mit den besten Resultaten zurückkehrte, machte man um ihn viel Aufhebens und sang Loblieder auf ihn. Ja, selbst wenn in diesen Tagen die größten Höfe, einer nach dem anderen, unter den Hammer gekommen wären, hätte das kein einziger bemerkt. Das Spekulationsfieber war vom Eisenbahnfieber abgelöst worden!
Der Gemeinderat versammelte sich. Untertänigst wurde der Antrag gestellt, den alten Friedhof für den Bau einer Eisenbahnlinie zur Verfügung zu stellen. Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Ja, es war sogar die Rede davon, Lars ein Dankschreiben zu überreichen und ihm eine Kaffeekanne in Form einer Eisenbahn zu stiften. Schließlich einigte man sich darauf, damit lieber noch zu warten, bis alles geschafft wäre.
Das Gesuch kam von der Stiftsdirektion zurück, die ein Verzeichnis aller umzubettenden Leichen anforderte. Der Pfarrer stellte auf Ersuchen das verlangte Verzeichnis auf, aber anstatt es direkt an die Stiftsdirektion zu schicken, schickte er es, und dafür hatte er wohl seine Gründe, zwecks Weiterleitung an den Gemeinderat. Eines der Mitglieder brachte es zur nächsten Sitzung mit. Hier öffnete Lars als Vorsitzender den Umschlag und las das Verzeichnis vor.
Nun wollte es der Zufall, daß die erste Leiche, die exhumiert werden mußte, Lars’ eigener Großvater war. Ein leichter Schauer überlief die Anwesenden. Lars stutzte, las jedoch weiter. Und wieder wollte es der Zufall, daß die zweite Leiche Knud Aakres Großvater war, denn die beiden waren kurz hintereinander gestorben. Knud Aakre sprang von seinem Platz auf, Lars hielt beim Vorlesen inne, alle sahen entsetzt auf. Der alte Knud Aakre war seit undenklichen Zeiten der Wohltäter der Gemeinde gewesen und von ihnen allen ganz besonders verehrt worden. Eine minutenlange Pause entstand. Schließlich räusperte sich Lars und las weiter. Aber je weiter er auf der Liste kam, um so schlimmer wurde es nur, denn je näher man der Gegenwart kam, um so enger war ihre Bindung an die Toten. Als Lars am Ende angelangt war, fragte Knud Aakre still, ob die anderen nicht ebenso wie er den Eindruck hätten, daß um sie her Gespenster säßen. Im Raum begann es eben dämmrig zu werden, und obgleich sie alle erwachsene Männer waren und hier viele beieinander saßen, beschlich sie dennoch ein banges Gefühl. Lars holte ein Bund Streichhölzer aus der Tasche und machte Licht, wobei er bemerkte, dies sei nicht mehr und nicht weniger, als man schon vorher gewußt habe.
„Doch“, sagte Knud, während er auf und ab ging, „dies ist mehr, als ich vorher gewußt habe. Allmählich glaub ich, daß selbst eine Eisenbahn zu teuer erkauft werden kann.“
Die anderen durchfuhr es wie ein Blitz. Die Angelegenheit müsse noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt werden, meinte Knud, und er stellte den entsprechenden Antrag.
„In der Erregung, die sich hier ausgebreitet hat“, fuhr er fort, „ist der Nutzen der Bahn bedeutend überschätzt worden, denn falls sie nicht durch unsere Gemeinde führen sollte, müssen an ihren beiden Endpunkten Stationen angelegt werden. Dorthin zu fahren ist natürlich immer umständlicher, als wenn wir die Station mitten im Dorf hätten, das stimmt schon. Aber so furchtbar ist das nun auch wieder nicht, daß man deshalb die Ruhe der Toten stören müßte.“
Knud gehörte zu jenen, denen ausgezeichnete Argumente zufliegen, wenn ihre Gedanken erst einmal in Schwung gekommen sind. Noch vor einer Minute hatte er nicht gewußt, was er hier sagen wollte, nun aber überzeugten seine Worte alle. Lars fühlte seine Stellung wanken. Jetzt war Vorsicht angebracht, und deshalb ging er zum Schein auf Knuds Vorschlag ein. Solche Gefühlsaufwallungen sind stets zu Anfang am gefährlichsten, dachte er, da muß das Ganze vorläufig verschoben werden.
Doch hier hatte er sich verrechnet. In immer größeren und größeren Wellen erfaßte das Entsetzen, Hand an die Leichen ihrer Familienmitglieder legen zu müssen, die Gemeinde. Woran keiner gedacht hatte, solange die Angelegenheit allgemeinen Charakter hatte, wurde zu einer ernsten Frage, als es sich herausstellte, daß es jeden von ihnen persönlich betraf. Vor allem die Frauen kamen in Bewegung. Und an dem Tag, da der Gemeinderat seine nächste Sitzung abhielt, war es vor dem Thinghaus schwarz vor Menschen. Es war ein warmer Sommertag, die Fenster wurden herausgenommen, und draußen drängten sich ebenso viele wie drinnen. Alle fühlten, daß heute eine große Schlacht bevorstand.
Lars kam, von allen gegrüßt, mit seinem prachtvollen Pferd vorgefahren. Ruhig und sicher schaute er in die Runde, der Anblick, der sich ihm bot, schien ihn in keiner Weise zu überraschen. Er setzte sich in unmittelbare Nähe des Fensters, der Strohhalm war schon gefunden, und als er sah, daß sich Knud Aakre erhob, um im Namen aller Toten auf dem alten Friedhof von Høgstad das Wort zu ergreifen, huschte unwillkürlich ein Lächeln über sein kluges Gesicht.
Aber Knud Aakre begann nicht mit dem Friedhof, sondern legte ausführlich dar, daß in dem ganzen Durcheinander die Vorteile der Bahn für die Gemeinde überschätzt worden seien. Das bewies er, indem er die Entfernung von jedem Hof zur nächsten Bahnstation anführte, und dann fragte er: „Warum ist denn wegen dieser Bahn so viel Aufhebens gemacht worden, wenn es dabei gar nicht um das Wohl der Gemeinde geht?“ Nun, das wolle er ihnen sagen: Daran seien jene schuld, die so viel Unruhe gestiftet hätten, daß eine noch viel größere erforderlich gewesen sei, um erstere vergessen zu lassen. Daran seien auch jene schuld, die in der ersten Aufregung Haus und Hof an Fremde verkaufen wollten, die dumm genug seien, sie auch zu kaufen. Das Ganze sei eine beschämende Spekulation, für die nicht nur die Lebenden, sondern auch die Toten ausgenutzt werden sollten!
Seine Rede rief beträchtliches Aufsehen hervor. Lars aber hatte nun einmal beschlossen, Ruhe zu bewahren – komme, was da wolle. Deshalb erwiderte er lächelnd, wenn er sich recht erinnere, sei Knud Aakre eifrig für die Eisenbahn eingetreten, und von ihm würde wohl niemand behaupten, daß er sich aufs Spekulieren verstehe. (Man lachte ein wenig.) Knud habe nichts dagegen gehabt, daß wegen der Eisenbahn die Toten anderer Leute umgebettet werden sollten. Doch wenn sein eigener Großvater wieder ausgegraben werden müsse, dann werde daraus plötzlich eine lebenswichtige Angelegenheit für die gesamte Gemeinde.
Mehr sagte er nicht, sondern blickte grinsend zu Knud hinüber, was auch noch einige andere taten.
Knud Aakre überraschte jedoch sowohl ihn als auch die anderen, als er darauf entgegnete: „Ich gebe zu, ich habe das Ganze erst begriffen, als es mein Familiengefühl berührte. Vielleicht ist das eine Schande, aber dann ist es wahrhaftig eine noch viel größere, es auch jetzt immer noch nicht begreifen zu wollen, so wie es bei Lars der Fall ist! Nie“, fügte er hinzu, „ist dessen Humor weniger angebracht gewesen, denn für Leute mit normalem Gefühl ist diese Geschichte wirklich empörend!“
„Dieses Gefühl ist ziemlich spät bei dir erwacht“, erwiderte Lars, „wir dürfen also hoffen, daß es auch ebenso schnell wieder vergeht. Vielleicht hilft es, dabei auch ein wenig daran zu denken, was Pfarrer, Propst, Stiftsdirektion, Ingenieure und Regierung wohl sagen würden, wenn sie hörten, daß wir die Sache erst einstimmig beschlossen haben und dann angelaufen kommen und darum betteln, sie wieder rückgängig zu machen. Daß wir erst jubeln und Lieder singen und dann weinen und Leichenpredigten halten. Falls sie nicht sagen, wir hätten hier im Dorf völlig den Verstand verloren, würden sie doch zumindest sagen, wir seien in den letzten Tagen reichlich wunderlich geworden.“
„Ja, weiß Gott, das würden sie sagen“, ergriff Knud wieder das Wort, „wir sind in der Tat in den letzten Tagen reichlich wunderlich geworden, und es wird Zeit, daß wir uns wieder besinnen. Es ist wirklich weit gekommen, wenn wir unsere Großväter, du deinen und ich meinen, wieder ausgraben müssen, um der Eisenbahn einen Weg zu verschaffen, wenn wir die Ruhestätten der Toten umbrechen müssen, um schneller voranzukommen. Denn ist dies nicht dasselbe, als pflügten wir unseren Friedhof um, damit er uns Nahrung bringt? Was im Namen Gottes in die Erde gesenkt worden ist, das graben wir um des Mammons willen, in Molochs Namen wieder aus. Das ist nicht viel besser, als verzehrte man die Gebeine seiner Vorfahren.“
Lars erwiderte trocken: „So ist nun mal der Lauf der Natur.“
„Ja, der der Pflanzen und aller Kreatur.“
„Sind wir denn nicht auch Kreaturen?“
„Gewiß, aber auch Kinder des lebendigen Gottes, die ihre Toten im Glauben an ihn beerdigt haben. Er ist es, der sie einmal erwecken soll, und nicht wir.“
„Ach, wie du faselst! Müssen wir sie denn nicht sowieso ausgraben, wenn ihre Zeit einmal gekommen ist? Was ist denn Schlimmes dabei, wenn es nun ein paar Jahre früher geschieht?“
„Das werde ich dir sagen! Das, was sie in die Welt gesetzt haben, atmet noch, was sie gebaut haben, steht noch, was sie geliebt, was sie gelehrt und wofür sie gelitten haben, ist noch in uns und um uns her lebendig, und da sollten wir sie nicht in Frieden ruhen lassen?“
„Ich höre schon, du denkst dabei an deinen Großvater“, antwortete Lars, „darum bist du so in Hitze geraten. Da muß ich dir aber sagen, es wird Zeit, daß die Gemeinde endlich Ruhe vor ihm bekommt. Er hat schon zu Lebzeiten genug Raum beansprucht. Deshalb ist es nicht nötig, daß er uns auch jetzt noch, da er tot ist, im Wege steht. Sollte sich selbst noch seine Leiche als Hindernis für einen Segen erweisen, der sich für die Gemeinde bis ins hundertste Glied auszahlen würde, dann muß man allerdings sagen, daß er von allen, die hier geboren worden sind, den größten Schaden angerichtet hat.“
Knud Aakre warf das störrische Haar zurück, seine Augen funkelten, die ganze Gestalt glich einer gespannten Stahlfeder.
„Wie es um den Segen bestellt ist, von dem du sprichst, weiß ich schon. Er ist von derselben Art wie all die anderen Segnungen, mit denen du die Gemeinde bedacht hast, nämlich von zweifelhafter Art. Denn du hast uns wohl zu einer neuen Kirche verholfen, aber sie auch mit einem neuen Geist erfüllt, und das ist nicht der Geist der Liebe. Du hast uns wohl zu neuen Wegen verholfen, aber auch zu neuen Wegen ins Verderben, wie man nun deutlich am Unglück so vieler sieht. Du hast wohl unsere öffentlichen Abgaben verringert, dafür hast du aber jene erhöht, die wir uns selber auferlegen. Prozesse, Wechsel und Zwangsversteigerungen sind kein fruchtbringendes Geschenk für eine Gemeinde. Und du wagst es, den Mann in seinem Grab zu verunglimpfen, den die ganze Gemeinde ihren Wohltäter nennt? Du wagst es, zu behaupten, er stehe uns im Wege? Ja, dir steht er ganz gewiß im Wege, wie man nun sieht, denn über dieses Grab wirst du fallen! Der Geist, der über dich und bis heute auch über uns Macht hatte, ist nicht zum Herrschen geboren, sondern nur zum Sklavendienst. Der Friedhof wird ungestört dort liegenbleiben, nur erhält er heute noch ein Grab mehr, nämlich das deines Ansehens in der Gemeinde, das nun in die Grube fährt!“
Lars Høgstad erhob sich, weiß wie ein Laken. Er öffnete den Mund, ohne ein Wort hervorbringen zu können, und der Strohhalm entfiel ihm. Nach drei, vier vergeblichen Versuchen, ihn wiederzufinden und etwas zu erwidern, brach es vulkanartig aus ihm hervor: „Ist das der Dank für all meine Mühe und Arbeit? Ein solcher Weiberprediger soll hier zu bestimmen haben? Ja, da soll doch der Teufel euer Vorsitzender sein, ich werde meinen Fuß nie wieder hierher setzen. Bis heute habe ich alles zusammengehalten, euren ganzen Plunder, und nach mir wird alles in tausend Stücke zerfallen, aber soll doch alles zusammenbrechen! Hier ist das Protokoll.“ Er schleuderte es auf den Tisch.
„Pfui über eine solche Versammlung von alten Weibern und grünen Jungen!“ Er schlug auf den Tisch. „Pfui über die ganze Gemeinde, die mit ansieht, daß ein Mann so abgespeist wird, wie ich jetzt!“ Wieder schlug er auf den großen Versammlungstisch, daß die Platte hochsprang und das Tintenfaß mitsamt Inhalt auf den Fußboden fiel, wo nun ein Fleck für kommende Generationen den Ort kennzeichnete, an dem Lars Høgstad mit all seiner Klugheit, Beherrschung und Geduld am Ende war.
Er stürzte zur Tür hinaus, und gleich darauf war er vom Hof. Im Raum war es noch immer totenstill, denn die Gewalt seiner Stimme und seines Zornes hatte alle erschreckt, bis Knud Aakre, der Worte gedenkend, die er bei seinem Sturz zu hören bekommen hatte, mit pfiffigem Gesicht und Lars’ Stimme sagte: „Damit ist die Sache also beschlossen!“ Da brach die ganze Versammlung in ungeheuren Jubel aus. Die ernsthafte Sitzung schlug mit einemmal in Lachen und Reden und ausgelassene Freude um. Nur wenige gingen, die Zurückbleibenden aber holten zu ihrem Proviant die Flaschen hervor und veranstalteten nach einem Tag voller Wetterleuchten einen donnernden Festabend. Sie fühlten sich glücklich und selbständig wie in alten Zeiten, bevor Lars’ herrischer Geist ihre Sinne zu stummem Gehorsam gepreßt hatte. Sie tranken auf ihre Freiheit, sie sangen, ja, schließlich tanzten sie sogar, Knud Aakre mit dem stellvertretenden Vorsitzenden voran und die ganze Versammlung hinterdrein, die Knechte und Mägde ebenfalls, und die Kinder riefen draußen hurra, denn ein solches Fest hatten sie noch nie zuvor gesehen.