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Mängelexemplar JUNI 2016

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Mängelexemplar, klingt das nicht nach einem spannenden Titel für einen neuen Roman mit Bestsellerpotenzial? Mein Puls beschleunigt sich vor Aufregung und Vorfreude wie bei einer Skirennfahrerin am Start, die sich kaum noch bremsen kann und sich möglichst schnell in die Abfahrt stürzen möchte. Mein Kopfkino läuft heiß. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Geschichte bereits in allen Einzelheiten: Die Hauptfigur, Jolanda Joller, muss mit fünfzig auf Stellensuche gehen und fühlt sich wie ein Mängelexemplar. Vielleicht ist Jolanda sogar Buchhändlerin und hat oft genug leicht beschädigte oder verschmutzte Bücher mit dem Stempel »Mängelexemplar« versehen. Danach waren diese nur noch halb so viel wert. Und jetzt fühlt sie sich selber abgestempelt, weil sie auf dem Arbeitsmarkt einen der größten Mängel überhaupt aufweist: Sie ist zu alt.

Wird dieser neue Roman dann lustig und heiter und führt unweigerlich zum Happy End, so wie sich das die Leserinnen und Leser meiner Bücher gewohnt sind? (Jolanda eröffnet einen Laden für Mängelexemplare und findet so die gewinnbringende Marktnische.) Oder wird es vielmehr ein Drama, weil die Buchhändlerin nach und nach ihre Verzweiflung in Alkohol ertränkt? (Am Ende lässt sie sich im Vollrausch »Mängelexemplar« auf den Hintern tätowieren.) Ich könnte auch einen Thriller daraus machen, in welchem Jolanda alle jüngeren Mitbewerber umbringt. (Sie wird gefasst, weil sie auf jeder Leiche den Stempel »Mängelexemplar« hinterlässt.) Vielleicht wird es gar ein Sachbuch, das aufzeigt, wie man seine Mängel erfolgreich vertuschen kann (»Von mangelhaft zu makellos in dreißig Tagen«)?

Romananfänge sind wie ein Glücksrausch. Ich bin voller Ideen und Zuversicht, sprühe vor Fantasie und Inspiration, will sofort loslegen. Ich bin die wunderschöne Araberstute in der Startbox, die mit den Hufen scharrt und im Geiste schon mit fliegender Mähne vorwärtsprescht, dem Ziel entgegen, jedes Hindernis elegant überspringend. Wenn ich ein Buch beginne, hat das nichts mit Arbeit zu tun. Anfänge sind reine, pure Schreibfreude, explodieren wie ein Feuerwerk, schmecken wie süßeste Schokolade. Mein Schreibfluss ist voller bunter Fische und fließt fröhlich voran, dem Happy End entgegen. Die Sätze sprudeln, die Seiten füllen sich. Erst viel später kommen die Zweifel, die Krisen, die Fragen und stellen sich mir in den Weg. Aus der Schokolade wird irgendwann alter, zäher Kaugummi, und das Schreiben artet in Arbeit aus. Angehende Autoren wollen das oft nicht sehen. Sie denken, das Schreiben müsse immer Spaß machen. Tut es nicht. Sorry.

Ja, so ist es bei mir, wenn ich schreibe. Und im Leben? Ich bin jetzt dreiundfünfzig, und es gibt nicht mehr so viele berauschende, explodierende Anfänge. Ganz ehrlich und unter uns: Tief in meinem Innern fühle ich mich nach wie vor wie eine temperamentvolle Araberstute in der Startbox, bereit zum Losrennen, wohin auch immer, und ich warte auf den Startschuss. Nur die Außenwahrnehmung ist halt manchmal anders. Da bin ich dann doch eher das Mängelexemplar.

Neulich las ich irgendwo im Internet: »Ich habe schon so viel aus meinen Fehlern gelernt – ich glaube, ich mache noch ein paar.« Das hat mir gefallen. Das ist genau die richtige Einstellung. Wir versuchen doch immer, alles perfekt zu machen, und sind damit schon zum Scheitern verurteilt. Dabei habe ich gar nicht so viel falsch gemacht in meinem Leben. Ich habe immer versucht, meine Träume zu leben, habe mich dafür eingesetzt, dafür gekämpft, nicht aufgegeben, durchgehalten. So bin ich heute ein glücklicher, zufriedener Mensch. Und ich bereue nichts, trauere keinen verpassten Gelegenheiten hinterher.

Trotzdem fühle ich mich ab und zu als Mängelexemplar. Wenn ich beispielsweise einen Nebenjob zu meiner Tätigkeit als Buchautorin suche und meine Akte altershalber immer wieder vom Bewerbungsstapel direkt in den Papierkorb fällt, dann brauche ich nicht erst einen Stempel. Ich fühle ihn, imaginär, mitten auf der Stirn: Mängelexemplar. Aber sind wir das nicht alle irgendwie? Meine Mutter fühlt sich als Mängelexemplar, seit sie sich mit der Hilfe eines Rollators durch die Gegend bewegen muss. Sie meint, das werte sie ab, obwohl es sicher kein Makel ist, wenn frau mit siebenundachtzig Jahren ein wenig Unterstützung beim Gehen braucht. Meine Freundin Berta fühlt sich als Mängelexemplar, weil sie wegen Übergewichts von ihrer Versicherung als Risiko eingestuft wurde und keine Taggeldversicherung abschließen konnte. Es ging um drei Kilo!

Aber was ist ein Mängelexemplar wirklich? Mängelexemplar ist ein Begriff aus dem Buchhandel und bezeichnet ein Buch, das aufgrund eines deutlichen Mangels nicht mehr der Buchpreisbindung (in Deutschland) unterliegt und somit billiger wird. Ein leicht beschädigtes, gebrauchtes Buch ist deswegen trotzdem ganz bestimmt nicht wertlos. Bei einem Buch geht es schließlich um die inneren Werte. Der Inhalt ist immer noch der gleiche, unverändert, auch wenn das kostbare Buchcover eventuell Schaden genommen hat oder eine Seite zerknittert ist und eine Ecke umgeknickt. Der Text kann trotzdem bezaubern, in fremde Welten entführen, schlaflose Nächte verursachen, Spannung erzeugen, Gefühle vermitteln, weiterbilden, zum Weinen oder Lachen animieren. Ich weiß das aus diversen Selbstversuchen: Ich stöbere nämlich gern auf Flohmärkten auf den Büchertischen und nehme immer mehr Bücher heim, als ich abliefere. Ein paar unappetitliche Flecken oder vergilbte Seiten können mich da nicht schrecken, solange noch alle Seiten drin sind und mich der Inhalt interessiert.

Nicht alle Leser denken so. Die meisten schauen mehr auf Äußerlichkeiten – wie im wirklichen Leben halt. Ich habe neulich in einer Studie gelesen, dass die Menschen nur eine Zehntelsekunde brauchen, um ein Urteil über ihr Gegenüber zu fällen, und dieser erste Eindruck werde selten revidiert. So viel zu den inneren Werten …

So viel zu den inneren Werten …

Aber abgesehen davon: Bald einmal wird es keine Mängelexemplare mehr geben. Wenn wir nur noch E-Books lesen, können wir das Thema abhaken, das Wort ersatzlos streichen. Eigentlich schade. Ich habe im Internet kürzlich ein Parfüm mit dem Duft »Bibliothek« entdeckt (»In The Library«, Christopher Brosius). Es scheint, als hätten einige Leser schon Sehnsucht nach Büchern, die sie aus ihrem Leben verbannt und durch E-Books ersetzt haben. Irgendwann wird es vielleicht auch einen Duft »Mängelexemplar« auf dem Markt geben. Manchmal frage ich mich schon: Sind wir Menschen nicht alle ein bisschen … mangelhaft?

Dies war eine Auftragsarbeit für ein Literaturmagazin. Thema: Mängelexemplar. So etwas macht mir Spaß. Das sind Herausforderungen – fast wie in der Schule, als wir zu unmöglichen Themen Aufsätze schreiben mussten. Ich habe es geliebt.

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