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Staatlich verordnete Zweisamkeit JUNI 2020

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Was für eine Zeit! Ich selber war ja nur krank, andere mussten um ihr Leben bangen oder sich in Spitälern um das Leben anderer kümmern. Ich hatte finanzielle Einbußen, andere hatten große, berechtigte Ängste um ihre berufliche Existenz. Meine Sorgen galten meinen Lieben, von denen so viele den Risikogruppen angehören.

Was ich mir am Anfang dieses Jahres sehnlichst wünschte, war freie Zeit. Und dann – PENG – implodierte die Agenda mit einem lauten Knall, begleitet von Fanfaren und Feuerwerk.

Von einem Tag auf den anderen gab es keine Termine mehr.

Gar keine.

Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich mich – nachdem ich mich vom ersten Schrecken erholt hatte – darüber freute. Endlich einmal eine staatlich verordnete Zweisamkeit. Nur Peter und ich. Und das wochenlang.

Wir haben es wirklich genossen. Da waren so viel Ruhe, Sonne, Vogelgezwitscher und Liebe. Wir haben auf dem Balkon der Wäsche beim Trocknen zugeschaut, Koch-Experimente gemacht, unzählige Bücher gelesen.

Anfangs sah ich sowieso viel Positives in der Krise. Obwohl man auf Distanz gehen musste, rückte man doch irgendwie zusammen, musste es teilweise auch. Es gab eine neue Nähe, die ich mochte. Hilfsangebote schossen aus dem Boden. Auch der Staat bemühte sich. Auf den Balkonen wurde Musik gemacht. Noch nie haben wir innerhalb der Familie so viel telefoniert. Alle möglichen digitalen Netzwerke wurden aktiviert.

Das tat gut.

Einer meiner Freunde fand, der Lockdown lasse sich mit einer kollektiven Entziehungskur vergleichen. Wollten wir nicht alle immer mehr – und das auch noch immer schneller – und verloren uns dabei im Dauerstress? Jetzt wäre der Moment, uns aus der Wachstumsspirale zu befreien. Ob uns das gelingen würde? Es wäre schön, wir könnten ein neues Gleichgewicht finden: mit weniger zufrieden sein und weniger müssen wollen.

Dann änderte sich die Stimmung. Plötzlich erklärte sich jeder, der in der Lage war, Youtube-Videos anzuschauen, zum Experten. Sänger, Starköche und Komiker wollten mehr wissen als studierte Virologen. Jede Studie wurde mit einer anderen Studie widerlegt. Um mich herum wurde unschön gestritten, und ich fühlte mich, als stünde ich zwischen allen Fronten. Jeder hatte die Wahrheit für sich gepachtet und fand, die anderen seien eben noch nicht »erwacht«.

Irgendwann wurde sogar der Wert des Lebens diskutiert. »Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären«, erklärte Boris Palmer, ein deutscher Politiker der Partei Bündnis 90 / Die Grünen. Und auch Samih Sawiris, der Andermatt-Investor, äußerte sich ähnlich, und dies – wie er betonte – im Wissen darum, dass es politisch unkorrekt sei: »In der Schweiz gehen Milliarden von Franken verloren, damit es einige Hundert weniger Tote gibt.«

Die Kaltschnäuzigkeit, wie Menschenleben zur Disposition gestellt wurden, bedrückte mich zunehmend. Ab und zu schaltete ich die irritierende Informationsflut einfach aus, atmete tief durch und marschierte mit Peter im Eigenthal durch den Wald. Aber sogar beim Spazieren wurden ältere Bekannte von uns von Jugendlichen angepöbelt. Die jungen Leute schrieben ihnen vor, sie hätten gefälligst zu Hause zu bleiben, denn schließlich würde nur wegen ihnen so ein Zirkus veranstaltet.

Ab und zu schaltete ich die irritierende Informationsflut einfach aus.

Ich dachte, wir würden alle aus dieser Krise lernen. Aber es war nicht nur Schönes, das da zum Vorschein kam. Sicher muss man aufpassen, dass nicht auf dem Rücken einer Pandemie Volksrechte und Datenschutzgesetze ausgehebelt werden. Und die Ängste der Impfgegner verstehe ich auch. Außerdem ist die Diskussion, was denn nun wirklich »systemrelevant« ist, durchaus wichtig.

Ich begreife den Ärger darüber, dass wir sogar bei den gängigsten Medikamenten von China abhängig sind. Viele Ideen und Theorien kann ich aber überhaupt nicht nachvollziehen. Ich denke, dass man auch mal Ungewissheit und Kontrollverlust aushalten können muss, ohne überall Verrat und Böses zu wittern und Sündenböcke zu suchen.

Und natürlich machen auch Regierungen Fehler, wenn sie Neuland betreten und plötzlich schnelle Entscheidungen treffen müssen. Alles in allem war ich aber eindeutig im »Team Daniel Koch«.

Heute versuche ich meine innere Mitte zu finden.

Irgendwann sehen wir uns alle wieder.

Irgendwann halten Sie dieses Buch in den Händen.

Irgendwann ist alles wieder wie früher.

Nur bestimmt – und hoffentlich – dann doch irgendwie ein bisschen anders.

Heute weiß ich, dass ich nicht am Coronavirus erkrankt war. Ich durfte einen Antikörper-Test machen. Mir geht es gut. Dankbar sehe ich auf viele erholsame, entspannte Wochen zurück und freue mich riesig, wenn es mit Lesungen und Arbeit wieder losgeht. Ich bin bereit. –

Ich hoffe, dass auch Sie die Corona-Krise gut überstanden haben. Und schließe dieses Kapitel mit den Worten, die seit dem Frühling 2020 eine neue Bedeutung haben: Bleiben Sie gesund!

Kopfkino

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