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KAPITEL ACHT

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Jessie setzte sich kerzengerade im Bett auf.

Ryans klingelndes Handy hatte sie aus dem erholsamsten Schlaf, den sie seit Wochen gehabt hatte, gerissen. Sofort erkannte sie den Klingelton. Es war Captain Decker. Sie schaute auf die Uhr auf ihrem Nachttisch. Es war 2:46 Uhr morgens. Wenn der Captain ihres Polizeireviers um diese Uhrzeit anrief, dann musste es sich um etwas Ernstes handeln.

„Hallo“, nuschelte Ryan schließlich, nachdem er mehrere Sekunden lang an seinem Handy herumgefummelt hatte.

Jessie konnte Deckers Stimme hören, aber er redete leiser als sonst und sie verstand nicht, was er sagte. Allerdings merkte sie, dass sich Ryan unvermittelt versteifte.

„Okay“, sagte er leise, machte das Licht an und setzte sich im Bett auf.

Decker redete noch eine halbe Minute weiter und Ryan hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen.

„Werde ich“, sagte er schließlich und legte auf.

„Was ist los?“, fragte Jessie.

Ryan stand vom Bett auf, wandte das Gesicht von ihr ab und zog seine Hose an.

„Es gab erneut einen Mord in Manhattan Beach“, erwiderte er leise, „im gleichen Haus wie der vorherige Mord, um genau zu sein. Decker will, dass ich sofort hinfahre.“

Etwas an seiner Stimme irritierte sie, allerdings war sie sich nicht sicher, was genau. Er schien sich sehr zusammenzureißen.

„Was ist los, Ryan?“, fragte sie. „Du verhältst dich komisch.“

Er drehte sich zu ihr um und sie hatte den Eindruck, seine Augen wären feucht. Es schien, als wolle er ihr etwas sagen, aber dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck und sie wusste, dass er es sich anders überlegt hatte.

„Ich bin wohl einfach nur durch den Wind. Hab nicht damit gerechnet, mitten in der Nacht durch so eine Nachricht geweckt zu werden. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.“

Sie hatte immer noch den Eindruck, dass er etwas vor ihr verbarg, wollte aber nicht nachbohren.

„Kann ich etwas für dich tun?“

„Danke, nein. Du solltest versuchen wieder zu schlafen. Das Beste, was du jetzt tun kannst, ist, auf dich selbst zu achten.“

„Okay“, erwiderte sie, dann fragte sie: „Triffst du dich dort mit Garland?“

Ryan nahm einen großen Schluck aus dem Wasserglas, bevor er ihr antwortete.

„Er ist bereits dort“, sagte er und stand auf.

„Ziemlich beeindruckend für einen alten Mann“, bemerkte sie und konnte ihre Verwunderung kaum verbergen. „Dieser Typ steckt voller Überraschungen.“

„Er ist schon eine Nummer“, erwiderte Ryan, beugte sich nach unten und küsste sie auf die Stirn. „Versuch, wieder einzuschlafen. Morgen Früh melde ich mich bei dir.“

„Ich liebe dich“, sagte Jessie und legte sich wieder hin.

„Ich liebe dich auch“, erwiderte er leise, dann machte er die Nachttischlampe aus und verließ das Zimmer.

Trotz Ryans mahnender Worte konnte Jessie nicht wieder einschlafen. Während der nächsten 20 Minuten drehte sie sich hin und her, fand aber keine angenehme Schlafposition. Die ganze Zeit über musste sie an Ryans Verhalten denken, als er mit Decker telefoniert hatte.

Während er Deckers Ausführungen zugehört hatte, hatte Ryan einen Gesichtsausdruck gehabt, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Das waren nicht nur Schock oder Traurigkeit gewesen, sondern eine Kombination aus beidem, die bedeutsamer und tiefgehender zu sein schien. Und dann fiel es ihr ein. Einen Augenblick lang, bevor er sich wieder hatte zusammenreißen können, hatte er völlig am Boden zerstört ausgesehen.

Sie setzte sich auf. Es war unmöglich, jetzt wieder einzuschlafen. Sie ging ins Bad und bespritzte sich das Gesicht mit Wasser. Sie betrachtete sich im Spiegel und war erfreut, dass ihre Augen zur Abwechslung mal nicht vor Erschöpfung rot umrandet waren. Gut, das würde sich rasch ändern, wenn sie auf ihren restlichen Schlaf verzichten würde, wie es nun den Anschein hatte.

Sie ging zurück zum Bett und setzte sich darauf. Dann dachte sie wieder an Ryans Gesichtsausdruck, als Decker begonnen hatte, mit ihm zu reden. Was auch immer der Captain gesagt hatte, etwas stimmte ganz und gar nicht.

Sie griff nach ihrem Handy und wollte Garland anrufen, überlegte es sich aber anders. Ryan hatte gesagt, dass er bereits am Tatort war. Das bedeutete, dass er beschäftigt sein würde und nicht auf ihre Fragen würde reagieren können. Stattdessen rief sie den diensthabenden Beamten in der Central Station an und ließ sich die Adresse in Manhattan Beach geben.

Ohne sich selbst einzugestehen, was sie da eigentlich tat, zog sie sich an. Fünf Minuten später war sie fertig. Sie hinterließ eine Notiz für Hannah, die sie unter deren Zimmertür hindurch schob. Dann verließ sie die Wohnung und reaktivierte auf dem Weg zu ihrem Auto wieder alle Alarmsysteme.

Sie wusste, dass Ryan und Garland stinksauer sein würden, wenn sie am Tatort auftauchte. Aber das war ihr egal. Etwas stimmte nicht. Das spürte sie ganz deutlich.


*


Auch wenn sie sich einmal verfahren hatte, schaffte Jessie es innerhalb kürzester Zeit zum Strand.

Während der Rush-Hour hätte sie bestimmt über eine Stunde gebraucht. Aber um 3:30 Uhr morgens dauerte es weniger als eine halbe Stunde, auch wenn sie eine Ausfahrt verpasst hatte. Die Straßen waren fast leer. Als sie sich der Küste näherte, zog eine dicke Nebelwand auf, die jede Straßenlaterne umhüllte und sie wie einen einsamen Leuchtturm aussehen ließ. Das verlieh dem frühen Morgen etwas Gespenstisches und Trostloses.

Als sie ankam, parkte sie an der Manhattan Avenue, westlich vom Pier und etwa einen Block von der Adresse, zu der sie das Navi geleitet hatte, entfernt. Raschen Schrittes ging sie den Strip entlang. Auch wenn sie den Ozean um diese Uhrzeit nicht sehen konnte, so hörte sie doch die Wellen, die sich am Strand brachen, und so wusste sie, dass er ganz nah war.

Sie brauchte nicht lange zu suchen, um ihr Ziel zu finden. Einmal am Strip angelangt, konnte sie sehen, wie der Nachthimmel, trotz des Nebels, von mehreren Einsatzfahrzeugen erleuchtet wurde. Als sie sich dem Haus näherte, zählte sie mindestens ein halbes Dutzend Polizeiautos, einen Krankenwagen und einen Leichenwagen. Das gesamte Gebiet um die Villa herum war abgeriegelt und mehrere Beamte hielten Wache, damit die Neugierigen nicht zu nahe an das Haus herankamen.

Sie näherte sich einem ängstlich dreinblickenden, jungen Beamten und hielt ihm ihre Marke hin, da sie vermutete, dass sie an ihm am einfachsten vorbeikommen würde.

„Ich arbeite mit Detective Hernandez“, sagte sie ungerührt. „Können Sie mir sagen, wo er ist?“

„Er ist oben“, erwiderte der Beamte. Auch wenn sie ihn nicht kannte, hatte Jessie den Eindruck, dass er junge Mann ungewöhnlich erschüttert wirkte. Sie sah auf sein Namensschild.

„Geht es Ihnen gut, Officer … Timms?“

„Ja, Ma’am“, versicherte er ihr und riss sich zusammen. „Es ist nur so – ich habe das Opfer gekannt. Ich mochte ihn. Und dann war ich derjenige, der ihn gefunden hat.“

„Das kann ich gut nachvollziehen“, sagte sie und klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Es ist immer schwer, wenn man sich persönlich kannte.“

„Das stimmt, Ma’am“, erwiderte er und hob das Polizeiband, so dass sie darunter hindurch gehen konnte.

„Wie haben Sie das Opfer so spät nachts gefunden?“

Sie merkte, dass die Frage etwas anschuldigend rüberkam, was sie allerdings nicht beabsichtigt hatte.

„Er sollte den Schlüssel nach ein paar Stunden zurückbringen. Als er nicht zurückkam, bin ich hingefahren, um nach ihm zu sehen, und …“ Er unterbrach sich, da ihn die Gefühle übermannten.

Jessie wollte fragen, warum jemand der Polizei so spät einen Schlüssel zurückgeben wollte, aber sie sah, dass der junge Mann nicht weiterreden konnte, also beließ sie es dabei.

„Danke für Ihre Hilfe, Officer“, sagte sie stattdessen. Da sie nicht wusste, was sie sonst noch sagen konnte, um ihn zu trösten, ging sie zum Haus.

Sie zeigte dem Beamten, der die Tür bewachte, ebenfalls ihre Marke. Dieser trat zur Seite, um sie reinzulassen. Sie schaute auf den Boden des Foyers und sah die Kreide, die wohl zu dem ersten Opfer gehörte. Dann blickte sie nach oben, wo sie mehrere Stimmen hören konnte. Eine davon klang wie Ryans.

Sie ging in Richtung der Treppe, als ein weiterer Beamter, der an deren Fußende stand und aussah wie ein Sergeant, seine Hand hob. Im Gegensatz zu Officer Timms war er älter und sah kriegserfahrener aus.

„Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?“, fragte er höflich, aber bestimmt.

„Ich arbeite mit Detective Hernandez zusammen“, sagte sie und hielt ihre Marke zum dritten Mal hoch.

„Ich werde ihn wissen lassen, dass Sie hier sind“, sagte der Sergeant, auf dessen Namensschild „Breem“ stand, trat aber nicht zur Seite.

„Ich höre seine Stimme“, sagte sie gereizter, als ihr lieb war. „Ich kann ihn selbst wissen lassen, dass ich da bin, wenn ich oben bin.“

„Es tut mir leid, Ma’am. Detective Hernandez hat sehr deutlich gemacht, dass niemand ohne seine ausdrückliche Erlaubnis nach oben gehen darf. Er will, dass in diesem Fall gründlich und vorschriftsmäßig vorgegangen wird.“

„So ist er bei jedem Fall“, antwortete Jessie mit Nachdruck. „Was macht diesen Fall anders?“

Der Sergeant sah sie verblüfft an. Er öffnete den Mund, um zu antworten, doch bevor er etwas sagen konnte, hörte sie eine vertraute Stimme aus dem zweiten Stock rufen.

„Jessie?“, fragte Ryan und sah vom Treppenabsatz herunter. „Was machst du denn hier?“

Sie sah zu ihm auf und konnte sofort erkennen, dass ihm etwas zu schaffen machte. Und zwar etwas, das nichts damit zu tun hatte, dass sie unangekündigt aufgetaucht war. Sie starrte ihn an und ein Gefühl der Furcht begann, sich in ihr breitzumachen. Sie rannte die Treppe hinauf, bevor Sergeant Breem sie aufhalten konnte. Er begann ihr zu folgen, aber sie sah, wie Hernandez den Kopf schüttelte.

„Es ist okay, Sergeant“, sagte er.

„Was ist los, Ryan?“, fragte sie leise, als sie ihn oben erreichte.

„Ich muss draußen unter vier Augen mit dir reden“, flüsterte er.

„Nein. Was ist hier los? Wo ist Garland?“, fragte sie, ging an ihm vorbei und schaute ins Schlafzimmer.

Sie blinzelte langsam und hoffte, dass das, was sie auf dem Schlafzimmerboden sah, eine Fata Morgana war. Aber als sie die Augen wieder öffnete, war er immer noch da. Zwischen dem Gerichtsmediziner und einem Tatort-Techniker lag Garland Moses auf dem Boden. Er war tot.

Die Perfekte Nachbarin

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