Читать книгу Die Perfekte Nachbarin - Блейк Пирс - Страница 9
KAPITEL SECHS
Оглавление„Warte mal eine Minute“, sagte Jessie und ihr Herz machte einen kurzen Aussetzer. „Ich muss irgendwohin gehen, wo ich ungestört reden kann.“
Jessie bereute es beinahe zu warten. Die drei Minuten, in denen sie bezahlte, das Diner verließ und ins Auto stieg, kamen ihr wie eine halbe Ewigkeit vor. Dolan, ein abgebrühter Zyniker, dessen Laune selbst sein morgendliches Surfen kaum heben konnte, neigte nicht zu Übertreibungen. Wenn er sagte, dass eine Situation nicht gut war, war sie in der Regel äußerst schlecht. Sie hatte das Gefühl, dass ihr gleich ihr viertel Muffin, den sie gegessen hatte, hochkommen würde.
„Leg los“, sagte sie barsch, als sie den Anruf wieder entgegennahm.
„Die kurze Version ist: Wir haben nichts.“
„Es sind jetzt mehr als drei Wochen vergangen“, entgegnete sie. „Willst du damit sagen, dass er sich diese ganze Zeit über lammfromm verhalten hat?“
„Ja“, erwiderte Dolan, „was natürlich misstrauisch macht. Er hat noch nicht mal ein Stoppschild überfahren. Ihm ist selbstverständlich klar, dass wir ihn beobachten. Er winkt unseren Agenten immer zu, wenn er an ihnen vorbeifährt.“
„Haben sie nicht versucht, sich bedeckt zu halten?“
„Das haben sie anfangs. Aber, wie du weißt, ist er ziemlich schlau. Schon in der ersten Woche hat er unseren Van gesehen, also machte es keinen Sinn mehr, ihn weiter einzusetzen. Seitdem verwenden wir normale PKWs. Um ehrlich zu sein, meine Vorgesetzten wollen da nicht mehr lange mitspielen. Bald werden sie verlangen, dass wir das Ganze auf einen Agenten reduzieren. Es würde mich nicht wundern, wenn sie die komplette Überwachung am Ende der Woche einstellen, wenn bis dahin nichts geschieht. Dann wird ein Monat vergangen sein, in dem nichts vorgefallen ist.“
„Aber das ist genau das, worauf er wartet“, beharrte Jessie. „Er harrt so lange aus, bis ihr eure Jungs abzieht, und dann lässt er was Großes vom Ruder.“
Jessie spürte wieder die ihr wohlbekannte Beklemmung, als sie daran dachte, wie geschickt ihr Ex-Mann darin war, ein gefälliges Äußeres zu demonstrieren, das seine dahinter liegende böse Fratze verbarg.
„Du weißt, dass mir das bewusst ist“, erwiderte Dolan, sichtlich frustriert. „Aber denen da oben ist es relativ egal. Sie wollen Tatsachen sehen. Und wir können ihnen keine bieten. Du musst das Ganze aus ihrer Perspektive betrachten.“
„Was soll das heißen?“, wollte Jessie wissen.
„Denk dran, dass dein Ex-Mann genau genommen wegen Amtsvergehens eines Vollzugsbeamten freigelassen worden ist. Sie wollen sich nicht vorwerfen lassen, dass sie einen Mann schikanieren, der bereits vom System falsch behandelt worden ist. Das ist eine politische Frage. Die Tatsache, dass er ein Mörder ist, geht dabei völlig unter. Wir müssen also behutsam vorgehen. Wir sind kurz davor, dass uns unser Bemühen, ihm einen Gesetzesverstoß nachzuweisen, negative Medienberichte beschert. Heute ist eventuell der Tag, an dem die entscheidende Wende in dieser Sache eintritt.“
„Warum?“, fragte Jessie, allerdings hatte sie schon eine Ahnung. Kyle würde vor die Öffentlichkeit treten.
„Weil er heute Vormittag ein Interview mit einem Nachrichtensender hat“, antwortete Dolan und bestätigte damit ihr Gefühl. „Dabei soll es zwar um seine Stiftung gehen, allerdings würde es mich nicht wundern, wenn er auch seine momentane Situation zur Sprache bringt. Und mein Vorgesetzter macht sich Sorgen, dass er die Überwachung erwähnen könnte.“
Jessie merkte, dass sie schwitzte, allerdings wusste sie nicht, ob das an Dolans Worten lag oder an der stetig zunehmenden Hitze. Sie ließ den Motor an und drehte die Klimaanlage voll auf.
„Was ist mit dem Verdacht, dass er sich mit dem Monzon-Kartell eingelassen hat?“, fragte sie. „Haben sie keine Angst, dass sie, wenn sie seine Überwachung einstellen, nicht mitkriegen, wenn er sie kontaktiert?“
„Wir haben andere Mittel und Wege, ihn zu beschatten. Wir haben eine richterliche Verfügung erhalten, sein Auto mit einem Peilsender auszustatten, in seinem Haus Wanzen und Kameras zu installieren und sogar seine Anrufe aufzuzeichnen. Aber angesichts der Tatsache, dass ein Richter einem Staatsanwalt gerade einen Rüffel erteilt hat, weil er …“
„Ein Staatsanwalt, der garantiert vom Kartell bedroht wurde“, unterbracht sie ihn.
„Was wir allerdings nicht beweisen können“, entgegnete Dolan. „Meine Vorgesetzten befürchten, dass der Richter, der die Überwachungsmaßnahmen genehmigt hat, wenig geneigt sein wird, diese ausweiten zu lassen, falls sein Ruf auf dem Spiel steht. Wir befinden uns in einer prekären Lage.“
Jessie schüttelte den Kopf, auch wenn Dolan das nicht sehen konnte. Es war weniger als ein Monat vergangen, und schon manipulierte Kyle das System zu seinen Gunsten. Ihr stellten sich die Haare im Nacken auf, als sie daran dachte, was er alles in einem weiteren Monat in Freiheit anstellen könnte.
„Das ist genau das, was er wollte, weißt du“, bemerkte Jessie. „Er weiß, dass ihr ihn verfolgt, hat deswegen aber noch nicht aufgemuckt. Er lässt es über euren Köpfen schweben, und wird die Sache platzen lassen, wenn es für ihn am günstigsten ist. Solange es für seine Zwecke dienlich ist, macht er einen auf Unschuldslamm. Er will sich nicht bei der Presse beschweren, wenn ihr Jungs auch ohne das einen Rückzieher macht. Diesen Freifahrtschein hebt er sich für später auf. Das ist alles Teil seines Plans.“
Sie konnte hören, wie Dolan schwer ausatmete.
„Mich musst du nicht überzeugen, Jessie“, versicherte er ihr. „Ich bin auf deiner Seite. Allerdings frage ich mich gerade, ob wir unsere Jungs nicht jetzt abziehen sollten, bevor er irgendwelche Klagen erhebt. Dann können wir ohne weiteres belegen, dass wir ihm nicht folgen und ihn nicht schikanieren. Ich kann eine Pressemitteilung verfassen, dass unsere Agenten nur ab und an nach ihm sehen. Wenn er dann wegen uns rumjammert, schadet das seiner Glaubwürdigkeit. Er ist nicht der Einzige, der dieses Spiel spielen kann.“
„Nein, aber er ist besser darin als alle, denen ich je begegnet bin. Unterschätze ihn nicht.“
„Werd´ ich nicht“, versprach Dolan. „Wir wissen, dass Kyle aus dem Gefängnis raus ist, weil er das Kartell davon überzeugt hat, dass sich eine Investition in ihn lohnt. Wir wissen auch, dass sie ihm sogar dabei geholfen haben, für ihn dein Leben zu zerstören. Irgendwann wird er für sie liefern müssen. Bald wird was mit diesem Typen geschehen, das ihn in die Knie zwingen wird.“
„Ja, und er wird hoffentlich in die Knie gehen, bevor ich es tun muss.“
*
Jessie merkte, dass Ryan kein Salz in die Wunde streuen wollte.
„Wie geht’s euch denn so?“ fragte er sie und Hannah, während er den Brokkoli fürs Abendessen wusch und dabei tunlichst vermied, den Fall zu erwähnen.
Hannah bereitete eine Marinade für das Lamm vor, während Jessie nach der Bratpfanne suchte.
Es war klar, dass er hoffte, sie nicht eifersüchtig darüber zu machen, dass er draußen Morde untersuchte, während sie in der Wohnung festsaß, indem er nichts über seinen Tag erzählte. Sie hielt es für eine nette Geste, allerdings würde er bald erfahren, dass sie zwecklos war.
„Nur noch zwei Wochen Schule“, erwiderte Hannah fröhlich. „Dann haben wir Sommerferien. Das ist bei mir los.“
„Super“, entgegnete Ryan.
„Denk dran, dass du während des Sommers Nachhilfe hast“, erinnerte Jessie sie und ärgerte sich darüber, wie mamsellhaft sie klang.
„Ich weiß“, sagte Hannah daraufhin in einem sarkastischen Ton. „Aber das ist für ‚normale Kinder‘, und nicht in dieser Therapie-Einrichtung von Schule für Jugendliche mit ‚emotional aufwühlenden und psychologisch herausfordernden Erfahrungen‘. Außerdem fängt das erst in einem Monat an. Bitte mach doch meinem ohnehin zarten Gemüt nicht noch mehr zu schaffen.“
„Sorry“, sagte Jessie.
„Und dein Tag?“, fragte Ryan Jessie und wechselte damit rasch das Thema.
„Hätte besser sein können“, gestand sie. „Dolan hat mir gesagt, dass sie Kyle nichts anhängen können. Seit er draußen ist, war er so sittsam wie ein Chorknabe. Sie überlegen, die Überwachung abzuziehen.“
„Blöd.“
„Das ist es“, sagte sie. „Beinahe so blöd wie die Tatsache, dass mein Vertrauter und beruflicher Mentor mir nichts erzählt hat, als ich ihn nach den Einzelheiten des Falls, an dem er arbeitet, gefragt habe. Er hatte Angst, ich würde an Ort und Stelle anfangen zu geifern.“
„Oh nein.“
„Oh nein was?“, fragte sie.
„Oh nein, Garland hat mich vorgewarnt, dass du mich wegen Infos anhauen würdest, weil er dir nicht viel sagen wollte.“
„Ah ja?“, machte sie. „Hat er dir gesagt, wie du diesbezüglich mit mir umgehen sollst?“
„Er sagte mir, ich solle stark bleiben und unter deinem zermürbenden Verhör nicht zusammenbrechen.“
Jessie lächelte
„Was glaubst du, wie wirst du dich machen?“
„Ich bin mir sicher, dass ich standhaft bleiben werde“, erwiderte er und ging in Richtung des Schlafzimmers. „Aber erstmal werde ich duschen.“
„Du weißt, dass du mich nur eine gewisse Zeit lang hinhalten kannst“, rief sie, als er im Zimmer verschwand ohne zu antworten.
Jessie starrte die Tür an und fragte sich, ob sie diese allein durch ihren Blick zu Asche verbrennen könnte.
„Ähem“, machte Hannah zögerlich. „Ich will dich nicht noch mehr reizen, wo du schon so sauer bist, aber das Lamm, das ich braten wollte, riecht komisch. Wir sollten es wegschmeißen, was allerdings bedeutet, dass wir nichts fürs Abendessen haben.“
Jessie spürte, wie sie unweigerlich die Schultern hängen ließ. Dieser Tag würde so schlecht enden wie er begonnen hatte.
„Ich kümmere mich drum“, sagte sie schließlich.
„Sag mir bitte nicht, dass du selbst was kochen willst!“, rief Hannah ernsthaft besorgt.
„Dir ist hoffentlich bewusst, dass ich jahrelang fast jeden Abend was Essbares zustande gebracht habe, bevor du hier eingezogen bist. Hab etwas mehr Vertrauen.“
„Fast jeden Abend?“, wiederholte Hannah.
„An manchen Abenden hatte ich nicht so viel Hunger“, verteidigte Jessie sich.
„Alles klar“, erwiderte Hannah, wenig überzeugt. „Du willst eine Pizza bestellen, nicht wahr?“
Jessie spürte bei diesen Worten das schlechte Gewissen in sich aufsteigen.
„Ja. Ich werde eine Pizza bestellen.“