Читать книгу Die Perfekte Nachbarin - Блейк Пирс - Страница 5
KAPITEL ZWEI
ОглавлениеJessie Hunt stand vom Küchentisch auf und ließ sich die Schmerzen nicht anmerken.
Sie sammelte alle Teller ein und ging hinüber zum Spülbecken, um Wasser über das Geschirr laufen zu lassen. Da sie mit Abstand die schlechteste Köchin von allen Anwesenden war, hatte sie sich davor drücken können, das Abendessen zuzubereiten. Das bedeutete allerdings, dass sie den Job der Spülerin hatte übernehmen müssen. Normalerweise war das ein fairer Deal. Aber da sie noch unter den Verletzungen litt, die sie sich kürzlich zugezogen hatte, bereitete es ihr große Mühe, sich nach unten zu beugen. Das Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen war häufig der Auslöser für stumme Tränen.
Sie spürte immer noch den stechenden Schmerz am Rücken, wo ihre Haut vor drei Wochen verbrannt worden war. Aber sie schaffte es, es sich nicht anmerken zu lassen. Weder ihr Freund Ryan noch ihre Halbschwester Hannah schienen zu merken, dass sie immer noch große Schmerzen erlitt.
Die Verbrennungen hatte sie sich zugezogen, als sie eine Frau vor einem gestörten Mann gerettet hatte, der diese entführt und nach ein paar Tagen absichtlich freigelassen hatte, um dann in ihr Haus einzudringen und zu versuchen sie umzubringen. Jessie und der Frau war es nur knapp gelungen, aus dem brennenden Haus zu fliehen. Seitdem war Jessie vom LAPD beurlaubt worden. Man hatte sie zunächst ins Krankenhaus verfrachtet und nun saß sie in ihrer eigenen Wohnung fest.
Sie wusste, dass sie nicht hätte leiden müssen, da sie genügend Schmerzmittel hatte. Die Ärztin hatte ihr gesagt, sie solle die Dosierung während eines Monats beibehalten. Aber vor einer Woche hatte Jessie begonnen, das Mittel langsam abzusetzen, teilweise aus Angst vor einer Abhängigkeit. Allerdings gab es da einen weiteren Grund. Sie musste wachsam bleiben.
An dem Tag, nachdem Jessie sich verbrannt hatte, während sie im Krankenhaus lag, war ihr Ex-Mann, Kyle Voss, aus dem Gefängnis entlassen worden. Dabei handelte es sich um den gleichen Ex-Mann, der wegen Mordes an seiner Geliebten in den Knast gewandert war, was er Jessie damals hatte anhängen wollen. Als sie dahintergekommen war, hatte er versucht sie umzubringen.
Jedoch hatte der Staatsanwalt bezüglich Kyles Fall irgendwie herausgerückt, dass man mit dem Beweismaterial unsachgemäß umgegangen war. Natürlich war Jessie klar, was es mit dem „irgendwie“ auf sich hatte. Kyle hatte sich mit einer Gefängnis-Gang angefreundet, die Teil des berühmt-berüchtigten Monzon-Drogenkartells war. Als Folge davon hatten Kartellmitglieder die Familie des Staatsanwalts bedroht. Dessen war Jessie sich sicher.
Während Jessie sich also im Krankenhaus von ihren Verbrennungen erholte, entließ ein Richter Kyle Voss wieder in die Gesellschaft. Dabei entschuldigte er sich sogar im Gerichtssaal bei ihm. Kyle war wie immer der Charmeur in Person. Während einer Pressekonferenz gab er zu, dass er „weit davon entfernt war, unfehlbar zu sein“, und dass er ein neues Kapitel in seinem Leben aufschlagen wolle, indem er unter anderem eine Stiftung ins Leben rufen würde, die Organisationen für fälschlicherweise verurteilte Insassen unterstützt.
Was Kyle jedoch nicht zugab – und was Jessie wusste, jedoch nicht beweisen konnte – war, dass er, während er im Gefängnis gewesen war, einen Rachefeldzug gegen Jessie gestartet hatte, mit dem er ihr Leben und ihren Ruf zerstören wollte. Er hatte mit kleinen Dingen begonnen, indem etwa ein Kartellmitglied ihre Autoreifen aufgeschlitzt hatte. Dann hatte es sich dahingehend gesteigert, dass man antipsychotische Drogen versteckt und anonym das Jugendamt informiert hatte, mit der Behauptung, sie würde Hannah, für die sie das Sorgerecht hatte, Gewalt antun. Weiter ging es damit, dass man ihre Social-Media-Konten gehackt und in ihrem Namen rassistische und anti-semitische Kommentare gepostet hatte. Letzteres hatte, obwohl man dahintergekommen war, immer noch negative Auswirkungen auf Jessies berufliche Kontakte, außerdem auf die öffentliche Wahrnehmung ihrer Person.
Die Krönung bildete ein Blumenstrauß, der anonym in ihr Krankenzimmer gesendet worden war, und zwar mit der Notiz, dass der Absender sie bald sehen würde. Wenn man bedachte, dass Kyle bereits versucht hatte, sie umzubringen, und einem Informanten im Gefängnis gegenüber erwähnt hatte, dass er sie „wie ein Schwein abschlachten und in ihrem warmen Blut baden wolle“, kam es Jessie nur allzu angebracht vor, das Schmerzmittel zu reduzieren. Die körperlichen Beschwerden waren da nur ein geringer Preis dafür, dass ihr Geist rege bleiben konnte.
Es schadete auch nicht, dass ihr Freund, der kürzlich bei ihr und Hannah eingezogen war, ein verdienter LAPD-Kriminalbeamter war, der aussah, als könnte er es locker mit einem Stier aufnehmen. Ryan Hernandez, der Top-Kriminalbeamte in der Spezialeinheit für Mord, war 1,90 Meter groß und bestand aus 100 Kilogramm reiner Muskelmasse. Jessie hatte manchmal den Eindruck, sie sei mit ihrem eigenen Bodyguard zusammen. Momentan kam ihr das jedoch nicht so vor.
„Hast du’s bequem?“, fragte sie, ging rüber zur Couch und legte sich darauf, während seine nackten Füße auf der Lehne lagen.
„Sehr“, erwiderte er, dann zog er sie auf: „Hast du das Geschirr auch ordentlich eingeseift?“
„Du wirst gleich merken, wie gut eingeseift es ist, wenn du deine Stinkefüße nicht sofort von meiner Armlehne nimmst.“
Ohne ein Wort zu sagen, nahm er sie runter, streckte ihr aber die Zunge heraus. Sie unterdrückte ein Grinsen.
Zusätzlich zu der Tatsache, diesen gestandenen Mann im Fresskoma bei sich zu haben, beruhigte es sie außerdem, dass ihre Wohnung praktisch ein Tresorraum war. Sie hatte sie absichtlich so konstruieren lassen, als ihr leiblicher Vater, ein Serienkiller namens Xander Thurman, sie verfolgt hatte. Er war der Meinung gewesen, dass sie sich dem Familienunternehmen anschließen müsse oder andernfalls zu dessen Opfer werden würde.
Also hatte sie sich eine Wohnung zugelegt, die von pensionierten Cops bewacht wurde, über einen Parkplatz verfügte, der rund um die Uhr überwacht wurde, und in der jeder Flur und jeder umliegende Platz über Kameras verfügte. Aber das war noch nicht alles.
Sie war eine von wenigen Bewohnern – alle mit profilierten Jobs – die auf der geheimen 13. Etage lebten, die den meisten anderen Leuten im Haus unbekannt war. Man konnte sie nur über eine Treppe vom 12. oder 14. Stock aus erreichen, die hinter Flurschränken verborgen war.
Zusätzlich hatte Jessie für die Wohnung ihr eigenes, ausgeklügeltes Sicherheitssystem installieren lassen, inklusive diverser Schlösser und Alarme. Der einzige Vorteil aus ihrer Ehe mit einem zwar mordsüchtigen, jedoch auch extrem wohlhabenden und erfolgreichen Finanzberater hatte darin bestanden, dass sie nach ihrer Scheidung selbst wohlhabend geworden war.
Trotz all dieser Vorkehrungen wusste sie, dass Kyle, ein Soziopath, der sie ein Jahrzehnt lang hinters Licht geführt hatte, gerissen und skrupellos war. Er war beinahe mit Mord davongekommen. Er hatte sich einer langen Gefängnisstrafe entziehen können. Sie wusste, dass er durchaus in der Lage war, ihre sicherheitstechnischen Vorrichtungen zu umgehen.
„Lust auf Dessert?“, fragte Hannah sie vom Esstisch aus und brachte Jessie damit wieder in die Gegenwart, als sie die restlichen Teller abspülte. „Ich habe Birnentörtchen gemacht.“
Jessie war schon voll, wollte die zerbrechliche, positive Stimmung des Abends jedoch nicht zunichtemachen.
„Ich platze gleich, aber ein kleines Stück probiere ich gern“, erwiderte sie, was ihr ein zufriedenes Lächeln ihrer Halbschwester einbrachte.
Jedes Lächeln, das sie heutzutage ergattern konnte, war etwas Positives. Auch wenn, oberflächlich betrachtet, alles, was in der Wohnung vor sich ging, angenehm zu sein schien, so brodelte es darunter doch gewaltig. Ryan hatte Hannah zunächst um Erlaubnis gefragt, bevor er das Thema Zusammenziehen angesprochen hatte. Auch wenn das sehr rücksichtsvoll von ihm gewesen war, so spürte Jessie dennoch, dass Hannah nur aus Höflichkeit Ja gesagt hatte, nicht aber, weil sie sich darüber freute.
Es war offensichtlich, dass Hannah sie glücklich sehen wollte. Aber es war auch klar, dass sie sich die Wohnung nicht unbedingt mit einem verliebten Paar teilen wollte; und schon gar nicht, wenn beide für die Polizei arbeiteten.
Gerade, als Jessie darüber nachdachte, kam Hannah rüber, nahm die Törtchen aus dem Ofen und warf das kleinste – das außerdem ein wenig verkohlt war – auf die feuchte Küchentheke neben Jessie.
„Lass es dir schmecken“, nuschelte sie.
„Danke“, erwiderte Jessie, die sich lieber darauf konzentrierte, dass man ihr einen Nachtisch angeboten hatte, anstatt auf die Art und Weise, wie ihr dieser serviert worden war.
Manchmal zeigte sich Hannahs Ablehnung durch ihr passiv-aggressives Teenager-Verhalten, oder, wie in diesem Fall, in Form von verkohlten Birnentörtchen. Manchmal zeigte sie sich durch missmutiges Schweigen. Nicht ständig, aber es trat dennoch so oft zutage, dass man es nicht leugnen konnte. In ihren grünen Augen lag dann eine gewisse Hitzigkeit, sie ließ die Schultern hängen und ihre sandfarbenen Haare waren dann zu einem strengen, schnöden Pferdeschwanz zusammengebunden.
Für Jessie und Ryan waren die Umstände auch nicht gerade rosig. Denn keiner von beiden traute sich, ihre Verliebtheit voll auszuleben; nicht mit einer 17-Jährigen, die in dem Zimmer gegenüber vom Wohnzimmer schlief. Sie lebten seit etwas weniger als einem Monat so zusammen, aber bereits jetzt war klar, dass sie sich bald über ihre künftige Wohnsituation würden unterhalten müssen.
„Bei all den Sicherheitsvorkehrungen, die du hier hast, sollten wir die Schlafzimmer vielleicht schalldicht machen“, war das Einzige, was Ryan in dieser Sache von sich gegeben hatte.
Und dann war da noch das andere, das wie ein Damoklesschwert über allem hing. War Hannah Dorsey stabil? Jessie hatte vor nicht allzu langer Zeit das Sorgerecht für ihre Halbschwester, von deren Existenz sie bislang gar nichts gewusst hatte, erhalten. Sie hatte erst von ihr erfahren, nachdem ihr gemeinsamer Vater – der Serienkiller – Hannahs Adoptiveltern ermordet hatte. Dann hatte ein weiterer Killer namens Bolton Crutchfield ihre Pflegeeltern abgestochen, Hannah entführt und versucht, sie zu seinem Ebenbild zu formen. Das war eine Menge Trauma für einen Menschen, noch dazu für jemanden, der gerade erst in seinem vorletzten Jahr an der High-School war.
„Bitte sei vorsichtig mit dem Messer“, sagte sie, als Hannah damit unbedacht die restlichen Törtchen vom Backpapier auf dem Blech kratzte.
„Danke, Mom“, brummte Hannah leise und fuhr fort, das Messer wie eine Scheuerbürste zu verwenden.
Jessie seufzte, antwortete aber nicht. Der Anblick ihrer Halbschwester mit einem langen Säbelmesser in der Hand war etwas verstörend. Trotz ihrer Bemühungen, eine sichere Umgebung zu schaffen, machte sie sich Sorgen, dass in dem Mädchen vielleicht doch eine gewisse Mordlust steckte. Hatte sie diese eventuell entwickelt, nachdem sie am eigenen Leib erfahren hatte, welche Macht sie denjenigen, die sich von ihr mitreißen ließen, ermöglichte? Gab es da vielleicht einen Keim der Mordlust, der ihr vom Vater mitgegeben worden war? Und wenn ja, besaß Jessie diesen auch?
Das war eine Frage, über die sie monatelang gebrütet hatte. Sie hatte sie auch gegenüber ihrer Therapeutin, Dr. Janice Lemmon, angesprochen, die auch Hannah betreute. Sogar ihren Mentor, den berühmten Profiler Garland Moses, hatte sie gebeten, diesbezüglich nachzuforschen. Aber keiner hatte ihr eindeutige Antworten zu Hannahs Naturell geben können, genauso wenig, wie sie etwas Eindeutiges über ihren eigenen Charakter sagen konnte.
Die meiste Zeit über schien Hannah sich wie ein normaler Teenager zu verhalten, mit all den Launen und hormonellen Schwankungen. Aber angesichts des Traumas, das sie in den vergangenen Monaten erlitten hatte, war sogar dieses „Normal“ Anlass dazu, misstrauisch zu werden.
Jessie schüttelte den Kopf und versuchte, diese Gedanken abzuschütteln. Momentan lief alles halbwegs gut. Ihre Schwester hatte Nachtisch gemacht, auch wenn sie das verbrannte Stück bekommen hatte. Alle waren nett zueinander. Jessie sollte nächste Woche an ihren Schreibtisch zurückkehren und in der Woche darauf hoffentlich wieder voll als Profiler arbeiten. Alles schien vielversprechend.
Ja, es war frustrierend, Ryan jeden Morgen das Haus verlassen zu sehen, wie er ins Hauptquartier des LAPD fuhr, wo sie beide arbeiteten. Aber bald würde sie auch wieder dort sein. Dann würde sie in die Welt zurückkehren, die sie liebte, wo sie Killer überführen konnte, indem sie in deren Gedankenwelt eintauchte.
Für den Bruchteil einer Sekunde machte ihr die Tatsache zu schaffen, dass sie diese Welt „liebte“. Aber sie schob ihre leichte Besorgnis darüber rasch beiseite, zusammen mit einem Bissen von Hannahs exzellentem Birnentörtchen. Trotz des verkohlten Bodens schmeckte es köstlich. Während sich alle an ihrem Nachtisch labten, klingelte Ryans Handy. Sogar bevor er aufs Display schaute, war klar, worum es sich handelte. Um diese Zeit war es mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Fall.
„Hallo?“, sagte Ryan, als er ranging.
Beinahe eine Minute lang hörte er schweigend zu. Jessie konnte kaum die Stimme am anderen Ende der Leitung heraushören. Aber angesichts deren kratzender, ruhiger Art wusste sie sofort, wer es war.
„Garland?“, fragte sie, als Ryan aufgelegt hatte.
„Ja“, erwiderte er nickend, während er aufstand und seine Sachen zusammensuchte.. „Er kümmert sich um einen Fall in Manhattan Beach und denkt, dass er perfekt für meine Sondereinheit der Mordkommission wäre. Er bittet um meine Hilfe.“
„Manhattan Beach?“, fragte Jessie. „Das ist doch gar nicht mehr unser Revier, oder?“
„Offenbar ist der Ehemann des Opfers ein großes Tier in irgendeinem Öl-Konzern. Er hat von Garland gehört und nach ihm gefragt. Scheinbar ist er ein Riesen-Arschloch, also ist die örtliche Polizei ganz froh, dass sie diesmal nach dem LAPD nur die zweite Geige spielen muss.“
„Klingt nach einem aufregenden Fall“, sagte Jessie.
„Das ist das Seltsame“, sagte Ryan, allerdings nicht zu ihr, sondern zu Hannah, während er sich seine Sportjacke überwarf und seinen Pistolengurt umband. „Die meisten Leute würden so etwas ironisch meinen. Aber bei deiner Schwester ist das ernst gemeint. Sie ist neidisch, dass sie nicht mit darf. Ist wie eine Krankheit.“
Er hatte Recht, in mehr als nur einer Hinsicht.