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Ich erwachte und wußte, daß dieser Tag der Anfang aller Schrecknisse war.

In nur wenigen Stunden würde die vollständige Renovierung meiner Wohnung eingeleitet werden.

Ohne Zweifel war eine Renovierung nötig. Die Tapeten waren zerrissen und Muster und Farbe zur Unkenntlichkeit verblichen. Die Fensterrahmen waren spröde, die Kloschüssel hatte einen Sprung, der Herd war eingebrannt, und in den Ecken sah die Decke aus wie ein Berufsboxer um die Augen, der einen sehr erfolgreichen Abend hinter sich hatte.

Viele Jahre hindurch hatte ich den Vermieter dringend gebeten, seinen Verpflichtungen nachzukommen und die Wohnung in einen menschenwürdigen Zustand zu versetzen. Als einzige Antwort erhielt ich die vierteljährliche Benachrichtigung über die obligatorische Mieterhöhung.

Doch dann, zwei Wochen später, hatte er zugeschlagen.

In einem Rundschreiben forderte er die Hausbewohner auf – wir lebten offensichtlich alle in dem gleichen Elend –, zum angegebenen Datum die Wohnungen den Handwerkern zugänglich zu machen. In Fällen, wo der Wohnungsinhaber nicht persönlich anwesend war, würde man sich des Generalschlüssels bedienen.

Nach einem Augenblick des Triumphs packte mich die Wut. Die Reparaturen sollten selbstverständlich ausgeführt werden, jedoch nicht im September, sondern in der Zeit, wenn ich mich im Stadthotel in Strängnäs oder Mariefred aufhalten konnte, vorschlagsweise in der ersten Julihälfte.

Ich tat in einem barschen Brief dem Vermieter meine Meinung kund. Jetzt antwortete er allerdings in einem persönlichen Schreiben, besaß jedoch die Frechheit, darin allein auf meinen vorherigen Brief, datierend vom 15. August, hinzuweisen, in dem ich verlangt hatte, daß umfassende Maßnahmen gegen die zunehmende Verwahrlosung »jetzt, unverzüglich und ohne Aufschub« durchgeführt werden müßten.

Ich wußte genau, was auf mich zukommen würde.

Tage- und womöglich wochenlang würden die Handwerker zu allen Tages- und Nachtzeiten und mit einem unangenehmen Ausdruck von Besitzrecht auf dem Gesicht Zutritt zu meiner Wohnung fordern. Grobes Papier würde man auf dem Boden ausgelegen, die Möbel würden zu einem Klumpen in die Zimmermitte geschleppt, und ihren Platz nähmen Tapetenrollen, Leitern und schmierige Dosen wechselnden, aber stets übelriechenden Inhalts ein.

Ich müßte Farbe, Terpentin und Kleister einatmen.

Ich wäre gezwungen, sogar den hintersten und verborgensten Winkel den Händen der Eindringlinge zu überlassen.

Ich würde zum Logierbesuch werden, einem ungern gesehenen Gast in den Trümmern meines alten Heims.

Natürlich machte ich am Telefon gegenüber meiner kleinen Schwester Margareta, der Frau Staatsminister, meinem Ärger Luft. Und sie erklärte sogleich, daß ich bei ihr in der Villa in Spånga wohnen solle, gemeinsam mit ihr, dem Staatsminister, den sechzehn Kindern und den zwei Hunden.

Die Wahl zwischen übelriechenden Kleisterdosen oder eine Woche lang einen gemütlichen Abend im Kreise der Kinder und Hunde des Staatsministers zu verbringen, fiel mir nicht schwer.

Ich hatte mich unmittelbar, einer Enthusiasmus vergleichbaren Regung folgend, für die Kleisterdosen entschieden.

Doch meine Schwester, die ihren Willen und ihre Stimme durch das tägliche Zusammenleben mit Gatten und Kindern abgehärtet und geschärft hatte, hatte mich schon nach zwei Tagen und vier Telefonaten zum Nachgeben gezwungen. »Du als Lehrer solltest doch an Kinder gewöhnt sein«, hatte sie gemeint. »Und die Hunde beißen nur Leute, die sie nicht mögen.«

Ich seufzte, stand auf und nahm die morgendlichen Verrichtungen in Angriff, alles während ich über die eigenartige Tatsache nachsann, daß sich die gleichen Handgriffe während meiner Dienstzeit in einer halben Stunde erledigen ließen, sich jetzt aber im Lauf meiner Krankschreibung über den ganzen Vormittag hinzogen. Nach dem Mittagessen bei Tee und Zwieback und einem weichgekochten Ei war ich etwas besser aufgelegt und begann das einzupacken, was ich für mein Exil in Spånga brauchte. Mir fiel ein, daß die Briefmarkensammlung mitmußte – dort konnten sich mitten am Tage ein paar ruhige Stunden ergeben, wenn der Staatsminister in der Staatskanzlei und die Kinder in der Schule waren. Zusätzlich zu den Arzneien – denen für den Darm und für das Herz – füllte sich ein ganzer kleiner Koffer. Als Lektüre wählte ich Fritz von Dardels »Erinnerungen« in vier Bänden, unterhaltend, ohne schlüpfrig zu sein, indiskret, ohne ins Klatschhafte zu verfallen – und wenn dem so wäre, trug sich alles immerhin vor langer Zeit zu ...

Anschließend ließ ich mich in meinen Sessel nieder und betrachtete die Flecken an der Decke, entdeckte, daß ich sie vermissen würde, und fragte mich, wer zuerst einfallen würde – der Staatminister mit den Kindern und Hunden oder die Handwerker.

Es war der Staatsminister. Groß und zerzaust stand er plötzlich im Flur und rief: »Wie blaß du aussiehst, du brauchst Leben und Bewegung!« und machte sich daran, mittels der Verbindung von Impulsivität und Geistesabwesenheit, die wohl eine Voraussetzung dafür ist, Vater von sechzehn Kindern zu werden, die Flurkommode hinauszubugsieren.

Ich gebot ihm Einhalt und zeigte auf die Koffer.

Die schwarze Staatskarosse stand direkt vor mir, als ich aus der Haustür trat. Für einen kurzen Augenblick hielt ich sie für einen Leichenwagen, und meine Seele durchfuhr gewissermaßen ein Kellerhauch. Daran änderte sich nicht viel, als ich das Gefährt erkannte und mich entsann, zu wie vielen Verabredungen mit dem Tod dieses Fahrzeug mich schon befördert hatte ...

Doch der Troll platzte in der Septembersonne, und der Rücksitz glich einem Schlangennest aus lebenden und lebensfrohen Jungen. Ich sank auf dem Platz neben dem des Fahrers und Staatsministers nieder, der die Koffer hinten verstaut hatte, über mich herfiel wie die Mutter über ein verlorenes Kind, das Plaid unter mir zurechtzupfte, mich anschnallte und mich mit Gurten umwickelte, bis ich mir wie ein Bestandteil des Sitzes vorkam. Ich jammerte ein wenig und sagte, ich hätte es vorgezogen, vom Chauffeur abgeholt zu werden (der mich nicht auf diese Weise festband und während des Dienstes nie Kinder dabeihatte) und erkundigte mich, warum der Staatsminister sich mitten an einem Donnerstagvormittag nicht auf seinem Posten in der Staatskanzlei befand. Er antwortete, Herr Geijer sei wegen einer seiner ewig wiederkehrenden Erörterungen mit den Spitzen der Regierung dort. Ich hatte davon schon vorher reden gehört: Offensichtlich bekommt der Gewerkschaftschef, wenn er bei derlei Besuchen im Korridor auf den Staatsminister trifft, schlechte Laune, wird mürrisch und unzugänglich, und den Staatsminister bittet man aus diesem Grunde, sich in diesen Tagen von diesem hohen Hause fernzuhalten. (Wie ich an anderer Stelle1 in dieser Schriftenreihe geschildert habe, kam der Staatsminister durch eine Serie fataler Umstände zu seinem Amt, obwohl er durch Erbschaft weite Teile der schwedischen Industrie besitzt. Seine Regierungskollegen haben gelernt, mit ihm und seiner Vergangenheit vor Augen zu leben und zu arbeiten, Herr Geijer jedoch – obgleich in mancherlei Hinsicht ohne Vorurteile – ist nie über dessen Beförderung hinweggekommen.)

Der mittägliche Verkehr hatte bereits beträchtlich zugenommen, doch die imposante Limousine schoß wie ein Hai unter kleinen Fischen vorwärts – ich vermute, anderen Fahrern geht im Kopf herum, welch enorme Summe ein Zusammenstoß und die Beschädigung eines solchen Vehikels kosten muß, und weichen darum aus und suchen keinen Streit. Wir hätten binnen zwanzig Minuten in Spånga sein können, wenn nicht ein Jüngling vom Rücksitz gerufen hätte, daß Mama Käse von Arvid Nordquist und Wäsche aus der Kanzlei brauchte. (Die Familie hat die seltsame Angewohnheit, dort ihre Wäsche auszutauschen. Wenn es an der Zeit ist, transportiert der Staatsminister den Sack mit dem beschmutzten Leinenzeug aus Spånga und stellt ihn im Flur des Justizministeriums ab, wo ihn die Wäscherei im späteren Verlauf des Tages mitnimmt im Austausch gegen einen Beutel mit jetzt gewaschener und gebügelter Wäsche. Ich erinnere mich, daß der älteste Sohn des Staatsministers einmal auf einen der Säcke den Schriftzug »Justizministerium – abgehende Post« pinselte. Der Fotograf einer Abendzeitung, der zufällig des Weges kam, fing den Staatsminister unter der ungeheuren Last ab, und dieser stand – vollkommen unverdientermaßen und von recht kurzer Dauer – in dem Ruf, der Arbeitssklave der Regierung zu sein.)

Der Käse wurde gekauft, doch im Anschluß an einen kurzen, verworrenen Dialog mit sich selbst verschob der Staatsminister den Wäschewechsel mit Rücksicht auf Herrn Geijers Gefühle auf den nächsten Tag, und wir waren schon an der Staatskanzlei vorübergeflossen, als der Staatsminister abermals von sich hören ließ: »Rydlander! Wir sollten doch auch Justizchef Rydlander mitnehmen!«

Käse und Wäsche interessieren mich nicht, Justizchefs hingegen schon. Der Justizchef ist bekanntlich der höchste Beamte innerhalb eines Staatsministeriums, der Fragen von gesetzgebendem Charakter vorbereitet. Ich erwog selbst einmal, Jura zu studieren, mein Vater jedoch wendete ein, es gebe bereits so viele Juristen, daß man die Erde mit ihnen düngen könnte, und damals hörte man noch auf seine Eltern, und so kam ich dann zu den Geisteswissenschaften und meiner Lehrerlaufbahn. Doch das Interesse für die Jurisprudenz, vor allem für stilistische Probleme der Gesetzesschreibung, hat nie nachgelassen, und ich hatte viele Male den Staatsminister nach seinem Justizchef befragt, doch er hatte nur ein verwirrtes Gesicht gemacht und gemurmelt: »Rydlander? Er ist groß ... und dann hat er auch noch Schuppen gehabt ...«

Als Charakterisierung eines der höchsten Beamten im ganzen Ministerium ist dies unleugbar ein wenig dürftig, und deshalb war ich nun froh, dem Mann persönlich begegnen und mir eine Meinung über ihn bilden zu können.

»Da drüben steht er!« rief der Staatsminister und begann einen Ankerplatz zu suchen.

Er ist tatsächlich groß, der Justizchef Rydlander. Hoch aufgeschossen, gerade gewachsen und breite Schultern. Die imposante Erscheinung eines Beamten in Schwarz vom Hut bis zu den Schuhen. Doch an den Bewegungen war etwas seltsam ... Die Hände flatterten in schnellen, nervösen, ruckartigen Bewegungen zu den Schultern.

»Was hat er?« flüsterte ich. »Was macht er da?«

»Die Schuppen«, antwortete der Staatsminister.

»Die Schuppen?«

»Er glaubt, er hat Schuppen auf dem Kragen und den Schultern und versucht sie abzubürsten ... Hallo, hoffe, Sie mußten nicht warten!«

Ich konnte jetzt das Gesicht des Mannes studieren. Auch das war ein eigenartiges Erlebnis. Soweit ich erkennen konnte, besaß er kein Gesicht im herkömmlichen Sinne. Bloß ein großes, konturloses Feld zwischen Hutkrempe und Kinn. Eine dicke, eulenrunde Brille füllte einen Teil des Leerraums aus, ein kleiner Abschnitt wurde von einem schmalen, nervösen Lächeln in Anspruch genommen. Wir wurden einander vorgestellt; stramm an den Sitz gefesselt, vermochte ich nicht, ihm die Hand zu reichen, sondern lediglich mich leicht zu verneigen. Der Staatsminister riß mit einer einladenden Geste die Tür zum Rücksitz auf. Justizchef Rydlander schaute ins Wageninnere, wich zurück und befeuchtete die Lippen.

»Es ... es scheint mir da drinnen voll zu sein«, stellte er fest und schlug sich auf die Schultern.

»Sie können sich doch ganz dicht ans Fenster klemmen, wenn Sie Johan auf den Schoß nehmen!« rief aus dem Fond derselbe Jüngling, der seinen Vater an den Käse erinnert hatte. »Aber passen Sie auf, daß Sie sich nicht in was Schmieriges setzen. Jemandem da hinten ist eben das Eis heruntergefallen.«

Der Justizchef murmelte etwas, das ich als das Wort »Taxi« interpretierte, doch der Staatsminister versetzte ihm einen freundlichen Klaps auf den Hintern, und mit einem kurzen, nervösen Aufschrei wurde die schwarz gekleidete Gestalt von der Masse verschluckt.

Ich lächelte grimmig in meinen Seilen vor mich hin. Es freut mich immer, wenn die Obrigkeit in unmittelbaren Kontakt mit der modernen, aufgeweckten Jugend kommt, der wir Lehrer täglich aus Erziehungsgründen ausgesetzt sind.

Dann sausten wir nach Spånga, und der Staatsminister warf seinem Mitarbeiter einen arbeitsscheuen Blick über die Schulter zu und fragte, ob es etwas Dringendes zu erledigen gebe und es lange dauern werde. Und Justizchef Rydlander schrie, er habe vor, die Vorschläge zum Gesetz über das Recht der Kommunen vorzuziehen, das Trinkwasser mit Fluor zu versetzen, und der Staatsminister murmelte: »Was die sich so alles einfallen lassen!« Aber der Justizchef kam wieder darauf zurück und entgegnete, das Ministerium arbeite seit zwei Jahren an dieser Frage und daß vom Staatsminister erwartet werde, sich für die Sache stark zu machen und im Verlauf des Nachmittags zu einer Entscheidung zu kommen, und der Staatsminister seufzte und meinte, er werde verrückt, wenn es so sonnig und schön sei, und er habe die Absicht gehabt, mit den Kindern Ball zu spielen.

Der Fall des Staatsministers

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