Читать книгу Der Fall des Staatsministers - Bo Balderson - Страница 8
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ОглавлениеUm neun Uhr am nächsten Morgen betrat ich den Bürotrakt der Villa.
Der Staatsminister war an Ort und Stelle, war aber nicht so unbekümmert wie sonst.
In den frühen Morgenstunden hatte man aus der Kanzlei angerufen. Die Besprechungen mit dem Gewerkschaftsführer über die Erhöhung der Verbrauchssteuer konnten nicht zu einem Ende gebracht werden, sondern befanden sich in einem äußerst heiklen Stadium. Herr Geijer war überaus aufgeregt und leicht reizbar, und der Bescheid war vom Ministerpräsidenten persönlich ergangen, daß sich der Staatsminister um jeden Preis am Tage fernzuhalten habe.
Ansonsten war die Autofahrt von Arlanda nach Stockholm mit dem japanischen Premierminister am Vorabend sehr anstrengend gewesen. Es stellte sich nämlich heraus, daß der Regierungschef nur seine eigene Muttersprache beherrschte und daß dem Außenministerium ein Irrtum unterlaufen war und einen vietnamesischen Dolmetscher geschickt hatte. »Die kommen immer von dort«, war ihre einzige Entschuldigung gewesen. Andere Mitarbeiter des Außenministeriums vor Ort konnten zusammengezählt elf interessante Sprachen, aber nicht Japanisch. Der Staatsminister war darum gezwungen, während der halbstündigen Fahrt mittels Gesten mit dem Gast zu kommunizieren. Nachdem man sich durch die zugelassenen Gesprächsthemen gestikuliert hatte, mußte er auf verbotene Gebiete zurückgreifen, und fast am Haga Schloß angekommen, hatte er bei der Erwähnung von Schwedens Haltung in der Vietnamfrage womöglich eine etwas überspitzte Beurteilung in Form einer heftigen Armbewegung gemacht, unmittelbar gefolgt und unterstrichen von einem Stoß mit dem Bein und hatte sich dabei eine Kontusion – oder eine Konstitution, wie der Staatsminister es nannte – am Knie zugezogen.
Eine dritte Klippe der Verärgerung war Staatssekretär Svanberg. Er war weder in seiner Wohnung noch in der Kanzlei, noch an einem anderen erdenklichen Ort. Er war ganz einfach verschwunden.
Und seine Gegenwart an diesem Vormittag war dringend erwünscht. Der Staatsminister hatte nämlich einem alten Versprechen zufolge eine Delegation des Stockholmer Vereins der Wirtschaftsleiterinnen zu empfangen, die dem Justizminister ihre Ansichten über die steigende Kriminalität und das zunehmende Rowdytum in der Hauptstadt vorzutragen wünschte, und Staatssekretär Svanberg war der einzige, der im Besitz der – vermutlich erlogenen und in jedem Fall frisierten – statistischen Angaben war, die die Argumente der Frauen widerlegen, ihren Protest zum Verstummen bringen und ihre Befürchtungen zerstreuen sollten.
Und jetzt war dieses Superhirn, dieser vortreffliche Dialektiker verschwunden, und die Frauendelegation, die im letzten Augenblick von der Staatskanzlei nach Spånga umdirigiert worden war, wurde in einer Viertelstunde erwartet.
Der Staatsminister saß auf dem Sofa und versuchte sich an Verbrechen zu erinnern, besonders an die mit sinkender Zahl, die in der letzten Zeit begangen wurden, während Frau Johansson per Telefon in derselben Frage Fakten aus besser unterrichteten Kreisen zusammentrug.
Der Staatsminister störte uns die ganze Zeit mit einfältigen Vorschlägen, allerlei Gerede und Unsinn.
»Wir setzen dich auf den Stuhl dort hinüber und stellen dich als Kanzleirat vor. Du siehst aus wie ein Beamter. Dich umgibt wirklich eine Aura von beruhigender Bürgerlichkeit. Und für dich wird es interessant sein, einmal zu sehen, wie es auf so einem Empfang zugeht. Aber das muß schnell über die Bühne gehen – wir haben um elf eine Sitzung. Ich setze mich hinter den Schreibtisch, das verleiht mir ein wenig Autorität, etwas mehr Autorität. Du mußt versuchen, die Sprecherin zu bezaubern, Frau Samuelsson heißt sie. Nimm ihre Hand, nein, das solltest du vielleicht lieber nicht tun, jedenfalls nicht die ganze Zeit, aber lächle sie an und sag, sie habe eine frische Gesichtsfarbe – ich habe sie gesehen, sie ist rot im Gesicht wie ein Stierkalb – und trägt Wirtschafterinnenkluft, ich nehme an, irgendeine gestreifte Tracht mit Borte und Schürze. Und ihr werdet sehen, Svanberg taucht auf, er kommt oft in letzter Sekunde. Wenn ich doch nur draufkäme, wo ich dieses wunderbare, spiegelverkehrte Diagramm habe, das beweist, daß die Kriminalitätsrate sukzessive sinkt ...«
Aber der Staatsminister hatte keine Zeit mehr, nach seinem Diagramm zu suchen, und Staatssekretär Svanberg hatte keine Zeit mehr, seinem Herrn beizuspringen, denn in just diesem Augenblick drängten sich schon die Frauen vor der Tür.
Frau Johansson eilte hinaus, um ordnend und helfend einzugreifen, der Staatsminister plazierte mich auf dem erkorenen Stuhl und nahm selbst eine würdevolle Haltung hinter dem Schreibtisch ein, die eine Hand lässig auf dessen Platte gestützt.
Und dann trabten die Frauen herein. Es waren nicht so entsetzlich viele, vielleicht drei Wagenladungen, und sie trugen Zivil, und ihnen fehlten die äußeren Attribute einer Hauswirtschafterin, abgesehen von einer gewissen gemeinsamen Tendenz zur Körperfülle. Vor allem die Lehrerin, Frau Samuelsson, war ein kräftiges Frauenzimmer. Und ein wütendes. Das graue Kostüm schien kurz davor, durch eine gefährliche Kombination aus innerem Leidensdruck und kräftiger Leibesfülle aus den Nähten zu platzen. Mit einer Handbewegung formierte sie ihre Hilfshauswirtschafterinnen zu einem bedrohlichen Halbkreis um den Staatsminister, der sich bereits etwas mehr auf den Schreibtisch stützte. Frau Samuelsson fixierte ihn mit einem Blick, wie ihn eine ältere, disziplinierte Volksschullehrerin gegen den Raufbold der Klasse einsetzt, und rief: »Herr Staatsminister!« und legte los.
Es war wahrhaft herzerfrischend. Die Regierung im allgemeinen und der Staatsminister im besonderen bekamen ihr Fett weg. Nach einem einleitenden, bissigen Resümee über die Preisentwicklung war Frau Samuelsson schnell zu ihrem Thema des Tages gekommen. Die Verrohung und der moralische Verfall in Stockholm wurde in grellen Farben ausgemalt. Sie beschrieb, wie Frauen und alte Menschen es aus Angst vor Gewalttätern nicht mehr wagten, ihre Wohnungen zu verlassen. Sie erklärte, sie sei selbst mehrmals von verlotterten Mannsbildern belästigt worden – eine Behauptung, der man meiner Ansicht nach kaum Glauben schenken durfte. Sie berichtete mit erstaunlicher Sachkenntnis und abstoßendem Realismus über die abscheulichen Morde in der Hauptstadt innerhalb der letzten fünf Jahre und schloß – nach einer Anhebung ihrer Oberweite, die nicht von dieser Welt war – mit der Forderung nach sofortigen und durchgreifenden Maßnahmen gegen »Raufbolde, Radaubrüder und kriminelle Subjekte« samt eines Appells an den Staatsminister, »ein Birger Jarl zu werden, der von neuem den Frauenfrieden in der Hauptstadt verteidigt».
Birger Jarl, der über dem Schreibtisch zusammengesunken war, stellte sich auf die Hinterbeine und begann das Gegenfeuer zu eröffnen. Er sprach von unserer im Grunde so gesunden Jugend, über die ständig steigenden Ressourcen, die die Regierung und der Reichstag der Ordnungsmacht zur Verfügung stelle, er sprach von Polizeihunden, Polizeipferden und davon, wie er persönlich mit unermüdlicher Aufmerksamkeit die Entwicklung verfolge.
An dieser Stelle schnaubte Frau Samuelsson kräftig, doch der Staatsminister holte abermals aus und erklärte, die neueste Statistik belege, daß die Schwerkriminalität rapide abgenommen hätte. »Ich könnte Ihnen Zahlen zeigen ...«, sagte er.
»Tun Sie das!« antwortete Frau Samulesson.
»Ich könnte Ihnen Zahlen zeigen«, wiederholte der Staatsminister, »aber leider ist mein Diagramm im Moment ... ich weiß nicht, wo ...« – er suchte nach den richtigen Worten, und er fand sie: »Sie stehen mir im Moment nicht zur Verfügung.«
»Unordnung scheint sich von den Straßen ins Justizministerium ausgebreitet zu haben«, entgegnete Frau Samuelsson und lächelte grimmig. »Und warum verstecken Sie sich hier draußen in Spånga, in einem ruhigen Villenvorort? Traut sich nicht mal mehr die Regierung, in der Innenstadt zu arbeiten?«
Hier setzte der Staatsminister alles auf eine Karte.
»Hauswirtschafterinnen!« rief er. »Ich versichere Ihnen, ich gebe Ihnen mein Wort als Politiker ... ähäm. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, die Regierung hat die Lage unter Kontrolle. Wenn ich doch nur wüßte, wo ... Jetzt weiß ich es wieder! Jetzt fällt mir ein, wo das Diagramm ist, das beweist, daß eine Wendung zum Besseren stattgefunden hat!«
Er nahm Anlauf, durchbrach den Halbkreis der Hauswirtschafterinnen und stürmte auf einen der gewaltigen Eichenschränke an der Längswand zu.
»Hier«, rief er triumphierend, »hier ist der Beweis dafür, daß die Schwerkriminalität gerade jetzt rapide abnimmt! Der Beweis dafür, daß sich alle Mitbürger auf Stockholms Straßen ihres Leibes und Lebens genauso sicher sein können wie in diesem Zimmer!«
Und dann löste er einen Riegel und schlug die Schranktür auf.
Wir hatten Staatssekretär Svanberg unrecht getan.
Er mußte lange vor uns allen zur Stelle gewesen sein.
Er lag in Inneren des Schranks. Nein, vielleicht saß er mehr dort, zusammengekauert wie ein Embryo im Mutterleib. Der Kopf war auf die Seite gefallen, und die gebrochenen Augen schauten uns an.
Wir hatten uns alle zum Schrank umgedreht und mußten ihn alle im selben Augenblick entdeckt haben.
Ich entsinne mich der Stille, und ich entsinne mich der Schreie, der gellenden, hysterischen Schreie ...