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I. Revolution! Mein Weg an die Macht
ОглавлениеJetzt waren es also nur noch ein paar Schritte. Vier Stufen, um genau zu sein. Mein Herz fing wie wild an zu pochen. Monate, nein, Jahre hatte ich auf diesen Moment hingearbeitet.
Eine kleine Revolution. Meine Revolution, die ich akribisch vorbereitet, immer wieder diskutiert und öffentlich verteidigt hatte. Nun war es so weit. Später sollte dieser Tag als der Beginn einer Ära, eine Art Wendepunkt in die Geschichte des deutschen Handballs eingehen. Aber später war später – jetzt befand ich mich im großen Saal des Maritim-Hotels Düsseldorf. Und in mir, dem Medienprofi, dem Meister des publikumswirksamen Auftritts, tobte der Sturm.
Das Raunen im Plenum drang gedämpft zu mir herüber. Unabhängig davon, dass es eigentlich Usus war, dass derjenige, der wie ich damals von der Liga vorgeschlagen wurde, auch zum Vizepräsidenten Leistungssport gewählt wird, spürte ich schon an jenem 21. September 2013, dass mir gegenüber nicht bloß Freunde saßen. Mit dem Papier „Amateure hoffen, Profis arbeiten“ hatte ich nicht wenige der rund hundertfünfzig Anwesenden gegen mich aufgebracht. So viel stand fest.
Dem deutschen Handball ging es nicht sonderlich gut zu jener Zeit. Was sage ich … Der Verband lag am Boden! Nach fünfzehn Jahren unter dem damaligen Präsidenten Ulrich Strombach hatte sich der mitgliederstärkste Handballverband der Welt in einen tiefen Schlaf verabschiedet, die Strukturen waren verkrustet – und sportlich hatte die Nationalmannschaft, einstiges Aushängeschild des DHB, gerade einen neuen Tiefpunkt erreicht. Verblasst waren die großen Erfolge unter Bundestrainer Heiner Brand. Der EM-Titel und olympisches Silber im Jahr 2004 oder das goldene Wintermärchen von 2007 im eigenen Land wirkten im Herbst 2013 wie Relikte aus einer anderen, längst vergessenen Zeit.
Die Gegenwart sah düster aus. Platz elf bei der Weltmeisterschaft 2011, die damals schlechteste WM-Platzierung einer deutschen Mannschaft in der Geschichte, und die verpasste Olympiaqualifikation für die Sommerspiele 2012 hatten wir gerade irgendwie verwunden, da setzte es im Sommer 2013 den nächsten Tiefschlag: eine 25:27-Niederlage in Podgorica gegen die Feierabendhandballer aus Montenegro. Nie zuvor hatten wir eine Europameisterschaft verpasst, im elften Anlauf passierte es. Ein Debakel. Historisch schlecht waren wir.
Der damalige Bundestrainer Martin Heuberger, Nachfolger von Heiner, der seinen Job nach der WM-Schlappe von 2011 geräumt hatte, bekam vom scheidenden Präsidium eine Jobgarantie, was zur Folge hatte, dass es in der Szene noch mehr rumorte als ohnehin schon. Kretzsche, damals wie heute um kein kritisches Wort verlegen, brachte seine Fassungslosigkeit via Twitter zum Ausdruck: „Ist das bitter. Keine Ahnung, wie das geschehen konnte … Staatstrauer!“ Alle auch nur halbwegs Handballinteressierten waren sich einig: Es war höchste Zeit für eine neue Geschichte. Und da kam ich ins Spiel.
Ich konnte die Trägheit des DHB-Tankers nicht mehr ertragen und wollte den Kahn unbedingt wieder flottkriegen. Der Ära Strombachs fehlte es nicht an Erfolgen, doch mittlerweile an einer Vision. Das Verhältnis des Verbands zur Bundesliga war an einem Tiefpunkt angelangt, die Arbeit mit aufstrebenden Talenten basierte mehr oder weniger auf Zufall. Nach dem umjubelten Titel 2007 gab es keine nachhaltige Entwicklung, nur noch Stagnation. Und auch den Klubs mangelte es an Mut, auf junge Spieler zu bauen und diese konsequent einzusetzen. Kurz: In meinen Augen musste sich eine Menge ändern.
Und da hockten sie nun, die Chefs der Landesverbände, die alteingesessenen Granden des deutschen Handballs, die Heiner Brands, Uli Strombachs und Hotti Bredemeiers, und zitterten angesichts dessen, was über sie hereinzubrechen drohte. Sie alle wussten: Es muss sich etwas ändern, und es ist gut, dass der Hanning kommt. Der kann das! Aber – auch das wussten alle – es wird mit ihm auch ziemlich anstrengend. Und damit sollten sie recht behalten.
Besonders eisig war mein Verhältnis zu Heiner. Vom Vertrauen und gegenseitigen Respekt unserer gemeinsamen Zeit, als ich ihm bis zur Jahrtausendwende als Co-Trainer bei der Nationalmannschaft zuarbeitete, war nicht viel geblieben. Heiner gehörte wie viele im Verband zu jener Kaste, mit der mir eine Erneuerung nicht möglich schien. Nicht weil ich sie nicht mochte. Sondern weil es Zeit für etwas Neues war. Auch wenn ich damals nicht ahnen konnte, welche grotesken Züge unsere Kommunikation wenig später annehmen würde, war die Beziehung zu Heiner schon im Herbst 2013 stark belastet. Uns fehlte die gemeinsame Basis, wir kämpften für unterschiedliche Ziele. Das war mir vor meiner Antrittsrede klar geworden, als ich ihn in einem Restaurant getroffen und versucht hatte, mit ihm zu reden. Über meine Rolle, über seine. Über meine Vision vom neuen DHB. Es war klar, unter mir, seinem einstigen Lehrling, wollte er partout nicht arbeiten. Das gab er mir klar zu verstehen.
Ich wusste natürlich schon damals: Die Reformpläne musste er als Frontalangriff auf ihn und seinen Kreis verstehen, allein mit dem Titel „Amateure hoffen, Profis arbeiten“ hatte ich das scheidende Präsidium düpiert. Ich stellte einfach alles in Frage. Mein Thesenpapier war ein Grenzübertritt. Mir ging es aber nicht um Machtspielchen, ich war überzeugt, dass Veränderungen notwendig waren.
Zu gern hätte ich Heiner und Co. meine Thesen vorab in Ruhe erläutert. Doch ein geplanter Termin in Leipzig wurde aus für mich fadenscheinigen Gründen abgesagt. Und so ergriff ich die Flucht nach vorn und ging den Weg über die Medien. Aber ich ahnte schon, was ich damit lostreten würde.
Welch tiefe Wunden das Papier offenlegte, zeigten die Reaktionen, die mich aus der ganzen Republik erreichten. Ich hatte offenbar die Baustellen, oder besser Schwachstellen, des Systems DHB benannt: die Führungsschwäche und die Verbandsstruktur, die Unprofessionalität der Landesverbände, die mangelhafte Jugendförderung, die fehlende individuelle Eliteförderung und die wackelige Finanzierung des Ganzen.
Auch wenn es viele noch immer nicht hören wollen: Achtzig Prozent meines damaligen Papiers sind inhaltlich das, wonach der Verband heute, im Jahr 2021, arbeitet. Ich hatte fleißige Helfer an meiner Seite. Helfer wie vor allem den zusammen mit mir neu gewählten Präsidenten Bernhard Bauer – ein kluger Kopf aus der Politik, dem der deutsche Handball einiges zu verdanken hat, dessen übersteigertes Geltungsbedürfnis ihm aber einige Monate später zum Verhängnis werden sollte …
Und damit zurück zu den Geschehnissen im Herbst 2013. In den Wochen vor dem Bundestag und dem für mich entscheidenden Auftritt vor den vielen Vollblutfunktionären gönnte ich mir ein Coaching. Frank Steffel, Präsident meines Klubs Füchse Berlin, ein langjähriger Vertrauter und bis heute einer meiner engsten Freunde, legte mir eine Schauspielerin ans Herz, die mir empfahl, bereits den Gang zur Bühne zu üben. So verrückt es klingt, aber es ging tatsächlich konkret um den Weg auf die Bühne, ums Treppensteigen. Am Abend vor dem Bundestag bin ich tatsächlich noch mal rein in den Raum und dreimal die Treppe rauf- und runtergegangen, habe mich ans Rednerpult gestellt und von dort in den Saal geschaut. Ich stellte mich auf einen Kampf ein.
Ich habe beileibe kein Problem damit, vor Menschen zu sprechen. Aber hier ging es ums Ganze. Ich hatte keine Wahl. Immer wieder hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen: Guckst du weiter zu und kritisierst nur von außen? So wie die Daniel Stephans oder Christian Schwarzers dieser Welt. Oder begibst du dich in den Ring? Mit den Füchsen Berlin hatte ich einen Verein von den Niederungen der zweiten Liga in die Champions League geführt. Doch Klubarbeit ist Klubarbeit. Da hast du andere Freiheiten – sofern deine Gesellschafter und Sponsoren das mittragen. Wenn du aber für einen Verband arbeitest, dann kannst du nicht von ihm leben, sondern du musst für ihn leben. Und genau das wollte ich. Ich wollte die Veränderung. Viele Jahre hatte ich in den Führungsgremien der Bundesliga mitgemacht, weil mir die Themen Jugend und Nachwuchs wichtig waren. Und genau dies war auch ein Grund für meine Bewerbung beim DHB. Ich wollte Veränderung für meine Jungs, die ich in Berlin trainierte. Veränderung für all die jungen Talente, die keine Chance in der Bundesliga bekamen. Veränderung der Strukturen des Verbands. Und eine Veränderung des Auftretens. Eine Veränderung von der Basis her. Hätten wir einfach so weitergemacht, wäre der deutsche Handball auf Dauer abgehängt worden. Es brauchte jemanden, der neu denkt. Jemanden, der anders denkt. Und dieser jemand war ich.
Diese Gedanken bewegten mich vor der Aufführung – unterm Strich ist es ja nichts anderes als das, eine Aufführung. Und mir schlotterten die Knie.
Erinnerungen an meine Kindheit kamen mir in den Sinn. Frühsommer 1982, Waldorfschule in Essen, achte Klasse. Ich war gerade vierzehn Jahre alt und sollte den Barach, eine der Hauptrollen in Turandot, spielen. Die Aula war ausverkauft. Nach einigen in den Sand gesetzten Proben hatte ich auch die Generalprobe komplett verhauen. Noch kurz vor dem Auftritt wollte man mich absetzen. Bob, willst du nicht was anderes spielen, hieß es. Der Barach ist vielleicht eine Nummer zu groß für dich.
Dann kam der Tag der Aufführung. Den Ersatzmann hatten sie schon neben die Bühne gesetzt. Und siehe da, auf einmal lief alles wie am Schnürchen.
„Schweig! Verrat mich nicht!
Beim großen Lama, sprich! Wie bist du hier?“
„Durch ein Geschick der Götter, muss ich glauben,
Da es mich hier mit Euch zusammenführt.
An jenem Tag des Unglücks, als ich sah, […]
Dass Ihr und König Timur, Euer Vater,
Im Treffen umgekommen. Meinen Schmerz
Erzähl’ ich nicht; verloren gab ich alles.
Von Land zu Lande irrt’ ich flüchtig nun
Drei Jahre lang umher, ein Obdach suchend,
Bis ich zuletzt nach Peking mich befunden.
Hier unterm Namen Hassan glückte mir’s,
Durch treue Dienste einer Witwe Gunst
Mir zu erwerben, und sie ward mein Weib.
Sie kennt mich nicht; ein Perser bin ich ihr.“
Proben, das war zeit meines Lebens so, gingen gern daneben. Doch wenn es drauf ankam, das lernte ich an jenem Tag im Frühsommer 1982, konnte ich mich auf meinen Instinkt verlassen. Seitdem höre ich in kniffligen Situationen nicht so sehr auf den Kopf, sondern den Bauch, das Gefühl.
So auch am 21. September 2013, einem Tag, der mein Leben verändern sollte. Ich, ganz züchtig im grauen Anzug mit grauer Weste und gestreiftem Hemd, stand an der Schwelle zur Bühne im Maritim-Hotel Düsseldorf, und die Erinnerungen an meine Kindheit flößten mir frische Energie ein.
Im nächsten Moment bin ich auf die Bühne – und habe einfach improvisiert. Ich habe mir das Mikrofon geschnappt, mich direkt in die Mitte gestellt und gesagt: „Leute, da ihr mich hinter dem Pult kaum sehen könnt, mache ich das besser von hier vorn.“ Es gab ein schallendes Gelächter – und damit war im Grunde alles erledigt, das Eis war gebrochen. Zehn Minuten Redezeit reichten, sie wählten mich. Ohne Gegenstimme. Ich wusste, worauf ich mich einlasse. Ich wusste, dass dies der Anfang von viel Arbeit sein würde, der Beginn eines Spiels, das größer war als jedes andere Spiel, das ich bis dahin gespielt hatte.